Monat: Februar 2025

Volker Kutscher | Rath (Band 10)

Volker Kutscher | Rath (Band 10)

Und dann sagte er einen Satz, von dem er nicht gedacht hätte, dass er ihn jemals wieder sagen würde, aber er sagte ihn. „Eine Fahrkarte nach Berlin, bitte.“ (Auszug E-Book Pos. 3843 von 9095)

Diesen Satz sagt tatsächlich Gereon Rath im Herbst 1938. Der in Deutschland nach einer Schießerei für tot Erklärte, Charlotte erhält sogar eine Witwenrente, lebte zwei Jahre mit neuer Identität in den USA. Er verlässt mit seinem Bruder Severin Rath die USA, da sie ihren im Sterben liegenden Vater nicht alleine lassen wollen. Gereon taucht erst mal unter falschem Namen in Rhöndorf im Haus des ehemaligen Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer unter, einem Vertrauten seines Vaters. Er trifft sich einmal im Monat heimlich mit seiner Frau Charly und wartet nur auf den richtigen Moment, Deutschland gemeinsam Richtung USA zu verlassen. Doch Engelbert Rath stirbt nicht so schnell und Charly will Deutschland nicht ohne ihren ehemaligen Pflegesohn Friedrich Thormann verlassen.

Fritze steht unter Verdacht, zwei Hitlerjungen getötet zu haben und hat sich erst mal aus dem Staub gemacht. Charly kann das nicht glauben und als Angestellte der Privatdetektei Böhm macht sie sich selbst an die Aufklärung. Dazu muss sie erst mal Fritze finden. Zuvor war Hannah, seine jüdische Freundin bei einer Zwangssterilisation angeblich aufgrund unvorhersehbarer Komplikationen verstorben. Charly kehrt sogar wieder zur Kriminalpolizei zurück, die allerdings längst zum Handlanger der Gestapo geworden ist. Hier weiß sie nicht mehr, wem sie noch trauen kann. Jeder scheint jeden zu bespitzeln und es herrscht eine Atmosphäre von Misstrauen und Denunziation.

„Dann lassen Se uns mal anstoßen“, sagte er und hob sein Glas, „Auf die Jesundheit Ihres Herrn Papa und auf den Weltfrieden.“ „Da haben Sie recht, die haben’s beide nötig“, sagte Rath. „Beim Weltfrieden möjen Sie recht haben, aber um ihren Vater machen Se sich mal kejne Sorgen, der ist ein zäher Brocken.“ (Auszug E-Book Pos. 3233 von 9095)

Es dauert ganz schön lange, bis Gereon in der Geschichte auftaucht. Wie schon im Vorgängerband „Transatlantik“ spielt er nur eine untergeordnete Rolle und lange ist Charlotte Rath die Protagonistin. Erst als seine Ehefrau nicht mehr zu den heimlichen Treffen erscheint, macht er sich auf nach Berlin um sie zu suchen. Charly wurde aus unbekannten Gründen in ein Konzentrationslager gesteckt.

Der zehnte und finale Band ist weniger Krimi mit polizeilichen Ermittlungen und der Suche nach einem Mörder. Als Leser:in hat man auch schon relativ zügig einen Verdacht, wer der wahre Täter ist. Vielmehr spannt Kutscher die Fäden zwischen den bekannten Figuren, lässt einige aus dem Romanzyklus noch mal auftauchen und schildert anhand eines stimmigen Plots den Weg in eine Diktatur. Die Nazizeit und die Verstrickungen der Protagonisten in das NS-System nehmen einen immer breiteren Raum ein. Es gibt bedrückende Szenen einer Massendeportation von Juden und Jüdinnen an der polnischen Grenze, brutale Folterungen im Konzentrationslager bis zu den unmenschlichen Geschehnissen am 9. November 1938. Sehr eindrücklich werden die Ereignisse der antisemitischen Progromnacht mit brennenden Synagogen, zusammengeschlagenen und ermordeten Menschen geschildert. Schwer zu ertragen und folgerichtig endet die Reihe mit diesem Datum, denn die Progromnacht ist für den Autor der „Point of no Return“. Für ihn das Ende der Zivilisation, eine Grenze, die er als Schriftsteller nicht überschreiten kann, wie er oft in Interviews erklärte.
Dafür gelingt es ihm, die Atmosphäre dieser verrohenden Zeit bildhaft einzufangen und ohne erhobenen Zeigefinger darzustellen, wie sich die Stimmung im Land gegen Gegner jeder Art verdüstert und radikalisiert und auch die Faszination der Durchschnittsbürger für diese faschistische Ideologie einigermaßen greifbar zu machen.

Einige lose Fäden aus den vergangenen Bänden werden zusammen-, aber nicht alle Erzählstränge zu Ende geführt; einige bleiben offen. Aber man muss nicht endgültig von den liebgewonnen sowie verhassten Charakteren Abschied nehmen. Volker Kutscher hat schon verraten, dass er nach zwei kleinen illustrierten Büchern, „Moabit“ und „Mitte“, einen dritten geplant hat. Dafür wird er sich mit der Illustratorin Kat Menschik wieder in den Rath-Kosmos begeben.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Rath | Erschienen am 24. Oktober 2024 bei Piper
ISBN 978-3-492-07410-0
624 Seiten | 26.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezensionen zu weiteren Romanen der Reihe

Jurica Pavičić | Mater Dolorosa

Jurica Pavičić | Mater Dolorosa

Sie lief nach draußen, an die frische Luft, in die belebende Kälte, nur weg von den Menschen. Sie lief nach Hause, und durch ihren Kopf wirbelten grausame Bilder von dem ,was sie gerade gehört hatte. Sie dachte an Schnitte und Würgemale. Und ihr ging es besser. Denn eins wusste sie: Das konnte nicht Mario gewesen sein. Denn so etwas hatte Mario nicht in sich. Er hatte keinen Funken Aggression oder Böses in sich. Und das wusste jeder, der Mario gut kannte, so gut wie sie. (Auszug E-Book, S. 147)

Im kroatischen Split wird in einer alten Industriebrache die Leiche einer jungen Frau gefunden. Sie war vorher mit einer Freundin in einem Club, hatte sich offenbar mit ihrem späteren Mörder dort verabredet. Doch niemand hat den Mörder gesehen, lediglich der Autotyp wird identifiziert. Der Ermittlungsdruck der Polizei ist groß, über das Fahrzeug gerät ein aktenkundiger Sexualtäter ins Visier. Doch obwohl er extrem unter Druck gesetzt wird, gesteht er nicht und eindeutige Indizien, die ihn mit der Tat in Verbindung bringen gibt es nicht. Der junge Ermittler Zvone verfolgt währenddessen eine ganz andere Spur. Er vermutet den Täter im Bekanntenkreis. Durch gewisse Indizien verdichtet sich sein Verdacht auf eine Person.

Als die Polizei ein blutiges Kleidungsstück und ein abgerissenes Stück einer Tasche dem Täter zuordnet und der Öffentlichkeit präsentiert, können es Katja und ihre erwachsenen Tochter Ines kaum fassen. Diese Dinge gehören ihrem Sohn bzw. Bruder Mario und weitere Beweisstücke hat er noch zu Hause. Dies bringt die Familie vor eine riesige Zerreisprobe, während die Mutter alles verdrängt und Mario schützen will, hadert Ines mit sich, ob sie die Familie oder den Verrat zugunsten der Gerechtigkeit wählt.

Ich habe Jurica Pavičić als Autor vor einigen Jahren mit seinem Roman „Die Zeugen“ kennengelernt, später habe ich auch „Blut und Wasser“ von ihm gelesen. Beides überzeugende Roman, die sich in einem Grenzbereich zwischen Roman und Kriminalroman befinden. Pavičić legt zumeist einen Kriminalfall seinen Romanen zugrunde, verweigert sich dann aber den üblichen Schemeta, sondern beleuchtet die einzelnen Figuren und ihm gelingt darüber auch ein gesellschaftliches Panorama. So auch in „Mater Dolorosa“: Der Tod einer jungen Frau ist das Vehikel, um drei Personen näher zu kommen. Zvone, der junge Ermittler, der mit seinem verwitweten, kriegsversehrten Vater zu Hause lebt und als einziger Polizist die Spuren richtig deutet und die Identität des Mörders errät. Doch es fehlen die Beweise und niemand belastet den Täter. Wie weit will er gehen, um der Gerechtigkeit genüge zu tun? Ines, die Schwester des Mörders, der langsam klar wird, dass ihr Bruder der Täter ist und die irritiert ist, wie die Familie damit umgeht und zweifelt, ob sie ihren Bruder decken soll. Mehr noch, als herauskommt, dass sie mit ihrem verheirateten Chef eine Affäre hat, ist sie plötzlich überall unten durch und in der Defensive. Katja, die Mutter des Täters, gläubig, ist die „schmerzensreiche Mutter“. Sie ignoriert das Offensichtliche, will die Tat des Sohnes unbedingt unter den Teppich kehren, hat aber gleichzeitig kein Verständnis für ihre Tochter.

Pavičić schreibt die Geschichte abwechseln aus den Perspektiven der drei Hauptfiguren. Der Mörder, Mario, erscheint nur am Rande als antriebslose Person. Eine vollständige Aufklärung findet nicht statt, es gibt kein Geständnis, dennoch sprechen Indizien eine eindeutige Sprache. Doch das ist hier nicht entscheidend, denn die inneren Konflikte der drei Protagonisten zwischen Familie, Loyalität, Gerechtigkeit und Verrat sind entscheidend. Zudem scheinen die Konflikte in der kroatischen Gesellschaft durch, soziale Unterschiede, die Rolle der Frau, Spannungen zwischen alt und jung, die perspektivarme Generation der Kriegsveteranen, die immer noch bestehende Macht der Kirche – all das flechtet der Autor gekommt in diesen Roman ein. Er erinnert mich dabei an die ebenfalls von mir sehr geschätzte argentinische Autorin Claudia Piñeiro. „Mater Dolorosa“ ist ein in der Grundstimmung sehr melancholischer Roman, der zeigt, wie vielseitig das Krimigenre sein kann, und aus meiner Sicht unbedingt empfehlenswert.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Mater Dolorosa | Erschienen am 22.01.2025 im Verlag Schruf & Stipetic
ISBN 987-3-944359-81-6
356 Seiten | 16,90 €
als E-Book: ISBN 987-3-944359-91-5 | 12,99 €
Originaltitel: Mater Dolorosa | Übersetzung aus dem Kroatischen von Blanka Stipetic
Bibliografische Angaben & Leseprobe

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