James Lee Burke | Verschwinden ist keine Lösung (Band 23)

James Lee Burke | Verschwinden ist keine Lösung (Band 23)

Es ist geschafft. Mit dem 23. Band endet (vermeintlich) eine der am längsten laufenden Krimireihen. 1987 erschien mit „Neon Rain“ (dt. „Neonregen“) der erste Band um Dave Robicheaux, damals noch beim New Orleans Police Department. James Lee Burke hat die Reihe nun mit „A Private Cathedral“ (die Titel waren schon immer oft schwer zu übersetzen, der deutsche Titel diesmal wirkt etwas unbeholfen) scheinbar abgeschlossen. Mehr oder weniger zumindest, denn offenbar hat Burke bereits einen Titel mit Daves Intimus Cletus „Clete“ Purcel vorbereitet. Mit dem vorliegenden Band endet auch ein verlegerisches Großprojekt. 2015 veröffentlichte Günther Butkus den 15. Band „Sturm über New Orleans“, nachdem mehrere Titel zuvor nicht mehr ins Deutsche übersetzt worden waren. Er traf damit einen Nerv und war Teil eines Comebacks des Autors in Deutschland. Anschließend nahm Butkus die große Aufgabe an, die gesamte Reihe im Pendragon Verlag wiederaufzulegen bzw. als deutsche Erstausgabe zu veröffentlichen.

Zeitlich spielt „Verschwinden ist keine Lösung“ irgendwann vor 9-11 und ist damit in der Chronologie irgendwo mittendrin. Auch wenn es natürlich eine Chronologie gibt und eine gewisse Entwicklung im Leben der Hauptfiguren – allen voran Daves Ehefrauen und seine irgendwann erwachsene Tochter Alafair – es war eigentlich nicht allzu sehr problematisch, einzelne Bände nicht in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Für Neueinsteiger bietet es sich allerdings nie an, mit dem letzten Band zu beginnen. Dieses Mal kommt außerdem hinzu, dass dieser Roman sich für meinen Geschmack nochmal sehr an die eingeweihten Kenner des Robicheaux’schen Kosmos richtet. „A Private Cathedrale“ ist eine Quintessenz der gesamten Reihe, in der Dave und Clete als Aufrechte und Gerechtigkeitsfanatiker einen zwar von kleinen Erfolgen gekennzeichneten, aber letztlich scheinbar vergeblichen Kampf gegen „das Böse“ führen, diesmal noch stärker begleitet von metaphysischen, übernatürlichen Elementen, eingebettet in die traumhafte Landschaft Lousianas..

„Willst du dir noch etwas von Seele reden, Streak?“
„Ich habe ‚Warn-Träume‘. Stürmische See, eine Galeere mit Strafgefangenen, die an die Riemen gekettet sind. Sie sehen aus, als wären sie in der Hölle.“
„Du hast mir gerade eine Scheißangst eingejagt.“
„Warum?“
„Ich hatte den gleichen Traum.“
Es fühlte sich an, als hätte er mir in die Magengrube getreten. (Auszug S.71)

Wie die meisten Romane der Reihe ist eine Inhaltsangabe eher schwierig, denn Burke schickt seine Hauptfiguren in einen sehr komplexen Plot, in dem die Suche nach der Quelle der menschlichen Grausamkeit sich als rote Faden durch die Seiten zieht. Durch eine zufällige Begegnung an einem Pier in Texas lernt Dave die junge Isabell Belangie kennen, Tochter eines Mafiaso, die angeblich an den rivalisierten Clan um den skrupellosen Mark Shondell als Faustpfand „abgegeben“ wurde. Dies ruft Dave auf den Plan, der diesen „Menschenhandel“ hinterfragt und in ein Nest von Soziopathen stößt. Es geht um kriminelle Machenschaften, Grausamkeiten und ein Wiedererstarken rassistischer Politik. Und dann taucht der noch ein „Zeitreisender“ auf, Gideon Richetti, ein grausamen Rächer, allerdings auf der Suche nach Erlösung. Das klingt nicht nur biblisch-mystisch, sondern ist es auch. Das Fantastische, das den traumatisierten Dave (und auch Cletus) immer wieder mal in den Romanen begegnet, wird hier auf die Spitze getrieben, steht aber immer im Kontext zum zentralen Thema des Romans.

Ich hatte ihn für jemanden gehalten, der von grausamen Kräften angetrieben wurde, doch in Wirklichkeit war er eher Opfer als Täter; und meine weltliche Erfahrung hatte mich meiner Meinung nachder Erkenntnis kein Stück nähergebracht, warum die Menschen so eine Vorliebe für Unmenschlichkeit hatten. Unabhängig von Gesellschaft oder geschichtlicher Epoche scheinen sich der Sukkubus und Inkubus ihren Weg in unsere Mitte zu bahnen oder waren latent oder als Keim von Beginn an in uns vorhanden. (Auszug S.279)

„Verschwinden ist keine Lösung“ ist ein brutaler, harter Thriller und zugleich ein zutiefst philosophisch-ethisch-religiös geprägter Roman. Autor James Lee Burke schickt seine Protagonisten auf eine finale Tour de Force, einen letzten, wütenden Kampf gegen die Sklavenhalter, Menschenschänder, Rassisten und Faschisten dieser Welt. Und auch wenn manches Bild und manches Übernatürliche den Leser verwirren mag, halte ich es letztlich mit Kritiker Tobias Gohlis, der zu diesem Buch meinte: „Man muss nicht alles verstehen, um dieses Meisterwerk großartig zu finden.“ Ein Lob verdienen zudem Übersetzer Jürgen Bürger und Jochen König für sein sehr lesenswertes Nachwort, in dem er diesen Roman nochmal in die Gesamtreihe einordnet.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Verschwinden ist keine Lösung | Erschienen am 26.07.2023 im Pendragon Verlag
ISBN 978-3-86532-755-0
466 Seiten | 24,- €
Originaltitel: A Private Cathedral | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen I: Alle Rezensionen zur Robicheaux-Reihe auf Kaliber.17
Weiterlesen II: Beitrag zu „Verschwinden ist keine Lösung“ und Rückblick auf die Reihe von Hanspeter Eggenberger im Crimemag

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