Jo Nesbø | Durst Bd. 11

Jo Nesbø | Durst Bd. 11

„Meinst du, dass der Mörder tief in seinem Inneren verraten will, wer er ist?“ Harry antwortete nicht. „Nicht, wer er ist, aber was“, sagte Katrine. „Er zeigt Flagge.“ „Darf ich fragen, was das bedeutet?“ „Bitte“, sagte Katrine. „Frag unseren Experten für Serienmorde.“
Harry starrte auf den Bildschirm. Es war jetzt nicht mehr das Echo eines Schreis. Es war ein Schrei. Der Schrei des Dämons. „Das bedeutet…“, sagte Harry, entzündete das Feuerzeug, hielt die Flamme vor die Zigarette und nahm einen tiefen Zug.
„Dass er spielen will.“ (Auszug Seite 151)

Mörderisches Tinder

In Oslo wird eine junge Frau nach einem Date brutal ermordet in ihrer Wohnung aufgefunden. Die Polizei hat es mit einem höchst komplexen Fall zu tun, denn sie finden keine Einbruchspuren. Tatwaffe scheint ein altertümliches Eisengebiss zu sein und dem Opfer fehlt ein halber Liter Blut. Als eine zweite Frau auf ähnliche Weise getötet wird, deutet das auf einen Serientäter. Auch sie suchte mit der Tinder-App nach Kontakten. Die Ermittlungen unter der Leitung von Katrine Bratt stecken in einer Sackgasse. Auch die Presse verstärkt mit ihrer Berichterstattung den Druck zum „Vampiristenfall“.

Und der Experte für Serienmorde hat den Polizeidienst quittiert. Seit drei Jahren gibt Harry Hole als Dozent an der Polizeihochschule Vorlesungen, ist mit seiner großen Liebe Rakel verheiratet und führt mit ihr und ihrem Sohn Oleg ein stabiles, mehr oder minder glückliches Leben. Denn da sind ja noch die bedrückenden Alpträume, die den trockenen Alkoholiker immer wieder heimsuchen.

Die Legende ist zurück

Holes alter Chef und Erzfeind Mikael Belheim hat Angst um seine Karriere und will HH wieder im Team haben. Der ehrgeizige Polizeichef setzt ihn mit dem Wissen um Olegs Drogen-Vergangenheit unter Druck und trifft damit einen wunden Punkt bei Harry, dem seine kleine Familie sehr wichtig ist. Er scheint sein Leben im Griff zu haben, ist umgänglicher geworden und hat dem Alkohol abgeschworen. Das alles will er nicht wieder aufs Spiel setzen. Trotzdem entscheidet er sich dafür und bildet parallel zu der Ermittlungsgruppe um Bratt ein kleines Team, zu dem auch ein Vampirismus-Experte gehört, der Psychologe Hallstein Smith und der junge Polizeianwärter Anders Wyller.

Denn Hole hat einen Verdacht bezüglich des Täters. Er denkt an einen lang gesuchten Sexualstraftäter, den er nie fassen konnte. Die Art und Weise wie der gerissene Täter vorgeht, entspricht nicht komplett seinem bekannten Muster und deutet auf einen zweiten Täter hin. Durch seine exzessive Arbeitsweise verfällt HH schnell wieder in altbekannte Verhaltensmuster. Das verstärkt sich noch, als Rakel lebensgefährlich erkrankt, denn es reißt dem abgeklärten Ermittler praktisch den Boden unter den Füßen weg und setzt ihm sehr zu.

Sie versuchte, seinen Blick festzuhalten, ihn festzuhalten. Aber kaum merkbar, so wie die Farbe des Meeres sich von Grün zu Blau verändert, geschah es. Sein Blick richtete sich wieder nach innen. Und sie wusste, dass er, noch bevor das Lachen verstummt war, wieder von ihnen wegtrieb, hinein ins Dunkel. (Seite 180)

Serienmorde

Wenn ich den Klappentext gelesen hätte, ohne zu wissen, dass der Autor Jo Nesbø heißt, hätte ich mich gelangweilt und auch etwas angeekelt abgewendet. Nicht schon wieder Serienmorde und immer größere Kreativität in der Schilderung abartiger Gewaltverbrechen. Auch die Etablierung von Tinder, diese moderne Online-Platform, bei der man problemlos und schnell Kontakte knüpfen kann für eine Nacht oder mehr, wirkt kalkuliert. Aber es ist halt ein Nesbø und der elfte Fall für Harry Hole und es passiert das, was immer passiert, wenn ich einen Thriller des norwegischen Starautors lese. Schon nach wenigen Seiten stellt sich ein Sog ein und ich klebe an den Seiten. Was also unterscheidet einen Harry-Hole-Thriller von anderen Krimis dieser Art?

Ein Erklärungsversuch

Vier Jahre nach Koma ist Jo Nesbø ein knallharter und explizit brutaler Thriller gelungen, mitreißend geschrieben und stilistisch und dramaturgisch auf hohem Niveau. Er beherrscht das Spiel mit vielen Verdachtsmomenten, Cliffhangern sowie überraschenden Wendungen perfekt und mischt diese in Durst noch gekonnt mit Horrorelementen. Das können auch andere Autoren, aber Nesbø ist wirklich der Meister der falschen Fährten und Irreführungen. Typisch für den Autor erweisen sich die Dinge oft anders, als sie den Anschein haben.

Für mich ist Nesbø einfach ein literarischer Krimiautor, sein intensiver Schreibstil entfacht ein fesselndes Kopfkino. Durch sein außergewöhnliches Talent spielt er mit der Sprache und ist in vielen Passagen hoch philosophisch.

Man trifft eine Menge alter Bekannter wieder, alle authentisch und facettenreich gestaltet, die aber auch konsequent weiterentwickelt werden. Und mittendrin der Protagonist Harry Hole, dieser ambivalente, kantige und höchst widersprüchliche Charakter.

Viele Perspektivwechsel in diesem ausgeklügeltem Plot, die auch einen Blick hinter die Fassade des Täters ermöglichen, erhöhen die Spannung. Bis zum spannenden Showdown auf schmelzendem Eis mit einem angeschlagenem Einzelgänger Harry, dessen ohnehin schon ziemlich lädierter Körper weiter gezeichnet wird.

Fazit

Jo Nesbø überrascht mich immer wieder mit seinem Einfallsreichtum und ja man ahnt es schon, der Titel Durst bezieht sich sowohl auf den Vampiristen als auch auf Harrys Achillesferse, den Alkohol.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

 

Durst | Erschienen am 15. September 2017 im Ullstein Buchverlag
ISBN 978-3-550-08172-9
624 Seiten | 24.- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

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