Autor: Nora

Wolfgang Schorlau | Black Forest (Band 11)

Wolfgang Schorlau | Black Forest (Band 11)

Elf Bände ist die Reihe inzwischen alt, ins Fernsehen hat es Dengler auch schon geschafft. Ein zweites Standbein hat sich Autor Wolfgang Schorlau zusammen mit Claudio Caiolo mit den erfolgreichen Venedig-Krimis auch schon aufgebaut. Doch an seiner Dengler-Reihe möchte der Autor offenbar festhalten, hat nun nach vier Jahren einen neuen Band veröffentlicht, in dem der Autor wie immer aktuelle politische Themen aufgreift. Diesmal das Thema Klimawandel und Windkraft.

Privatermittler Georg Dengler reist aus Sorge um seine Mutter nach Altglashütten in den Schwarzwald. Eine Polizistin und ein alter Freund hatten ihn angerufen und ihn gebeten, sich um seine Mutter zu kümmern. Sie sehe nachts Gespenster und sei etwas merkwürdig geworden.

„Was hast du gesehen, Mame?“ Mein Ton ist ruhig, meine Stimme tief. Vergeblich versuche ich, diesen einen Gedanken zu unterdrücken: Meine Mutter ist verrückt geworden.
Ihr Blick hat sich nicht verändert. Sie starrt mich immer noch an, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie mich sieht. „Schatte“, sagt sie. „In der Werkstatt geischtert immer en Schatte rum. Man kann ihn durch d’Fenster in dei’m Zimmer sehe.“ (S. 49)

Man ahnt schon, dass Denglers Mutter keine Gespenster sieht, auch wenn es ihr Sohn (obwohl er von Haus aus misstrauischer sein müsste) lange vermutet. Selbst als ein Transporter auf der Bundesstraße versucht, sein Auto zu rammen und einen Unfall zu provozieren, bezieht er es eher auf sich. Doch nach und nach dämmert ihm, was seine Mutter in Gefahr bringen könnte: Sie besitzt ein Grundstück in exponierter Lage auf dem Feldberg. Dort möchte ein Investor gerne ein Windrad errichten. Doch darüber ist ein heftiger Streit entbrannt, denn Windkraftgegner wollen dies mit aller Macht verhindern. Zu den lokalen Aktivisten gesellen sich aber noch mächtige Gegner im Hintergrund, die mit fossilen Energien eine Menge Geld verdienen und die Energiewende desavouieren wollen. Ein Windrad auf dem höchsten Gipfel des Schwarzwalds soll da unbedingt verhindert werden. Und mittendrin steht Mutter Dengler, die zudem noch das Problem hat, die entscheidende Besitzurkunde nicht wiederzufinden.

Doch auch Dengler selbst hat ein altes Trauma mit dem Hof, in dem er aufgewachsen ist. Denn in der Tenne starb damals – Dengler war als Kind mit dabei – sein Vater bei einem Unfall. Seitdem traut er sich nicht mehr in die „Denn“. Doch seine in seine wiederkehrenden Alpträume von damals mischt sich ein neues Gefühl. War das damals wirklich ein Unfall?

Ach, eigentlich mag ich die Reihe ja irgendwie schon. Schorlau hatte ein paar wirklich interessante Bände dabei, in denen er interessantes Material recherchiert hat und auf bestimmte Themen und Ereignisse eine andere Sichtweise präsentiert hat, z.B. Auf die dritte Generation der RAF in „Die blaue Liste„, auf das Oktoberfest-Attentat in „Das München-Komplott“ oder auf die NSU in „Die schützende Hand„. Ich mag auch die Figur Dengler, ein Privatermittler auf schwäbisch, mit den ihn ergänzenden Figuren, die sich im Laufe der Reihe auch weiterentwickeln. In diesem Band geht es auch viel um die Mutter. Schorlaus Entscheidung, sie konsequent Alemannisch sprechen zu lassen, finde ich sehr gelungen.

Allerdings war Wolfgang Schorlau schon immer ein Autor, der auch im Text mit seinen Recherchen und Überzeugungen nicht hinterm Berg hielt. Das ist in „Black Forest“ leider auch extrem der Fall. Seine Abhandlungen zum Klimawandel und zur Nutzung von Windkraft bringt er hier ziemlich plump an den Mann, auch durch die Wahl und die Figurendarstellung der Antagonisten. Selbst wenn man Schorlaus politische Überzeugungen in dieser Sache teilt, muss man hier ein ums andere Mal mit den Augen rollen.

Auch ein historischer Strang, den er in den Plot einbaut, hat mich nicht so richtig überzeugt. Denglers Vater war demnach in jungen Jahren unter Wernher von Braun Raketenforscher in Peenemünde und wurde nach dem Krieg von ausländischen Mächten umworben (die Inspiration zu diesem Aspekt stammt vermutlich aus Merle Krögers „Die Experten„). Hier fügt dieser Strang allerdings für meinen Geschmack nicht organisch in die Geschichte ein und wirkt am Ende gar überflüssig.

So muss ich am Ende resümieren, dass ich „Black Forest“ nicht als Highlight der Reihe bezeichnen würde. Wolfgang Schorlau sorgt hier und da für Spannung, bringt auf der Seite der Denglers ein interessantes Figurenensemble zusammen und hat ein wichtiges und relevantes Thema am Start. Was er dann literarisch daraus macht, ist unterdurchschnittlich. Er erzählt zu viel und zeigt zu wenig. Hinzu kommt: Die Bösewichter und Teile des Plots sind schablonenhaft und unterkomplex. Bei aller Verbundenheit mit der Reihe muss ich da einfach mehr erwarten.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Black Forest | Erschienen am 01.10.2024 im Verlag Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-05139-1
444 Seiten | 18,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zur Dengler-Reihe auf Kaliber.17

Seichō Matsumoto | Tokio Express

Seichō Matsumoto | Tokio Express

Vielleicht lag es am Zigarettenrauch, jedenfalls blinzelte Yasuda ein wenig. „Und wer hätte ahnen können, dass es für die beiden eine Reise in den Tod war. Es ist ein Jammer. Aber es zeigt wieder einmal, dass man auch in der Liebe maßvoll sein sollte, nicht wahr?“ (Auszug Pos. 883 von 1999)

An einem kalten Wintermorgen in den 50er Jahren werden in Südjapan, genauer in der Bucht von Hakata, die Leichen eines Mannes und einer Frau gefunden. Man vermutet ein junges Paar, es gibt keine Anzeichen für Gewalteinwendung, sie liegen friedlich, ordentlich drapiert nebeneinander. Bei den Toten handelt es sich um Toki, eine junge Serviererin aus einem Tokioter Restaurant namens Koyuki und Kenichi Sayama, den Untergebenen eines Ministerialbeamten, gegen den wegen Korruption ermittelt wird. Der Bestechungsskandal füllt aktuell die Schlagzeilen. Aufgrund der Tatsache, dass beide mit Zyankali vergiftet wurden, geht man von Doppelselbstmord eines Liebespaares aus. Außerdem hatten Augenzeugen gesehen, wie sie gemeinsam am Bahnhof Tokio in einen Zug stiegen. Das erfährt der Leser in einem kurzen Eröffnungskapitel, dessen Bedeutung wir erahnen aber noch nicht richtig einordnen können.

Ein kalter Platz zum Sterben
Dem erfahrenen Kommissar Jūtarō Torigai von der örtlichen Polizei fallen jedoch einige Ungereimtheiten auf, die ihm keine Ruhe lassen. Es gibt keinen Abschiedsbrief und niemand schien von der Beziehung zwischen Toki und Kenichi gewusst zu haben. Die Tage vor dem gemeinsamen Suizid verbrachten sie anscheinend getrennt und eine Quittung deutet darauf hin, dass Sayama allein im Zugrestaurant speiste. Aus Tokio reist zur Unterstützung der junge Polizist Kiichi Mihara an, der genau wie Torigai nicht recht an die Theorie des Selbstmordes glauben will. Mit Informationen von Torigai beginnt Mihara, die Todesfälle zu untersuchen und wir Leser begleiten ihn dabei, wie er aus verschiedenen Blickwinkeln versucht herauszufinden, was genau in dieser Nacht am Strand passiert ist.

Beide Kommissare lässt der Fall nicht los, aber Seichō Matsumoto ändert jetzt seine Erzählperspektive und konzentriert sich ganz auf die Sicht von Kiichi Mihara. In den Fokus der Ermittlungen gerät Tasuo Yasuda, ein Unternehmer, der seine Geschäftspartner, oft hohe Beamte regelmäßig ins Koyuki führt, das für seine Vertraulichkeit bekannt ist. Die Ermittlungen konzentrieren sich schon bald darauf, mit welchen Zügen Sayama und Toki unterwegs waren. Entscheidend für die Lösung des vertrackten Falles ist die Pünktlichkeit der Züge, der Plot würde in Deutschland zur jetzigen Zeit auf keinen Fall funktionieren. Es existiert nur ein kleines Zeitfenster von vier Minuten, das für die Lösung des Falles wichtig wird.

Die Augenzeugen hatten auf jeden Fall auf dem Bahnsteig von Gleis dreizehn gestanden, der Tokio-Express fuhr aus Gleis fünfzehn. War die Sicht etwa nur in dem kurzen Intervall, in dem sie Sayama und Toki in den Zug hatten steigen sehen, frei gewesen? (Auszug Pos. 784 von 1999)

Der Lesende verfolgt Mihara bei seinen Recherchen und bewertet seine logischen Schlussfolgerungen. Die Ermittlungen gestalten sich kleinteilig, es werden Zug- und Kurspläne studiert, Ticketkontrolleure, Hoteliers und Gäste als Zeugen hartnäckig, aber sehr höflich befragt.

Lückenlose Alibis und falschen Spuren
Tokio Express ist Kriminalliteratur ganz klassischer Prägung im Stil von Agatha Christie oder Simenons Maigret. Der Erzählstil ist ruhig, wenig rasant und steht in der Tradition klassischer Rätselkrimis. Trotzdem gerät man in den Sog der Geschichte und verfolgt gebannt den Detektiv bei seiner akribischen Spurensuche.

Der Klassiker aus den 1950er Jahren konzentriert sich auf die Verbrechen und deren Aufklärung und wenig auf die Charakterisierung der Figuren. Die sachlich-nüchterne Erzählweise ist typisch für den japanischen Raum, bei der wir von Emotionen und Ausbrüchen verschont bleiben. Man erfährt nicht viel von den Ermittlern, sie bleiben gesichtslos. Auch die von Mihara befragten Verdächtigen und Zeugen stehen nie im Mittelpunkt, noch geht der Autor auf ihre Persönlichkeiten ein. Dazu passt, dass das Buch nicht nur zwei Karten, sondern auch Skizzen von zeitlichen Abläufen enthält. Ein Krimi, der eher durch Komplexität auffällt als durch Brutalität oder Action. Bis zum Schluss wird die Spannung gehalten, bevor die Lösung in einem Briefwechsel präsentiert wird. Der Roman hat knackige 208 Seiten und ist damit aufs Wesentliche reduziert.

„Tokio Express“ erschien bereits Ende der 1950er Jahre und wurde zeitgleich unter dem Titel „Spiel mit dem Fahrplan“ in der DDR veröffentlicht. Diese Übersetzung wurde jetzt vom Kampa-Verlag durch Mirjam Madlung neu überarbeitet.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Tokio Express | Erstmals erschienen 1958
Die Neuauflage erschien am 22.08.2024 im Kampa Verlag
ISBN  978-3-311-12093-3
208 Seiten | 22,00 €
Originaltitel: ‎ 点と線 („Ten to sen“) | Übersetzung aus dem Japanischen von Edith Shimomura, Kim Buccie und Mirjam Madlung
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Alan Parks | Die April-Toten (Band 4)

Alan Parks | Die April-Toten (Band 4)

Im Jahr 2017 startete der ehemalige Creative Director eines Musiklabels, Alan Parks, sein ambitioniertes Projekt einer Krimireihe mit Schauplatz Glasgow in den 1970ern. 12 Bände sind geplant, für jeden Monat einer. Schon Band 1 „Bloody January“ wurde von Kritik und Lesern sehr gelobt (auch von uns). Bereits ein Jahr nach der Veröffentlichung des Originals began Heyne Hardcore mit der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung und kam bis zu Band 3 „Bobby March Forever“. Danach war der immer für außergewöhnliche Genreliteratur bekannte Verlag innerhalb des Großkonzerns Penguin Randomhouse Geschichte. Und die Reihe in deutscher Übersetzung erstmal vakant, im Original veröffentlicht Parks fleißig weitere Bände. Doch zum Glück nahm sich jetzt der Polar Verlag dieser Reihe an, die hervorragende Übersetzerin Conny Lösch ist weiterhin dabei und so heißt es: Vorhang auf für Harry McCoys Glasgow, Band 4.

„Ich bin an dieses Bett gefesselt, durchs Fenster sehe ich Glasgow, eine Stadt, die ich nie wirklich gemocht habe. Hier gibt es pro Kopf mehr Säufer als sonst irgendwo. Überall die Kathedralen der Papisten. Die Stadt suhlt sich in ihrem eigenen Dreck, die Menschen rutschen auf Knien, halten die Hand auf, haben ihr kulturelles Erbe billig an die Engländer verscherbelt.“ (Auszug S.373)

Willkommen in Glasgow 1974. Im Gegensatz zu den hippen Metropole heute damals eine Stadt im Niedergang, voller Arbeitslosigkeit, Armut, Alkohol und Kriminalität. Detective Harry McCoy wird zu einem ungewöhnlichen Tatort gerufen. In einem schäbigen Haus mit Sozialwohnungen ist eine Bombe losgegangen, offenbar während der Herstellung, und hat den Bomberleger selbst getötet. Bei Bomben wird man auch in Schottland hellhörig, spitzt sich doch der Konflikt im benachbarten Nordirland gerade richtig zu. Doch eine Verbindung zu den Troubles lässt sich nicht herstellen, auch nicht, als in der Glasgow Cathedrale eine weitere Bombe hochgeht, ohne jemanden zu verletzen. Doch irgendjemand zündet in Glasgow Bomben und McCoy sucht verzweifelt einen Ansatzpunkt. Ein zweiter Fall ergibt sich aus einer privaten Begegnung in einem Pub: Der Amerikaner Andrew Stewart, ehemaliger Navy-Officer, spricht McCoy an und bittet ihn um Hilfe bei der Suche nach seinem Sohn Donny. Dieser ist in der amerikanischen U-Boot-Basis stationiert und seit Tagen spurlos verschwunden. Zunächst widerwillig willigt McCoy ein, Donny zu suchen. Doch je mehr er über dessen Verschwinden erfährt, desto mehr mehren sich Hinweise auf ein Verbrechen und einen Zusammenhang zu Bombenserie.

Währenddessen hat McCoy aber noch andere Sorgen. Sein Jugendfreund aus gemeinsamen harten Tagen in einem Kinderheim, Stevie Cooper, ist – wie aus den Vorgängerbänden wohlbekannt – ein einflussreicher und gnadenloser Gangsterboss in Glasgow. Er hat eine Fehde im Gangstermilieu angezettelt und wird kurz nach Entlassung aus einer kurzen Haftstrafe öffentlich mit einem Messer attackiert. Am frühen Morgen wird der Angreifer dann ermordet aufgefunden und natürlich ist Cooper Hauptverdächtiger. Doch er hat – dank McCoy – ein Alibi.

Sie sah ihn durch den Türspalt an. Nahm einen tiefen Zug von ihrer Capstan und blies ihm den Rauch ins Gesicht. „Du hältst dich wohl für ´ne große Nummer, McCoy. Du denkst, du bist ein großer Bulle, aber du bist genauso einer wie wir alle, wir leben alle auf dem Rücken von Stevie Cooper und tanzen nach seiner Pfeife. Der einzige Unterschied ist, dass du´s nicht zugeben willst.“ (Auszug S.124)

Diese Verbindung zwischen dem Bullen und dem Gangsterboss macht auch den großen Reiz dieser Reihe aus. Harry McCoy ist ein rechtschaffender Polizist mit intaktem Moralverständnis. Natürlich ist er mit den Dienstvorschriften manchmal aufs Kriegsfuss und schlägt über die Stränge, doch die nicht geringe Anzahl an käuflichen Kollegen sind ihm ein Graus. Seine Verbindung zu Cooper ist allerdings seine große Archillesferse, sein Chef weiß, was er an McCoy hat und sieht über die Verbindung hinweg. Doch diese ist und bleibt grenzwertig, denn Cooper reizt die Verbindung gerne aus und stellt McCoy auf die Probe. Er ist ein knallharter und brutaler Gangster. Wer nicht für ihn ist, ist gegen ihn. Es knallt zwischen beiden, doch die Bande zwischen beiden ist tief.

Der Plot verwebt geschickt verschiedene Handlungsstränge und Thematiken. Es geht um schottischen Nationalismus, Hippies, Militaristen, fahrendes Volk, Bandenkriminalität, den Nordirlandkonflikt und die Präsenz amerikanischer Atom-U-Boote in Schottland sowie ein besonders dunkles Thema, das sich erst zuletzt offenbart. Dabei bleibt der Erzähler die ganze Zeit bei der Perspektive der Hauptfigur McCoy, vermag es aber auch den weiteren Figuren und vor allem auch Glasgow und Umgebung Leben einzuhauchen. Musikalisch ist im April 1974 vor allem Abbas „Waterloo“ allgegenwärtig, sehr zum Verdruss McCoys.

Alan Parks macht mit seiner Reihe eigentlich nahtlos weiter, wo er aufgehört hat. Ein hartgesottener Bulle in den düsteren Straßen Glasgows, staubtrockene Dialoge, ein straffer, temporeicher Stil, immer wieder auch mit schwarzem Humor garniert – alles Zutaten für eine kurzweilige Lektüre. Insgesamt eine wirklich gelungene Fortsetzung. Gratulation und Dank an den Polar Verlag für die Übernahme der Reihe.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Die April-Toten | Erschienen am 16.09.2024 im Polar Verlag
ISBN 978-3-910918-06-1
444 Seiten | 26,- €
Originaltitel: The April Dead | Übersetzung aus dem schottischen Englisch von Conny Lösch
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu Band 1 „Blutiger Januar“

Ashley Kalagian Blunt | Die Dahlien-Morde

Ashley Kalagian Blunt | Die Dahlien-Morde

Wenn in den Nachrichten über diese Tote berichtet und dem Radfahrer klar wurde, wie dicht er an ihr vorbeigekommen war, würde er sein Bildmaterial sichten und der Polizei übergeben. Würde es ein paar Tage dauern, bis sie Reagan identifizierten, oder nur Stunden? Außer er hätte gar nicht gefilmt. (Auszug Pos. 155)

Reagan Carsen lebt in Sydney sehr zurückgezogen als Inhaberin eines kleinen Blumenladens. Nachdem sie als junges Mädchen von einem Stalker drangsaliert worden war, hält sie sich von den Sozialen Medien fern. Als sie nahe ihrer Wohnung fast über eine weibliche Leiche stolpert, kommt das alles wieder hoch. Das schrecklich zugerichtete Opfer sieht ihr mit den dunklen Locken verdammt ähnlich. Panisch flüchtet Reagan ohne die Polizei zu informieren. In den nächsten Wochen fühlt sie sich beobachtet, erhält bedrohliche E-Mails und als weitere Morde an Frauen geschehen, ist sich Reagan sicher, dass ihr früherer Peiniger sie gefunden hat. Sie vertraut sich schlussendlich nur ihrer besten Freundin Min an, einer True-Crime Journalistin. Diese sieht eine Verbindung zu dem Black Dahlia Mord, einem der bekanntesten, unaufgeklärten Verbrechen in der amerikanischen Kriminalgeschichte aus dem Jahr 1947, der auch in der Popkultur verarbeitet wurde. Die damals in Los Angeles grausam verstümmelte 22-jährige Elizabeth Short wurde aufgrund ihrer schwarzen, lockigen Haare von der Presse „Black Dahlia“ genannt.

Der Schreibstil ist gefällig und recht einfach gehalten, die Geschichte ist leidlich spannend inszeniert mit genügend undurchsichtigen Figuren  und entwickelt sich langsam bis zu einem Plottwist, den ich so nicht kommen gesehen habe. Die beklemmende Situation für Reagan, ihre Ängste und Paranoia werden greifbar geschildert. Jedoch verhält sie sich die ganze Zeit nicht besonders nachvollziehbar, ich fand sie oft ein wenig anstrengend, auch weil sie sich sträubt, Hilfe anzunehmen. Für meinen Geschmack zog sich zu viel unnötiges Drama durch den ganzen Roman.

In ihrem ambitioniertem Debütroman, dessen Originaltitel „Dark Mode“ gut passt, thematisiert die australische Autorin auch die Gefahren des Dark Web. In Internetforen rotten sich frustrierte Männer zusammen und mit der Ansicht, sie hätten aufgrund ihres Geschlechts ein Anrecht auf Frauen und Sexualität, Ausdruck einer grundlegenden Misogynie, frönen sie ihren Hass. Die Atmosphäre, in der man Gewalt gegen Frauen legitimiert, glorifiziert und als Wiedergutmachung der narzisstischen Kränkung begreift, ist beklemmend und verstörend.
Sabine Godec ist eine bekannte Synchron- und Hörbuchsprecherin, die mit ihrer samtweichen Stimme oft für sogenannte „Frauenkrimis“ gebucht wird.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Die Dahlien-Morde | Erschienen am 3 Juni 2024 bei Droemer TB
ISBN 978-3-426-30929-2
384 Seiten | 17,99 Euro
Das Hörbuch erschien bei Audible:
11 Stunden 53 Minuten | Erzählerin: Sabine Godec
Originaltitel: Dark Mode | Übersetzung aus dem Englischen von Alice Jakubeit
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Tom Hillenbrand | Lieferdienst

Tom Hillenbrand | Lieferdienst

Auf der Terrasse befindet sich eine rot umrandete, oktagonale Fläche – ein Retourenpad. Man stellt sein Paket hinein, die nächste freie Lieferdrohne erkennt es von oben und nimmt es mit. Normalerweise befinden sich solche Pads an öffentlichen Plätzen. Dass jemand sein eigenes, privates Oktagon besitzt, ist ungewöhnlich. (Auszug Pos. 399 von 2071)

Viele Menschen beschweren sich heutzutage über die Konsum-Gesellschaft, in der nichts mehr repariert, sondern alles sofort ausgetauscht wird. In ‚Lieferdienst‘ wird das von Tom Hillenbrand auf die Spitze getrieben.

Der Maker macht’s, der Bringer bringt’s
In Neu-Berlin der nahen Zukunft leben die Menschen in riesigen Wohnblöcken, arbeiten im Homeoffice und kaufen fast alles online. Bestellte Produkte werden auf 3-D-Druckern, sogenannten Makern, hergestellt und alle Lieferdienste befinden sich zeitgleich im Kampf um denselben Auftrag. Wer die Ware zuerst zustellt, hat gewonnen, wobei die überflüssige Ware der Konkurrenten dann als Produktionsüberschuss in Kauf genommen wird. Hier wird mit allen Mitteln gekämpft, um die Konkurrenz auszuschalten und es herrscht ein erbitterter Kampf um die Vorherrschaft am Liefermarkt. Die Bestellungen werden teils per Drohnen, überwiegend aber durch Kuriere auf Hoverboards, sogenannte Bringer an den Kunden ausgeliefert. Solch ein Bringer ist der Protagonist Arkadi Schneider, der für Rio, einen der größten Lieferdienste der Welt arbeitet und für seinen Job alles gibt und dabei immer die Zustellquote im Blick behält. Wenn nötig lässt er sich das Mittagessen auch mal per Drohne ans Brett liefern. Wir fliegen mit ihm über Neu-Berlin, als ein verletzter Kollege ihn bittet, eine seiner Lieferungen zu übernehmen. Für Arkadi eine Ehre, denn es handelt sich um Airbox, eine Legende in der Lieferdienst-Szene. Umso bestürzter ist er, als er kurz darauf mitansehen muss, wie Airbox ermordet wird und er, als er dessen Paket ausliefern will, plötzlich um sein Leben fürchten und sich in wilden Verfolgungsjagden behaupten muss. Airbox schien in mysteriöse Machenschaften verwickelt zu sein und Arkadi gerät zum ersten Mal ins Grübeln.

Aberwitzige Retourenquote
In Tom Hillenbrands Zukunftsvision hat der Konsum absurde Ausmaße angenommen. Es gibt Flatrates für Schuhe, Anprobierandroiden kümmern sich um das lästige Auspacken, Anprobieren sowie Zurücksenden, und jederzeit und überall kann Essen per Drohne geordert werden. Menschen wie Arkadis Vater, der noch vom alten Schlag ist, den sogenannten Fortschritt kritisch sieht und sich für Zahnpasta noch in den Spaldi bemüht, werden als rückständig angesehen.

Der Kunde muss nur jede Tube bezahlen, die ihm als erste zugestellt wird. Der Rest sind Autoretouren. Bei einem maßgeschneiderten Jackett mag das ein Problem sein, bei Zahnpasta nicht. Die werden die Lieferdienste schon irgendwie los. Ich erkläre es ihm. Aber Dad schüttelt nur den Kopf und murmelt etwas von „Endstufe des Kapitalismus“. (Auszug Pos. 165 von 2071)

Ich bewundere immer wieder Tom Hillenbrands Fähigkeit, eine komplexe Zukunftswelt fiktiv zu erschaffen. Fast ohne unnötige Erklärungen, dafür aber detailreich und mit kreativen Wortneuschöpfungen, die sich leicht erschließen. Und mit einem Füllhorn an kreativen Einfällen. Berlin ist im Krieg komplett zerstört worden und man hat daneben Neu-Berlin, von den Bewohnern liebevoll BeeZwee genannt, errichtet. Die MegaCity besteht aus riesigen Sozialbauten und Ausfallstraßen, die Namen aktueller Prominenz wie Glööckler-Allee oder Robert-Habeck-Ausfallstraße besitzen. Während sich auf den Straßen die Bikes und Rikscha-SUVs stauen, ist der Himmel mit Delivery-Drohnen verstopft. Manche Bewohner, sogenannte Mobilniks, die sich die Miete in den Hochhäusern nicht mehr leisten können, hausen in ihren Autos, welche mit Autopilot unendlich auf dem Stadtring fahren. Das Szenario erscheint gar nicht so abwegig, sondern wie eine radikale Weiterentwicklung unserer heutigen Konsumgesellschaft.

Wir bleiben die ganze Zeit dicht bei Arkadi, dem Ich-Erzähler und seinen Erlebnissen. Die Geschichte wird in einem hohen Tempo mit kurzen Kapiteln erzählt, wirkt dadurch fast gehetzt und rastlos, passend zur hektischen Welt der Lieferdienste. Man fliegt atemlos durch die Seiten und dann ist es auch schon vorbei. Denn das ist das Einzige, was ich zu meckern hätte. Mit knapp 190 Seiten viel zu kurz. Ich hätte gerne noch mehr über diese dystopische Welt und die Lebensbedingungen erfahren. Das Ende, das zwar mit einem mitreißenden Showdown glänzt und einige Überraschungen parat hält, wirkt etwas zu schnell abgearbeitet. Und man hätte auch noch mehr in die Fütterung der Charaktere stecken können.

Trotzdem ist Lieferdienst eine gelungene Dystopie, originelle Zukunftsvision mit coolen Ideen, die mir sehr viel Spaß gemacht hat und die eine Reflexion unserer Konsumgesellschaft darstellt. Dabei spricht der Autor einige aktuelle Themen, wie Ressourcen-Verschwendung und Turbo-Kapitalismus an und das auf unterhaltsame Weise und mit dem ihm eigenen Humor.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.
Lieferdienst | Erschienen am 15. August 2024 bei Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-00621-6
192 Seiten | 20.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

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