Robert Preis | Die Geister von Graz
Als in Graz Menschen spurlos verschwinden und Leichenteile auftauchen, wird Armin Trost aus seiner beruflichen Auszeit reaktiviert. Zusammen mit seinen Kollegen Schulmeister und Lemberg macht er Jagd auf einen wahnsinnigen Serienkiller. Dabei wird der Druck der Medien von Tag zu Tag stärker, der öffentliche Hass auf Ausländer, die mit den Taten in Verbindung gebracht werden, steigt. Schließlich führen ihn seine Ermittlungen auf den Balkan, doch bis zur Lösung des Falls hat Trost nicht nur einmal mit dem Leben abgeschlossen.
„In Graz tauchen abgetrennte Körperteile auf, Herr Trost. Eine Nase am Bahnhof, ein Finger in der Straßenbahn und ein weiterer… Körperteil am Bahnhof. Außerdem kursieren merkwürdige Gerüchte von alten Legenden. … Geistergeschichten. … Von Hexen und sowas. Ganz ehrlich, wir brauchen jeden Mann, aber vor allem brauche ich Sie.“ Mit diesen Worten versucht Balthasar Gierack, der neue Leiter des Landeskriminalamts, seinen erfolgreichsten Mitarbeiter aus dem Krankenstand zu reaktivieren, den berühmten Armin Trost, von der Presse als „Held“ gefeiert, seit er vor ein paar Monaten eine Bande irrer Frauenmörder zur Strecke gebracht hat. Er kam selbst dabei nur knapp mit dem Leben davon, aber seine Psyche hat schweren Schaden genommen, er hat sich völlig zurückgezogen, selbst von seiner Frau Charlotte und den drei Kindern, der Familie, die sein ganzes Glück ist und die er „seine Armee“ nennt, die er im Rücken hat, wenn ihm seine Polizeiarbeit wieder einmal alles abverlangt.
Robert Preis schickt in »Die Geister von Graz« seinen Helden in sein bereits drittes Abenteuer nach »Trost und Spiele« und »Graz im Dunkeln«, und die dramatischen Ereignisse des neuen Falles bringen ihn erneut an seine Grenzen und weit darüber hinaus – und gleich mehrfach in Lebensgefahr. Genau das war die Sorge seiner Frau, der er deshalb das Versprechen geben musste, dass ihn seine Fälle nie mehr bis nach Hause verfolgen werden, aber sie ahnte gleich, dass Martin sein Versprechen nicht würde halten können und beide beschlich das Gefühl, dass sie vielleicht schon bald kein Paar mehr sein würden, kein Ehepaar, kein Liebespaar. Und nun bringt seine verzweifelte Suche nach dem Mörder seine Liebsten erneut in höchste Gefahr weil seine unorthodoxen Methoden und spektakulären Alleingänge ihn zur Zielscheibe machen.
Trost ist unberechenbar und bekannt für seine eigensinnigen und eigenartigen Methoden, er folgt bei den Ermittlungen oftmals spontan nur seinem Bauchgefühl, durch Spüren sagt er, offenbaren sich ihm Spuren und seine Intuition lässt ihn dabei selten im Stich. Er ist unangepasst und gewohnt, einsame und mitunter riskante und weitreichende Entscheidungen zu treffen, die nicht nur ihn und seine Gruppe in die brenzligsten Situationen bringen, sondern auch seine Vorgesetzten immer wieder in Erklärungsnot. Seinem neuen Chef, der gerade aus Linz in die Steiermark gekommen ist, um schnell Karriere zu machen, sind die Methoden seiner Ermittler egal, solange sie Erfolg haben und er sich diesen Erfolg an die Fahnen heften kann. Wenn nicht, dann ist er sehr schnell bereit, seine Leute ans Messer zu liefern und hochkant rauszuwerfen, was die Mitglieder seiner SOKO sehr bald zu spüren bekommen. Neben Trost gehören zu dieser Gruppe Johannes Schulmeister, ein bei jeder Bewegung ächzender, dicker Kerl, dem im Einsatz schnell die Puste ausgeht und Annette Lemberg, die direkt von einer deutschen Polizeischule nach Graz gekommen ist und nach einem verpatzten Einsatz, bei dem sie Befehle missachtet und sich selbst und Kollegen in äußerste Bedrängnis brachte, nach einigen Therapiesitzungen und offensichtlich dank des Einsatzes von Schulmeister erst vor kurzem wieder zur Mordgruppe zurückgekehrt ist.
Aber nun stochert die gesamte „SOKO Geist“ buchstäblich im Nebel. Es werden viele Mutmaßungen geäußert, ständig neue Spekulationen angestellt, aber keine der Theorien erweist sich letztlich als haltbar und dem Mörder kommen sie keinen Schritt näher, fast scheint es wirklich, als suchen sie ein Phantom. Die Ermittlungen konzentrieren sich bald auf wenige Verdächtige, und die kleine Gruppe um Trost rätselt, ob es sich um einen oder zwei Täter handelt, ob die Ereignisse zusammenhängen, die in der Stadt allmählich für große Unruhe sorgen. Inzwischen gibt es zwei zerstückelte Leichen, immer neue Körperteile die überall in der Stadt auftauchen, es gibt Ausbrüche von scheinbar sinnloser Gewalt und die Presse schürt mit polemischen und spekulativen Aufmachern die Panik. Und nicht nur sie: ein Lehrer in Frühpension mit dem bezeichnenden Namen Bruno Hass, der einen unsichtbaren „Ferdl“ an seiner Seite wähnt, einen Freund aus früheren Tagen, der nun ein imaginärer Begleiter ist und der seine krausen Gedankengänge kommentiert und seine wirren Pläne unterstützt und befeuert. Diese sehen eine „Säuberung“ vor, er will in Graz aufräumen und das „Gesindel hinaustreten“, das den wirklichen Österreichern alles wegnimmt, die Jobs, die Frauen, die Sozialleistungen, und er will, dass alle mitmachen, die ganze Stadt soll zusammen aufräumen. Und dazu sät er Gewalt, seine Raserei soll sich verbreiten wie ein Virus und eine allgemeine Hysterie und kollektiven Hass erzeugen.
Und tatsächlich spielen schon bald alle Verrückt, Ausländer werden immer häufiger attackiert, Bettler werden zusammengeschlagen, Demonstranten gehen auf die Straße gegen alles Fremde und liefern sich heftige Auseinandersetzungen mit Gegendemonstranten, die gegen die Hetze einstehen. Diese aufgeheizte Atmosphäre schildert Robert Preis sehr dicht, sehr intensiv und eindrücklich, wir bekommen eine deutliche Ahnung vom drohenden Zerfall des Gemeinwesens auf Grund der zunehmenden Spannungen zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsschichten. Dazu tragen auch die großartigen, sehr eindringlichen Schilderungen der Stadt und ihrer Umgebung bei, die im ständigen Nebel und Schneetreiben oft unheimliche, schaurige und morbide Kulissen abgeben. Ein verstörender Einsatz auf dem nächtlichen Steinfeldfriedhof gehört dazu, eine Befragung in einer trostlosen Notschlafstelle, die mühsame Spurensuche in trüben, völlig heruntergekommenen Hinterhöfen und immer wieder ein wehmütiger Blick auf das vergangene oder vergehende alte Graz und im Kontrast dazu die traurige Ansicht der Bausünden der Nachkriegszeit, ein schmerzhafter Vergleich der ehrwürdigen Vergangenheit mit der trostlosen Gegenwart.
Dabei erhalten wir en passant Nachhilfe in Steirer Lebensart, Kultur, Geschichte und auch Geschichten, Spuk- und Schauergeschichten, Märchen und Sagen von Geistern, Hexen und anderen unheimlichen Gestalten, die äußerst geschickt mit den beiden Erzählsträngen verwoben werden: Die Geister der Vergangenheit, von denen einige Figuren des Romans eingeholt werden und der (Un)Geist der Gegenwart, der eine unselige Vergangenheit wieder heraufbeschwört. Die zwei wichtigen Themen des Buches sind der fast vergessene Balkankrieg und die Wunden, die er auf allen Seiten hinterlassen hat und der Fremdenhass, der durch die Wut auf die Flüchtlinge und Einwanderer vom Balkan geschürt wird. Das führt unseren Helden schließlich in das „verfluchte Geisterdorf“ Duhovo Selo nach Kroatien, wo ihm endlich klar wird, wie all die verworrenen Handlungsfäden tatsächlich zusammenhängen und wo ihm das fesselnde Geschehen, das wir hautnah miterleben, wieder einmal das Äußerste abverlangt, und zwar physisch wie psychisch.
Robert Preis zeichnet ein erstaunlich knappes und gleichzeitig außerordentlich präzises Bild seiner Figuren, in zwei, drei brilliant formulierten Sätzen ist die gesamte vielschichtige Person in all ihren Facetten abgebildet, weil zu dem lebendigen visuellen Eindruck, der sich sofort einstellt, immer auch ein tiefer, intensiver und aufschlussreicher Einblick in die oft irritierende Gedankenwelt der handelnden Personen kommt. Diese intimen Einblicke sind nicht nur erhellend, sie geben den Ermittlern wie dem Leser auch ständig neue Rätsel auf, deren Lösung erschwert wird durch den Umstand, dass immer wieder die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit verschwimmen, dass oft unklar bleibt, ob es Traum ist, Einbildung oder doch Realität, was wir gerade erleben. Das ist großartig konstruiert und geschrieben, Preis versteht es hervorragend, immer wieder düstere und schaurige Momente zu inszenieren, indem er Albträume schildert, Gespenster, Dämonen, Erscheinungen, Chimären heraufbeschwört. Selbst Trost zweifelt schließlich an seinem Urteilsvermögen, zu schwierig sind manche verstörenden Wahrnehmungen zu deuten. So weiß auch er in manchen Situationen nicht mehr, ob das, was er sieht, wirklich ist oder nur eine Ausgeburt seiner Phantasie.
Und solche Albträume erlebt der scheinbar unverwüstliche Superpolizist zum Ende des Romans, wenn der verzwickte Fall längst gelöst ist und es nur noch darum geht, heil aus der Geschichte herauszukommen. Das gelingt in einem spektakulären, furiosen Finale, bei dem Preis noch einmal alle Register zieht, surreale Szenen sich abwechseln mit knallharter Action, mit hektischen Schnitten und abrupten Szenenwechseln die Geschichte in einer filmischen Erzählweise zu Ende geführt wird bei der sich ausgesprochen expressive Bilder mit ganz zarten, poetischen Einstellungen abwechseln, die nachdenklich stimmen. Und die nachwirken, denn nachdem die bestürzende Wahrheit offenbar wurde, die sich hinter diesem Drama verbirgt, bleiben Opfer zurück.
Angst machen die Zitate von Schlagzeilen regionaler Medien im Anhang des Buches, die belegen, wie authentisch und nah an der Realität neben allen Spuk- und Geistergeschichten der Roman in seiner Schilderung der beängstigenden Gegenwart in Graz ist… und eben nicht nur da. Hier sind es die Immigranten vom Balkan, dort die „Islamisten“, gegen die immer dreister offener Hass geschürt wird. Noch ist die Zahl der Gegendemonstranten hier wie dort deutlich größer. Wir müssen aufpassen, dass die Gewichte sich nicht verschieben.
Dass der Roman von Robert Preis darauf aufmerksam macht, ist nur ein Verdienst. Nach allem, was hier gesagt wurde, ist meine Wertung sicher keine Überraschung: dass der Lektorin ein paar Fehler entgangen sind und das Titelbild völlig unpassend ist, hat der Autor nicht zu verantworten. Er hat eine wunderbare, stimmige Geschichte außerordentlich gekonnt erzählt, für die ich endlich einmal wieder alle fünf Sterne vergeben darf.
Rezension von Kurt Schäfer.
Die Geister von Graz | Erschienen am 7. Oktober 2014 bei Emons
272 Seiten | 10,90 Euro
Leseprobe
Verlosung!
Unter allen, die uns bis zum 15. Februar 2015 einen Kommentar zu dieser Rezension auf dem Blog hinterlassen, verlosen wir anlässlich unseres 1. Geburtstages einmal »Die Geister von Graz«, freundlicherweise zur Verfügung gestellt vom Emons Verlag Köln. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen, es entscheidet das Los.
6 Replies to “Robert Preis | Die Geister von Graz”
Mir fällt gerade auf, dass ich es sehr sympathisch finde, dass Deine Rezensionen nicht mit dem Titelbild beginnen. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob ich weitergelesen hätte, wenn ich gesehen hätte, dass der Krimi aus dem Emons Verlag stammt – den verbinde ich nämlich mit Regionalkrimis a la Klufti und Co. Das mag ab und an ganz nett sein, aber oft braucht man doch mehr Tiefe. Deine Rezension hat mir den Krimi aber sehr schmackhaft gemacht und ich hab ihn gleich mal auf meine Geburtstagswunschliste gesetzt. Toller Beitrag – vielen Dank dafür!
Liebe Christina, vielen Dank für deinen Beitrag! Ich denke, es geht vielen so, dass sie eine gewisse Erwartungshaltung mit verschiedenen Verlagen verbinden. Mir ging dies früher mit Bastei Lübbe so. Viele Grüße aus Flensburg! Nora
Hallo Nora,
nachträglich herzlichen Glückwunsch zum 1. Geburtstag von krimirezensionen.de!
An deinem Blog mag ich besonders, dass er Rezensionen von mehreren Personen veröffentlicht, wobei jeder seine ganz eigene Art hat. Kurt schreibt gerne lang und ausführlich, was mir immer wieder positiv auffällt. Aber auch die kürzeren Besprechungen sind sehr gut verständlich und aufschlussreich.
Obwohl dein Blog sehr textlastig ist, ist er bunt, das ist schön.
Auf ein gutes weiteres Jahr.
Ina