Marcus Imbsweiler | 55

Marcus Imbsweiler | 55

Beim Abendessen legte ihm Fred einen kleinen schwarzen Zettel neben den Teller. „Hab doch noch einen gefunden“, brummte er.
Joris nahm das Papier in die Hand. Der Dicke muss weg!, las er. Darüber prangte der rundliche Strichmännchenkopf mit Brille und Schnurrbart. […]
„Und das habt ihr verteilt 1955?“
„Überall.“
„Wobei es gar nicht um Hoffmann ging. Sondern um die Autonomiefrage.“
„Naja.“ Fred biss herzhaft zu. „In der Theorie vielleicht. Praktisch gesehen, hatten wir zehn Jahre Joho hinter uns. Zehn Jahre Abtrennung von Deutschland, Unterdrückung der Opposition, politischer Stillstand – natürlich ging es da auch um den Dicken. 55 hat er sogar allein regiert. Kein Koalitionspartner mehr. So was geht immer in die Hose.“ (Auszug Seite 165 – 166)

Im saarländischen Dürrweiler wird der Rentner Kurt Bosslet tot am Ende der Kellertreppe aufgefunden. Todesursache: Vermeintlich ein Herzinfarkt, aber so ganz sicher ist sich die Polizei nicht. Zeugen wollen das Fahrrad des jungen Joris am Haus des Toten gesehen haben. Dieser wohnt erst seit kurzem bei seinem Großvater Fred, der ein alter Rivale des Toten war. Joris begibt sich auf Spurensuche, um seine Unschuld zu beweisen, und gräbt tief in der Vergangenheit bis hin zum Schicksalsjahr des Saarlands: 1955.

Der Autor Marcus Imbsweiler ist gebürtiger Saarländer und lebt inzwischen in Heidelberg. Er bedient als Autor durchaus unterschiedliche Genres. Während im Gmeiner Verlag eine Reihe von Heidelberg-Krimis von ihm erschienen ist, gibt es im Conte Verlag von Imbsweiler mehrere humoristische Gesellschaftsromane. Auch 55 ist im kleinen St. Ingberter Conte Verlag erschienen. Der Verlag bietet in seinem Programm natürlich viel (aber nicht nur) Regionales (aufgrund der geografischen Lage auch Grenzüberschreitendes) unterschiedlicher Genres. Im Krimi-Programm gab es für mich noch eine Überraschung: Sechs Romane des „Série noire“-Autors Jean Amila.

Zentrale Elemente des Romans sind die Themen Heimat, Zugehörigkeit und Identität. Joris kehrt nach dem Freitod seiner Mutter wieder ins Saarland zurück. Auf der Suche nach seinen Wurzeln, ohne echten Plan und Idee für die Zukunft. In Dürrweiler kommt er mitten in eine politische Diskussion über die Unterbringung von Flüchtlingen im traditionsreichen lokalen Gasthof. Joris wohnt bei seinem Großvater Fred. Fred und der Tote, Kurt, waren zuletzt Rivalen, allerdings in der Jugend trotz unterschiedlicher politischer Wurzeln Freunde und Aktivisten im Abstimmungskampf gegen das Saarstatut 1955. Die Rückblicke auf dieses Jahr zählen zu den interessantesten Abschnitten dieses Krimis.

Damals gehörte das Saarland noch nicht zur jungen Bundesrepublik. Das autonome Saarland war durch eine Wirtschafts- und Währungsunion mit Frankreich verbunden, in der Bundesrepublik wollten aber viele die Wiedereingliederung. Der unklare Status blieb ein wunder Punkt im sich entspannenden deutsch-französischen Verhältnis. Als Kompromisslösung wurde das Europäische Saarstatut entworfen. Dieses sah weiterhin eine Autonomie des Saarlandes, aber zugleich eine Europäisierung vor. Es gab sogar schon Pläne, die Behörden der sich bildenden Europäischen Gemeinschaft in Saarbrücken anzusiedeln. Großer Befürworter dieser Pläne war der damalige saarländische Ministerpräsident Johannes Hoffmann. Am 23. Oktober 1955 sollten die Saarländer über das Statut abstimmen. In den Monaten zuvor kam es zu einem erbitterten und auch gewalttätigen Abstimmungskampf. Die Gegner des Saarstatuts wollten die Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik, warfen den Befürwortern Landesverrat vor und feindeten den Exilanten Hoffmann auch persönlich stark an. Imbsweiler stellt in seinem Krimi heraus, dass sich damals unheilvolle Allianzen bei den Statutgegnern bildeten: Es wurden Parolen wiederholt und auch Personen wirkten an entscheidender Stelle mit, die schon 1935 beim ersten Saarstatut das Saarland „heim ins Reich“ geholt hatten. Bei der Abstimmung votierten damals zwei Drittel gegen das Statut, am 1. Januar 1957 wurde das Saarland Teil der Bundesrepublik Deutschland.

Der Roman hat einige starke Momente, beispielsweise als ein Syrer seinen Mannschaftskameraden auf simple und äußerst effektive Weise seine Erlebnisse in syrischen Gefängnissen demonstriert oder als Joris in provokanter Maskerade das Fest der Bürgerinitiative stört und die angebliche Sorge der Bürger um eine angemessene Unterbringung der Flüchtlinge entlarvt. Negativ muss ich allerdings anmerken, dass es streckenweise aber auch sehr langatmig zugeht. Außerdem packt der Autor für meinen Geschmack zu viel gewollt wirkende Symbolik (James Dean, die Zahl „55“) mit rein.

Ein ungewöhnlicher Regionalkrimi, der mich beim eigentlichen Kriminalfall nicht so ganz mitreißen konnte, aber mit interessanten Einblicken in die saarländische Historie punktet.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

 

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55 | Erschienen am 15. Oktober 2015 im Conte Verlag
ISBN 978-3-95602-076-6
254 Seiten | 13,90 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

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