Autor: Nora

Iain Reid | The Ending

Iain Reid | The Ending

„Ich trage mich mit dem Gedanken, Schluss zu machen.“ (Auszug Buchanfang)

Psychothriller sind eigentlich schon seit einiger Zeit gar nicht mehr mein Beuteschema. Irgendwie kann mich da nichts mehr überraschen, gefühlt habe ich schon alles gelesen. Der Überraschungshit des Kanadiers Iain Reid wirbt unter anderem mit dem Zusatz „subtiler Psycho-Horror für Fans von Stephen King und Hitchcock“. Das catchte mich und nachdem ich mir die Lektüre näher angeguckt hatte, fand ich auch interessant, dass die Meinungen sehr weit auseinandergehen. Leser feiern es oder sind total gelangweilt. Nachdem Netflix 2020 den Roman adaptierte, gab es auch ein Hörbuch und das habe ich mir kurzentschlossen über Audible runtergeladen.

Eine junge Liebe
Im kanadischen Winter steigt eine junge Frau zu ihrem Freund ins Auto. Sie kennen sich erst seit ein paar Wochen und sind auf dem Weg zu seinen Eltern. Jake will ihr zeigen, wo er herkommt und aufgewachsen ist. Auf der langen Autofahrt durch die einsame Schnee-Landschaft lässt die namenlose Ich-Erzählerin den Leser an ihren Gedanken und Eindrücken teilhaben. Sie ist hin- und hergerissen und überlegt, die Beziehung zu beenden. Als Leser oder Hörer sitzt man mit im Auto und erfährt in Rückblenden, wie die beiden Studenten sich kennengelernt haben. Weiter nehmen wir an den Gesprächen des Paares teil, die sich um Alltags- und psychologische Themen handeln, wobei die Dialoge manchmal etwas seltsam wirken, dann wieder schon fast philosophisch anmuten und zum Nachdenken anregen. Trotz tiefer Verbundenheit reden sie jedoch auch oft aneinander vorbei. Die ganze Zeit spürt man eine große Distanz zwischen den Figuren und fragt sich, was da los ist. Sie erzählt Jake nichts von den mysteriösen Anrufen, die sie seit geraumer Zeit erhält und die sie sehr beunruhigen. Auch während der Fahrt erreichen sie anonyme Sprachnachrichten auf ihrem Handy, die sie Jake verheimlicht.

Ein Kammerspiel
Dadurch dass ein großer Teil des Psychothrillers auf kleinem Raum stattfindet und man nicht durch zu viele Settings oder Nebenfiguren abgelenkt wird, verstärkt sich der Eindruck eines Kammerspiels. Die Stimmung ist angespannt und unbehaglich, ohne dass man das richtig greifen kann. Die Protagonistin empfindet diffuse Ängste, auch der Leser spürt deutlich, dass großes Unheil aufzieht. Dann gibt es noch einen Teil auf der Farm bei Jakes Eltern. Auch während des gemeinsamen Essens verhalten sich alle mehr als eigenartig und es passieren seltsame fast surreale Dinge. Das ist alles schon verstörend und man kann verstehen, dass die junge Frau die Farm gerne wieder mit Jake verlassen und trotz immer stärker werdendem Schneefall nicht das Übernachtungsangebot seiner Eltern annehmen möchte.
Unterbrochen wird der Roman von Einschüben, in denen es um die Gedanken von Augenzeugen zu einem tragischen Todesfall geht. Man wird darüber informiert, dass etwas Grauenhaftes passiert. Das lässt bereits erahnen, dass das junge Paar unaufhaltsam auf eine Katastrophe zusteuert. Dem Autor gelingt es durch seinen intensiven Schreibstil mit prägnanten und knappen Sätzen, teilweise nur Satzfragmenten eine beklommene und immer bedrohlicher werdende Atmosphäre mit subtilem Horror zu erzeugen.

Das Ende
Wie man schon vermuten kann, ist das Besondere das Ende. Nach einem spannenden Showdown kommt es zum Schluss zu einem Plot-Twist, den ich so nicht erwartet hatte und der mich auch nach dem Ende des Romans noch lange beschäftigt und nicht so richtig losgelassen hat. Dabei hätte man darauf kommen können, die Hinweise waren da. Es gibt genug Andeutungen, die Raum zum Spekulieren lassen und nach dem Erscheinen des Buches zur Gründung einer Website zum Austausch führten. Am liebsten würde ich jetzt den Thriller noch mal lesen. Dabei habe ich mich gerne von der Schauspielerin Alexandra Sagurna durch die Geschichte tragen lassen, die einen Sog entfaltet und mich nicht eine Minute gelangweilt hat.

Es handelt sich nicht um einen Psychothriller im klassischen Sinn. Das erklärt vielleicht die vielen unterschiedlichen Bewertungen, da Leser etwas anderes erwartet haben und enttäuscht wurden. Es ist mehr ein ungewöhnliches, melancholisches und geschickt inszeniertes Psychodrama über eine menschliche Tragödie. Ein atmosphärisch düsteres Lese- sowie Hörereignis, dessen Ende sicher einige Leser etwas ratlos zurücklässt.

„The Ending“ ist das Romandebüt des gebürtigen Kanadiers Iain Reid, Jahrgang 1980, der aktuell in Ontario lebt.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

The Ending | Das Taschenbuch erschien am 02. November 2017 im Droemer Verlag
Aktuell verfügbar als E-Book
ISBN: 978-3-426-45004-8 | 12,99 €
Originaltitel: I’m Thinking of Ending Things (Übersetzung aus dem Englischen von Anke Kreutzer und Dr. Eberhard Kreutzer)
Bibliografische Angaben und Leseprobe

 

Ilka Dick | Tod zwischen den Meeren (Band 2)

Ilka Dick | Tod zwischen den Meeren (Band 2)

„In der Ferne sah sie die Lichter von Föhr. Irgendwo dahinter lag das Festland, in der Schwärze der Nacht. Führte die Spur sie dorthin? Würden sie dort die Antworten auf all ihre Fragen finden? Sie schlang die Arme um den Körper. Ihr wurde kalt.“ (Seite 130)

Hauptkommissarin Marlene Louven ist vor kurzem ertaubt, kann aber mit speziellen Implantaten trotzdem hören. Nun beginnt sie wieder bei der Kripo Schleswig zu arbeiten und übernimmt die ungelösten Fälle. Ihre erste Ermittlung ist ein Vermisstenfall, bei dem eine Frau von der Insel Amrum vor über drei Jahren spurlos verschwunden ist, ihre Leiche wurde nie gefunden. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Simon Fährmann beginnt sie diesen Fall neu aufzurollen und schon bald gibt es neue Hinweise, die nach und nach ein wahnsinniges Verbrechen zutage fördern…

Eine ertaubte Kommissarin
„Tod zwischen den Meeren“ von Ilka Dick ist der zweite Fall um die Kommissarin Marlene Louven. Im ersten Teil hat die Protagonistin gerade ihr Gehör verloren, in diesem Buch ist es etwa ein Jahr her und sie hat sich mit der Technik und der neuen Geräuschkulisse einigermaßen eingespielt. Diese Besonderheit der Polizistin fand ich sehr interessant zu lesen, da ich mich mit dem Thema noch nie weiter befasst und mir auch keine Gedanken dazu gemacht habe. Mir wurde bewusst, wie umständlich es mit Implantaten im Alltag sein kann, welche Schwierigkeiten auftreten können, aber auch wie unglaublich weit die Technik ist, dass Hören trotz Ertaubung überhaupt wieder möglich ist.

Guter Spannungsbogen
Die Ermittlungen werden für meinen Geschmack sehr spannend erzählt. Da die Vermisste auf Amrum verschwunden ist, reisen Louven und Fährmann auf die Insel für ihre ersten Recherchen. Insel-Kulisse gibt bei mir ja sowieso schon einen Pluspunkt. Dann werden natürlich die Befragungen und Überlegungen der Kommissare geschildert, aber der Leser bekommt auch vom Täter immer mal wieder ein Kapitel und ist dadurch im Vorsprung, was die Geschichte überaus mitreißend macht. Am Ende ging es nur um Minuten und ich konnte das Buch nur sehr schwer weglegen.

Protagonistin etwas unnahbar
Die Protagonistin hat einen erwachsenen Sohn und vor über zehn Jahren ihren Ehemann durch einen Unfall verloren. Jetzt lebt sie in einer Dachgeschosswohnung in Schleswig mit einer Katze zusammen. Außerdem rudert sie gern in ihrer freien Zeit. Das sind auch schon so ziemlich alle persönlichen Dinge, die über Marlene Louven geschrieben werden, die Ermittlungen bleiben absolut im Fokus, was mir grundsätzlich gefällt. Da die Kommissarin das aber auch bei ihrer Arbeit so handhabt und jeglichen Smalltalk unterbindet, außer ab und zu mit Fährmann, empfand ich sie als etwas unnahbar und nicht ganz so sympathisch.

Ilka Dick, 1972 in Lüneburg geboren, studierte Lehramt für Sonderschulen in Hamburg und Bremen. Nach Stationen in Lübeck und Berlin zog es sie auf die Nordseeinsel Amrum. Heute lebt die Autorin mit ihrer fünfköpfigen Familie im Herzen Schleswig-Holsteins und ist seit vielen Jahren als Hörgeschädigtenpädagogin tätig.

 

Foto und Rezension von Andrea Köster.

Tod zwischen den Meeren | Erschienen am 25. Februar 2021 im Emons Verlag
ISBN: 978-3-74081-115-0
288 Seiten | 13,00 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Ian Rankin | Black And Blue (Band 8)

Ian Rankin | Black And Blue (Band 8)

Die schottische Kriminalliteratur ist vielfältig und vielstimmig – und doch ragt aktuell ein Autor bzw. ein Ermittler noch ein wenig heraus: Ian Rankins John Rebus. Als meine Schwiegereltern vor einigen Jahren zu einer Schottland-Rundreise aufbrachen und fragten, was sie uns als Souvernirs mitbringen könnten, meinte ich relativ schnell: „Black and Blue“ von Ian Rankin. Nun lag es danach noch einige Zeit bei mir herum und als ich es für dieses Schottland-Spezial nun in die Hand nahm, musste ich doch feststellen, dass mir das Lesen im englischen Original nicht mehr so leicht fällt. Besonders die feine Ironie und weitere Andeutungen im Text zu erfassen, ist mir früher besser gelungen. Nichtsdestotrotz ist mir relativ schnell aufgefallen, hier ein exquisites Stück Kriminalliteratur in der Hand zu halten.

Kurz zurück zum Autor und zur Figur. Inzwischen zu 23 Bänden (und einigen Kurzgeschichten) angewachsen ist die Reihe längst fester Bestandteil des literarischen Kanons in der Kriminalliteratur, aber auch in der schottischen/britischen Popkultur allgemein. Autor Ian Rankin schuf den allerersten Rebus-Roman „Knots and Crosses“ bereits 1987, es dauerte aber noch einige weitere Bücher bis zum endgültigen Durchbruch. Dabei war die Figur John Rebus und die Schilderung eines düsteren, von Korruption und organisiertem Verbrechen durchsetzten Edinburgh von Beginn an sehr vielversprechend. Rankin schreibt die Romane mit Rebus als Erzähler in der 3.Person, ab und an durchsetzt mit einer weiteren Perspektive. Die Bücher sind klassische „Police procedurals“ mit klarem Fokus auf der Arbeit des Ermittlers. Die Romane haben zudem einen kontinuierlichen Verlauf, haben Verbindungen untereinander (meist frühere Fälle), die Figuren entwickeln sich weiter. John Rebus ist Detective Inspector in Edinburgh, wo er zumeist in Mordfällen ermittelt. Rebus ist geschieden und hat eine Tochter. Als Polizist ist er verbissen und kompromisslos, er dehnt die Regeln und legt sich auch mit Kollegen ode Vorgesetzten an. Dies bringt ihn mehr als einmal in gehörige Schwierigkeiten. Des Weiteren spielt sowohl Musik (Rebus hört gerne Jazz und klassischen Rock), aber auch der Alkohol eine Rolle in Rebus Leben. Seine Fälle nimmt er nur allzu oft mit nach Hause und er ertränkt seine schlechten Gedanken in Alkohol. Sein Lieblingspub ist die real existierende „The Oxford Bar“ in New Town, Edinburgh.

Foto von Stefan Heidsiek / Crimealleyblog

Der achte Band „Black and Blue“ (in der deutschen Übersetzung: „Das Souvenir des Mörders“) gilt vielen als das Highlight der Reihe. Der Titel bezieht sich auf ein Album der Rolling Stones, das Rebus zu Beginn des Romans hört. „Black and Blue“ gewann 1997 den wichtigsten britischen Krimipreis, den „Gold Dagger“, und war auch auf der Short List des amerikanischen „Edgar“. Dies war letztlich der letzte Schritt von Rankin in die Riege der auflagenstärksten Krimiautoren.

Rebus hadn`t worked the case, but knew men who had; they carried with them the frustration of a job left undone, and would carry it to the grave. The way a lot of them saw it, when you worked a murder investigation, your client was the deceased, mute and cold, but still screaming out for justice. (Auszug S.51).

Der Roman beginnt mit einem Verhör. Rebus verhört einen Mann, der sich als der gesuchte Serienmörder Johnny Bible ausgibt. Allerdings ist der Mann ein Wichtigtuer und kein Mörder, was Rebus schnell entlarvt. Johnny Bible hat bereits drei junge Frauen in Aberdeen, Edinburgh und Glasgow ermordet. Eine der Frauen, eine Prostituierte aus Edinburgh, kannte Rebus sogar. Er hat also ein persönliches Interesse am Fall, allerdings spielt er nur am Rande mit, darf sich mit Falschaussagen herumschlagen. Was ihn am Fall zusätzlich fasziniert: Johnny Bible scheint eine enge Verbindung zu einem Serienmörder namens Bible John Ende 1960er/Anfang 1970er Jahre zu haben. Bible John hatte damals auch drei Frauen ermordet, tauchte dann unter und wurde nie gefasst. Was Rebus noch nicht weiß, der Leser allerdings schon: Die Verbindung zum neuen Serienmörder missfällt Bible John sehr, der befürchtet, dadurch erneut in den Fokus zu geraten. Daher beschließt er, selbst Maßnahmen zu ergreifen.

Eine echte Ermittlung für Rebus kommt aber kurz darauf: Ein Ölarbeiter namens Allan Mitchison ist von Unbekannten entführt und zur weiteren „Behandlung“ in ein heruntergekommenes mehrstöckiges Haus gebracht worden. Dort sprang der gefesselte Mitchison vor Panik aus dem Fenster und starb dabei. Die weiteren Spuren führen Rebus nach Aberdeen und auf die Ölfördertürme bei den Shetlands und überraschend gibt es auch eine Spur zu einer Glasgower Gangstergröße.

Dieser Gangster lebt von der lokalen Polizei aktuell relativ unbehelligt, was Rebus sofort dazu verleitet, einigen Glasgower Polizisten die Annahme von Schmiergeld zu unterstellen. Dumm nur, dass ausgerechnet einer dieser Polizisten, Chief Inspector Ancram, eine interne Ermittlung gegen Rebus leitet. Rebus hatte mit seinem früheren Chef Geddes einen Verdächtigen wegen Mordes verhaftet. Die Verhaftung und der Fund von Beweisen erfolgte unter merkwürdigen Umständen. Auch Rebus verdächtigte seinen Vorgesetzten, die Beweise untergeschoben zu haben, bestätigte aber dessen Version im offiziellen Verfahren. Nun ist der Verurteilte als Autor im Gefängnis zu Ruhm gekommen, hat Selbstmord begangen und mit seiner Hinterlassenschaft der Presse neues Material zugespielt, um die Polizei unter Druck zu setzen.

Jack forced a smile, lifted his glass, ‚John, tell me though, why do you drink?‘
‚It kills my dreams.‘
‚It`ll kill you in the end, too.‘
‚Something´s got to.‘
‚Know what someone said to me? They said you were the world´s longest surviving suicide victim.‘ (Auszug S.310)

Mehrere Stränge mit zwei Serienmördern, einer unangenehmen internen Ermittlung, dazu die Ölförderung als lukrativer Drogenumschlagplatz. Die Ermittlungen führen Rebus weit durchs Land: Edinburgh, Glasgow, Aberdeen, Shetlands. Einiges hatte sich Autor Ian Rankin für diesen achten Rebus-Roman vorgenommen und letztlich muss ich konstatieren, dass er diesen komplexen Plot beeindruckend beherrscht. Es geht um Drogen, Korruption, aber vor allem auch um Integrität und Loyalität. Rebus schont sich wie gewohnt nicht, geht hohe Risiken ein, setzt neben seinem Job auch sein Leben aufs Spiel, um diese Fälle zum Abschluss zu bringen. Rankin bringt Rebus wie gewohnt als unangepassten Einzelgänger in Szene, als einen Mann, der eines wegstecken muss, aber dennoch von seinem Gewissen und seiner Verbissenheit angetrieben wird. Aber Rebus ist nicht ganz der einsame Wolf, Rankin gibt ihm mehrere Figuren an seine Seite, deren Loyalität sich Rebus sicher sein kann

Foto von Stefan Heidsiek / Crimealleyblog

„Black and Blue“ ist inzwischen schon ein Klassiker des Genres. Rankin gelingt es hier beeindruckend, seine starke Ermittlerfigur in ein komplexes, aber dabei durchaus nicht realitätsfernes Setting zu integrieren. Korruption und ökonomische (Fehl-)Entwicklungen, hier bezieht sich Rankin direkt auf die damalige schottische Wirklichkeit. Hierzu kommt, dass er sich mit dem Fall des „Bible John“ auf einen wahren Kriminalfall bezieht, einen der bekanntesten, noch heute ungelösten schottischen Kriminalfälle. Das alles ergibt einen packenden, harten, spannenden und auch heute noch ungemein lesenswerten Kriminalroman.

 

Buchfoto und Rezension von Gunnar Wolters.

Black And Blue | Erstmals erschienen 1997 bei Orion Books
Gelesene Taschenbuchausgabe: ISBN 978-0-7528-8360-1
512 Seiten | £8,99
Aktuelle deutschsprachige Ausgabe im Goldmann Verlag (Übersetzung aus dem Englischen von Giovanni Bandini)
ISBN 978-3-442-48660-1
624 Seiten | 10,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Stefan Heidsieks Rezension des Romans auf Crimealleyblog

Val McDermid | Das Grab im Moor (Band 5)

Val McDermid | Das Grab im Moor (Band 5)

„Es gibt keine Garantien“, warnte Hamish sie. „Man kann nicht wissen, in welchem Zustand sich Ihr Erbe befindet. Es ist schon ziemlich lange hier unten.“ „Ja, aber es ist doch ein Torfmoor, stimmt’s?“, warf Will ein. „Ich meine, ich habe von Leichen gelesen, die jahrhundertelang in Torfmooren erhalten geblieben sind.“ (Auszug Position 549 E-Book)

Durch die im Moor vorhandenen Torfmoose entsteht ein stark saures Milieu, welches unter anderem dafür sorgen kann, dass Moorleichen über Jahrzehnte gut konserviert bleiben. Diesen Umstand macht sich Val McDermid in ihrem 5. Fall um die auf Cold-Case-Fälle spezialisierte Polizistin Detective Chief Inspector Karen Pirie zu Nutze.

Foto von Stefan Heidsiek / Crimealleyblog

Schatzsuche in den Highlands
Die Schatzkarte des verstorbenen Großvaters hatte ein amerikanisches Ehepaar in die Highlands geführt. Auf der Suche nach ihrem Erbe waren sie an einem abgelegenen Ort im Moor fündig geworden. Mit Hilfe des ortsansässigen Bauern oder besser Highlanders, Hamish Mackenzie, finden sie auf dessen Grundstück nicht nur die zwei vergrabenen Motorräder, die der Großvater am Ende des zweiten Weltkrieges entwendete und vergraben hatte. In der Grube taucht überraschend auch eine männliche, aufgrund der Bodenverhältnisse gut erhaltene Leiche auf. Und hier kommt DCI Pirie auf den Plan, denn die Nike-Turnschuhe des Opfers können exakt ins Jahr 1995 verortet werden. Aufgrund des guten Zustandes der Leiche hofft man auf eine schnelle Identifizierung. Die engagierte Chefin der Historic Cases Unit ist grade in den schottischen Highlands unterwegs, da in einem alten Fall aus den 80er Jahren, bei dem es um brutale Vergewaltigungen und Morde an Prostituierten geht, neue Hinweise auftauchten.

Die Autorin erzählt die Geschichte auf mehreren Zeitebenen, denn immer wieder erfahren wir durch Rückblicke in das Jahr 1944 und danach, wie und warum es dazu kam, dass die beiden amerikanischen, wertvollen Maschinen beim Truppentransport irgendwie „verloren“ gingen und von zwei ehemaligen Soldaten vergraben wurden.

Pirie hat es grade nicht leicht, privat leidet sie immer noch unter dem schmerzlichen Verlust ihres Lebensgefährten und beruflich macht ihre neue Vorgesetzte Assistant Chief Constable Ann Markie ihr das Leben mit vielen unnötigen Schikanen schwer. Der immer wie aus dem Ei gepellten Markie ist besonders die Außenwirkung der schottischen Polizei wichtig. Sie unterstützt die HCU, solange sich die Fälle der Police Scotland in den Abendnachrichten gut verkaufen lassen. Als DCI Pirie rausfindet, dass ein neu eingesetzter Kollege als Spitzel auf sie angesetzt wurde, wird ihr klar, dass Markie sie unbedingt loswerden will. Auch wenn sie erst mal die Gründe nicht versteht, denn die Erfolgsrate der HCU ist sehr gut. Zur gleichen Zeit wird Pirie in ihrem syrischen Lieblingscafe in Edinburgh Zeugin eines Gesprächs zweier Frauen am Nebentisch und ahnt aufgrund der Äußerungen, dass hier ein Verbrechen geplant wird. An einer Stelle denkt sie:

Das Ganze hatte etwas Bühnenhaftes, fast, als wäre es eine absichtsvolle Darbietung. (Auszug Pos. 281 E-Book)

Meine Meinung
Das hat mich auch anfänglich beim Lesen dieses Kriminalromans gestört. Die Dialoge wirken nicht natürlich, sondern oft aufgesetzt und lediglich dafür da, den Leser über einen Sachstand zu informieren. Die Charaktere waren mir zu oberflächlich und nicht tief genug gestaltet, auch werden zahlreiche Klischees bedient. Ich möchte beispielhaft den knapp zwei Meter großen Highlander Hamish herausgreifen:

Sein Haar, das die gleichen Schattierungen aufwies wie die Torfziegel, die in ihrem Wohnzimmer aufgeschichtet waren, fiel ihm in widerspenstigen Locken auf die Schultern. Der üppige Bart sah so weich aus, dass sie am liebsten das Gesicht darin vergraben hätte. Er trug einen weiten, handgestrickten Pullover in Waldbeerenfarbe über einem Kilt, der schmale Hüften und muskulöse Waden betonte. Dicke Wollstrümpfe warfen über einem Paar abgenutzter Arbeiterstiefel Falten. Er war nicht unbedingt schön. Aber prächtig. Entweder war das Hamish Mackenzie, ging es ihr durch den Kopf, oder irgendein Prinz aus Game of Thrones. (Auszug Pos. 397 E-Book)

Hinzufügen könnte ich noch, dass sich die Küche seines weißen Cottages „undefinierbar männlich anfühlt“ und bevor man sich wundert: Edelstahl und auf weichen Glanz polierte Eiche sowie Küchengeräte, die man nur aus Kochsendungen kennt. Aber Schluss jetzt mit Hamish!
Wir haben es hier mit vielen verschiedenen Handlungslinien zu tun, und es ist der Souveränität der Autorin zu verdanken, dass sie sich zu keinem Zeitpunkt verzettelt. Die Geschichte lässt sich flüssig lesen, der Schreibstil ist ruhig fast betulich. McDermid verzichtet auf Actionszenen, der Fokus liegt dafür auf akribisch beschriebener Polizeiarbeit. Einmal an den bedächtigen Erzählstil gewöhnt, der keine nervenzerreißende, atemlose Spannung bietet, empfand ich Interesse an den Entwicklungen der diversen Fälle und ich habe gerne weiter gelesen.

Dabei haben mich aber immer wieder einige Kleinigkeiten gestört, wie die Angewohnheit, alle mit lächerlichen Spitznamen zu versehen und diese gefühlt in jedem zweiten Satz zu benutzen. Auch für meinen Geschmack sehr nervig waren das ständige Zelebrieren von Kaffeeholen und das Aussuchen der diversen Kaffeesorten. Als Karen in Edinburgh wieder auf Hamish trifft, den ich noch mal erwähnen muss, stellt sich heraus, dass er neben einem Leben als Bauer auch noch eine Coffeeshop-Kette in Edinburgh besitzt.

Foto von Stefan Heidsiek / Crimealleyblog

Zwischendurch wirft McDermid routiniert durch ihre Protagonistin Karen Pirie auch kritische Blicke auf das heutige Edinburgh, wenn es um Gentrifizierung oder die Arbeit der Stadtplaner geht, die ursprüngliche Viertel zugunsten des Tourismus aufmöbeln möchten. Vielleicht nicht der beste Krimi der Bestseller-Autorin, handelt es sich doch um solide irgendwie gemütliche Krimikost mit Schottland-Flair. Ich möchte eigentlich nur wissen, wie es mit Karen und ihrem Hipster-Barista Hamish weitergeht.

Die Queen of Crime
Val McDermid wurde 1955 in der Hafenstadt Kirkcaldy im schottischen Fife geboren. Aus einer Bergarbeiterfamilie stammend, war sie die erste aus der Familie, die auf eine Universität ging. Schon mit 17 Jahren studierte sie in Oxford Englische Literatur. Nach dem Abschluss war sie als Journalistin, als Bühnenautorin und auch als Literaturdozentin erfolgreich, bevor sie 1987 als Schriftstellerin debütierte. Mittlerweile erscheinen ihre Bücher weltweit in mehr als 30 Sprachen und die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Autorin gilt als eine der erfolgreichsten britischen Schriftstellerinnen im Spannungsgenre. Neben einigen bekannten Serienfiguren wie die Journalistin Lindsay Gordon oder die Privatdetektivin Kate Brannigan schaffte es die Reihe um Profiler Tony Hill und DI Carol Jordon sogar ins Fernsehen. Die TV-Serie „Hautnah – Die Methode Hill“ entstand zwischen 2002 und 2008. McDermid engagiert sich für die Gleichstellung Homosexueller und ist eine Unterstützerin des Referendums über die Unabhängigkeit Schottlands.

 

Buchfoto und Rezension von Andy Ruhr.

Das Grab im Moor | Erschienen am 1. September 2020 im Droemer Verlag
ISBN 978-3-426-28223-6
496 Seiten | 16.00 Euro
Originaltitel: Broken Ground (Übersetzung aus dem Englischen von Ute Brammertz)
Bibliografische Angaben und Leseprobe

Stuart MacBride | Die dunklen Wasser von Aberdeen

Stuart MacBride | Die dunklen Wasser von Aberdeen

Kaum zweieinhalb Meter von der Stelle entfernt floss der Don vorbei; scheinbar lautlos schossen die dunklen Fluten des angeschwollenen Flusses vorüber. Kleine Lichtpunkte tanzten auf der Oberfläche – die Scheinwerfer spiegelten sich in den schwarzen Wassermassen, zitternde Gebilde, die sich im prasselnden Regen unentwegt auflösten und neu formten. Man mochte über Aberdeen sagen, was man wollte – was Regen betraf, machte der Stadt so schnell keiner was vor. (Auszug S.12)

Detective Sergeant Logan McRae ist den ersten Tag nach schwerer Verletzung und Rehabilitation wieder im Dienst der Aberdeener Kriminalpolizei, da gibt es den Fund einer Kinderleiche in einem Graben am Ufer des Don. Das Opfer ist ein seit längerem vermisst gemeldeter dreijähriger Junge, der erwürgt, missbraucht und verstümmelt wurde. Eine Ermittlergruppe der Grampian Police beginnt fieberhaft mit den Ermittlungen, ist aber noch nicht wirklich weiter, als weitere Vermisstenmeldungen eingehen. Dann wird auf einmal auf einer Müllkippe eine weitere Kinderleiche entdeckt, diesmal ein Mädchen.

Die erste Tat zeigt eindeutig die Zeichen eines sadistischen Serienmörders. Allerdings passt die zweite Leiche nicht wirklich ins Bild. Anderes Geschlecht, anderer Modus operandi. Hat man es mit zwei Mördern zu tun? Die Polizei arbeitet hart, aber wird von den Ereignissen schier überrollt. Zudem gibt es irgendjemanden innerhalb der Behörde, die Interna an die Presse weitergibt. Diese schlachtet die Fälle aus, wirft der Polizei Versagen vor und treibt die Beamten vor sich her. McRae versucht, System in die Fälle zu bringen, allerdings ist er sich stets bewusst, dass angesichts der vermissten Kinder die Zeit gegen ihn spielt.

Trotz gewisser Diversität der schottischen Kriminalliteratur war zumindest ich vom Wissen um die bekanntesten Ermittlern schon ein wenig auf die beiden Metropolen Glasgow (Laidlaw) oder Edinburgh (Rebus) ausgerichtet. 2005 brachte Stuart MacBride mit seiner Reihe um DS McRae eine weitere Stadt als Schauplatz ins Spiel, die nördlichste Großstadt der britischen Inseln – Aberdeen. Aberdeen ist eine Stadt der Fischerei und der Ölindustrie und zahlreicher Gebäude aus Granit (daher auch der Originaltitel: „Cold Granite“). Auf den ersten Blick kein Touristenmagnet, auch angesichts des Wetters. Selten habe ich ein Buch gelesen, bei dem der Schauplatz so gnadenlos kalt, verregnet und verschneit dargestellt wurde. Aber das Wetter bestimmt in diesem Fall auch das Gemüt des Buches und der beteiligten Figuren.

Logan McRae arbeitet als zweithöchster Ermittler im Team des Detective Inspektor Insch. Mehrere Monate lang war er außer Dienst, nachdem er im Einsatz schwer verletzt wurde und wohl auch sein Leben auf der Kippe stand. Zum Dank taufen ihn die Kollegen bei der Wiederkehr „Lazarus“. McRae trauert anfangs noch seiner Ex hinterher, der stets zu gut gekleideten und eher eiskalten Rechtsmedizinerin Isobel McAlister. Doch McRae lernt zunehmend die Qualitäten der ihm zugeteilten burschikosen, leicht aufbrausenden Constable Jackie Watson. Sein direkter Vorgesetzter, DI Insch, fällt durch seine Sucht nach zuckerhaltigen Süßigkeiten auf, die ebenfalls beteiligte DI Steel ist eine kettenrauchende, fluchende Lesbierin, die bevorzugt bei den Ehefrauen der Kollegen wildert. Ein durchaus spleeniges Ensemble, das um weitere spannende Nebenfiguren ergänzt wird. Dabei vermeidet MacBride aber geschickt, dass die Hauptfiguren trotz mancher Überspitzung in absurde Karikaturen abzugleiten drohen.

Ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus; wie Flammen in einem brennenden Haus. Er sollte allmählich seine Medikamente nehmen, aber nicht jetzt. Noch nicht.
Nicht, wenn es so viele tote Geschöpfe gab, an denen er sich erfreuen konnte. (Auszug S.7)

Ein Absatz aus der Perspektive des Killers? Vielleicht, aber keine Sorge. Dieser Roman ist trotz der zahlreichen Leichen und weiterer Unappetitlichkeiten keiner dieser Serienkillerthriller, bei denen abwechselnd vermeintlich versiert in die Psyche des abgründigen Täters eingetaucht wird. Der Krimi ist eigentlich ein klassischer Polizeiroman, bis auf sehr wenige Ausnahmen komplett aus der Perspektive McRaes erzählt. Eindrucksvoll schildert MacBride den unglamorösen Polizeialltag, das Klinkenputzen, vergebliche Mühen, interne Querelen und vor allem auch den harten Alltag der mittleren und unteren Dienstgrade. Da wird auch schon mal ausgiebig gekotzt und im Pub gesoffen. Der Plot ist insgesamt ziemlich komplex, es gibt tatsächlich einen Serienmörder-Fall, der aber überlagert wird von anderen Fällen, die Parallelen ausweisen oder tatsächlich überraschende gemeinsame Bezugspunkte haben. Keine leichte Sache für DS Logan McRae, auch für den Leser, aber es spricht für den Autor, die Fäden beieinander zu behalten und zu einem plausiblen Ende zu führen.

„Die dunklen Wasser von Aberdeen“ war 2006 ein weiterer Meilenstein in der Tradition der schottischen Kriminalliteratur. Ein Polizeikrimi, der sich gekonnt des Serienmörder-Themas bedient, ohne in die üblichen Schemata zu verfallen. Der außerdem gekonnt schwarzen Humor mit harten Kriminalfällen, dem alltäglichem zwischenmenschlichen Wahnsinn und menschlichen Tragödien verbindet. Inzwischen umfasst die Reihe zwölf Bände und ich habe mal wieder das alte Problem der Vielleser: Müsste ich nicht eigentlich nach diesem reizvollen Auftakt die weiteren Bände nachholen?

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Die dunklen Wasser von Aberdeen | Erschienen 2006 im Goldmann Verlag
ISBN 978-3-442-46165-3 | 544 Seiten
aktuell nur als E-Book erhältlich:
ISBN 978-3-641-12238-6 | 8,99 €
Originaltitel: Cold Granite (Übersetzung aus dem Englischen von Andreas Jäger)
Bibliografische Angaben & Leseprobe