Ryan Gettis | In den Straßen die Wut
Die Nachrichten schalten zu einer Hubschrauberkamera, und der Himmel – Mann, der Himmel ist gar nicht mehr blau oder so halbgrau wie an den schlimmsten Smogtagen. Sieht aus wie nasser Zement. So dunkles Grau, dass es fast schwarz aussieht. Und scheißschwer.
Da wird mir klar, dass ich ein Kriegsgebiet sehe. In South Central Los Angeles. […]
Und diese ganzen Bilder sagen mir das Gleiche wie allen anderen Idioten in dieser Stadt, die je einen bösen Gedanken im Kopf hatten: Verdammt, jetzt ist dein Tag, Homie. Felicidades, du hast im Lotto gewonnen!
Geh raus und spiel verrückt, sagen die Bilder. Nimm dir, was du kriegen kannst, sagen sie. Wenn du böse und stark genug bist, dann komm raus und nimm es dir. Wie so Teufelsnacht am hellen Tag.
Denn die Welt, in der wir leben, ist total auf den Kopf gestellt. Unten ist oben. Oben ist unten. Schlecht ist gut. Und Marken haben nichts zu sagen. Denn heute gehört die Stadt nicht den Cops. Heute gehört sie uns. (Auszug Seite 108)
Ernesto Vera hat von seinem Chef an diesem Tag früher frei bekommen. Fünf Stunden ist das Gerichtsurteil her und schon gibt es Gerüchte über den Beginn der Unruhen. Ernesto beeilt sich auf dem Weg nach Hause, über den Boardwalk nach Lynchwood. Da hält ein Pick Up neben ihm. Ernesto gehört im Gegensatz zu seinem Bruder und seiner Schwester nicht zu den „Cholos“, der lokalen Gang, also erwartet er keine Probleme. Doch an diesem Tag ist nichts wie vorher, die üblichen Regeln sind außer Kraft, nicht bestellte Rechnungen werden beglichen.
Los Angeles, 29. April 1992: Ein Gericht in Simi Valley spricht die vier Polizisten, die Rodney King bei der Festnahme mit Schlagstöcken traktiert hatten, vom Vorwurf der übertriebenen Gewaltanwendung frei. Angesichts des vorher in den Medien veröffentlichten Videotapes von Kings Festnahme ist der Freispruch für viele Afroamerikaner ein Skandal, so dass es zu spontanen Protesten kommt. Innerhalb kürzester Zeit eskaliert die Lage und es kommt zu Unruhen mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Die Los Angeles Riots dauern sechs Tage. Offiziell gibt es 52 Todesopfer, über 800 Gebäude werden abgebrannt, es entstand ein Sachschaden von über einer Milliarde Dollar. Erst der massive Einsatz von Sicherheitskräften sorgt für eine Beruhigung der Lage am 4. Mai 1992.
Die Freisprüche der Polizisten waren nur der Auslöser, der letzte Funken, der das Pulverfass zum Explodieren brachte. South Central Los Angeles war (und ist) ein problematischer Stadtteil mit hoher Armut, Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Hinzu kommen Polizeigewalt und rassistische Konflikte zwischen den verschiedenen Ethnien. Einmal ausgebrochen, hatten die Ereignisse kaum noch etwas mit ihrem direkten Auslöser zu tun, die zahlreichen Gangs nutzten den rechtsfreien Raum für ihre Zwecke.
Autor Ryan Gettis hat für diesen Thriller intensiv und jahrelang recherchiert. Im Klappeneinband beschreibt er, wie er zunächst einige Bekannte über ihre Gangvergangenheit befragte und sich dann immer tiefer in die Thematik einarbeitete. Irgendwann erhielt er dann eine Aufforderung, eine Verabredung mit einem offenbar wichtigen Mann der Gangszene wahrzunehmen, der ihm auf den Zahn fühlen wollte. Gettis bestand die Prüfung und konnte seine Recherchen komplettieren.
Inzwischen bin ich stocksauer auf diese Geschworenen. Ich bin stinksauer auf alles, aber auf sie kann ich besonders sauer sein. Hätten sie nur einen schuldig gesprochen, wäre das alles hier nicht passiert. Zumindest einen Sündenbock hätten sie uns geben können – aber nein. Jetzt muss die ganze Stadt dafür bezahlen, … (Seite 227-228)
In den Straßen die Wut besteht aus einer Vielzahl von Ich-Erzählern, insgesamt 17 berichten von ihren Erlebnissen zu einem bestimmten Zeitpunkt während der Riots. Unter ihnen sind eine Krankenschwester, ein Feuerwehrmann und ein Elite-Soldat. Doch die meisten von ihnen sind irgendwie in der Latino-Gangszene von South Central L.A. involviert und dadurch erhält der vielstimmige Roman seinen roten Faden, eine Art fragmentarischen Plot. Denn der Mord an Ernesto setzt eine Kettenreaktion der Gewalt frei: Lupe, seine Schwester, will sich mit Hilfe ihrer „clica“ an den Mördern ihres Bruders rächen. Akribisch und mit beeindruckender Atmosphäre zeichnet Gettis mit unterschiedlichen Perspektiven ihren Rachefeldzug und die Reaktion der Gegenseite inklusive blutigem Showdown. Dabei zeigt der Autor eine große Empathie für seine Figuren, die alles andere als schwarz-weiß gezeichnet werden.
Im Roman sinniert der anonyme Elite-Soldat über die Parallelen zwischen den Watts-Unruhen, die 1965 in Los Angeles stattfanden, und den aktuellen Ausschreitungen („Ich kann Ihnen aus persönlicher Erfahrung sagen, dass nach den Unruhen von Watts kein Problem wirklich gelöst wurde, weder ökonomisch noch sonst wie“, Seite 379). Aber angesichts der Vorkommnisse in Ferguson und Baltimore 2014 erhält das Thema dieses Thrillers auch wieder eine erschreckende Aktualität.
Ryan Gettis gelingt es, trotz der engen Fokussierung auf die jeweiligen Ich-Erzähler ein stimmiges Gesamtbild über eine Stadt im Ausnahmezustand zu zeichnen. Hart, intensiv und ungeschönt. Alles in allem ein überzeugender Thriller.
Rezension und Foto von Gunnar Wolters.
In den Straßen die Wut | Erschienen am 22. Januar 2016 bei Rowohlt Polaris
ISBN 978-3-49927-040-6
528 Seiten | 16,99 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe
Weiterlesen: Joseph Wambaugh „Nachtstreife“ (über die Watts-Unruhen 1965), erstmals 1970 erschienen (in deutscher Übersetzung 1985), aktuell nur antiquarisch erhältlich