Jahreshighlights 2021 | Andy

Jahreshighlights 2021 | Andy

Auch in 2021 habe ich wieder viel Spannendes gelesen und gehört. Gezählt habe ich die Bücher nicht, da ich das Lesen nicht als Challenge begreife. Es waren sehr unterschiedliche Werke und besonders der historische Kriminalroman hat es mir weiter angetan. Kurz erwähnen möchte ich hier zwei kammerspielartige Psychothriller, die ich gehört und die mich gut unterhalten haben: „The Ending“ vom kanadischen Autor Iain Reid verblüfft mit verstörenden Dialogen, surrealen Ereignissen und einem nicht zu erwartenden Plot-Twist. Auch „Schweig“ von Judith Merchant ist sehr dialoglastig und weiß mit zwei unzuverlässigen Erzählerinnen und manipulativen Machtspielchen zu begeistern. Und passend für dieses Jahr möchte ich noch die Dystopie „New York Ghost“ von Ling Ma empfehlen, die zwar als melancholischer Endzeitthriller nur Beliebiges bietet, mich aber als bissige Satire und originelle Gesellschaftskritik sehr beeindruckte.

Hier sind meine Top 4 des Jahres 2021:

Chris Whitaker | Von hier bis zum Anfang
Ein entsetzliches Verbrechen hält die Einwohner des kleinen kalifornischen Küstenortes Cape Heaven immer noch fest im Griff. Vor Jahrzehnten wurde ein kleines Mädchen ermordet und der Jugendliche Vincent King kam als Täter hinter Gitter. Als er jetzt nach 30 Jahren entlassen wird und in seine Heimatstadt zurückkehrt, werden schicksalhafte Ereignisse in Gang gesetzt. Im Mittelpunkt von Whitakers vielschichtigem Roman steht die 13-jährige ständig rebellierende Duchess. Aufgrund ihrer dysfunktionalen Familie ist sie gezwungen, sich um sich selbst, ihre Mutter und um den kleineren Bruder zu kümmern. Ihre Mutter hat es nie verwunden, dass damals ihre kleine Schwester verstarb und ausgerechnet ihr Freund als Täter verhaftet wurde und flüchtet sich zeitlebens in Alkohol und Drogen. Duchess ist eine wunderbare Figur, die keinem Streit aus dem Weg geht. Mit ihrem viel zu großen Cowboyhut hat sie sich einen Schutzpanzer zugelegt und begreift sich als Nachfahre der Outlaws, die niemals Schwächen zeigten.

Der britische Autor verbindet hier mehrere Kriminalfälle mit einem tragischen Familiendrama. Dabei waren es die vielen überraschenden Wendungen sowie die Verkettung der verschiedenen Verbrechen, die mich an die Seiten fesselten und einen Sog entwickelten, dem ich mich nicht entziehen konnte. Die Ereignisse in der Vergangenheit werden nach und nach enthüllt und mit den unterschiedlichen Biografien verwoben, so dass eine permanente Spannung und emotionale Wucht entsteht. Dabei zeichnet sein intensiver Schreibstil, die plastischen Naturbeschreibungen und wie er die unterschiedlichen Figuren der fiktiven Kleinstadt zum Leben erweckt, die Geschichte aus. Herausgekommen ist eine Mischung aus klassischem Kriminalroman mit Anleihen an einen Western und eine beeindruckende Coming-of-Age-Geschichte. Für mich ein perfekter Roman, so wie er sein muss.

Ivy Pochoda | Diese Frauen
Als vor 15 Jahren in einem heruntergekommenen Stadtteil von Los Angeles in einer grausamen Verbrechensserie 13 Frauen brutal ermordet werden, wird das von der Polizei und den Medien weitestgehend ignoriert. Der Täter wurde nie gefasst, denn es betraf nur Frauen am Rande der Gesellschaft, die einer Arbeit nachgehen, bei denen man es offenbar als Berufsrisiko ansieht, wenn sie getötet werden. Als der Täter jetzt erneut zuschlägt und zwei Frauen mit durchgeschnittener Kehle in der Gosse gefunden werden, erkennt Esmeralda Perry, ein Detective der Sitte, als einzige die Zusammenhänge und das hier ein Serientäter am Werk ist.

Aus den verschiedenen Blickwinkeln der durch die Mordserie miteinander verbundenen weiblichen Erzählstimmen rollt Ivy Pochoda die Geschichte auf und wir erfahren von mehreren Schicksalen. Sie sind in ihren mannigfaltigen Lebenssituationen vielschichtig angelegt und wirken durch die teils vulgäre Sprache absolut authentisch. Der Erzählstil wirkt nie melodramatisch, sondern eher unterkühlt sowie distanziert und entfaltet trotzdem eine große Tiefe. Der Roman ist ein Konstrukt aus Krimi, Gesellschaftskritik und Milieustudie, der eine große Intensität entwickelt. Dabei liegt der Fokus nicht auf der Ermittlungsarbeit oder der Auflösung der Mordfälle. Im Mittelpunkt steht nicht der Täter, sondern die Opfer und die Hinterbliebenen, die in ihrer Verzweiflung sehr nahbar dargestellt werden. Pochoda gibt denen eine Stimme, die Angst haben, sich als Beute sehen und zu Opfer werden. Fernab von Hollywood zeigt sie eine düstere, realistische Welt, in der Vorverurteilung, Gleichgültigkeit und Frauenhass eine große Rolle spielen. Ein unerwartetes Leseerlebnis, fernab vom üblichen Serientäter-Einerlei, mit dem ich so nicht gerechnet hätte.

Volker Kutscher | Olympia (Band 8)
Bei der Fülle an historischen Kriminalromanen, die momentan den Markt überschwemmen, spielt Volker Kutscher immer noch in einer ganz anderen Liga. Sein mittlerweile achter Roman um Gereon Rath führt uns ins Jahr 1936. In Berlin finden die Olympischen Sommerspiele statt. Mittlerweile hat sich das Nazi-Regime voll etabliert und inszeniert die Spiele zur Propagandashow für das neue, friedliche Deutschland. Als ein amerikanischer Sport-Funktionär im Speisesaal des Olympischen Dorfes tot zusammenbricht, vermuten SS und Gestapo eine kommunistische Verschwörung, mit dem Ziel die Spiele zu sabotieren. Rath soll als inoffizieller Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes verdeckt ermitteln und die Verschwörer finden. Die Passagen, in denen wir mit Gereon Rath hinab in die Kerker der Gestapo steigen, wo die zumeist politischen Gefangenen willkürlichen Schikanen und Folterungen ausgesetzt sind, waren für mich kaum zu ertragen. Die SS verschmilzt immer mehr mit der Polizei und selbst dem bisher unpolitischen Einzelgänger Rath wird klar, dass er so nicht mehr als Kommissar arbeiten kann.

Man spürt die immer bedrohlicher werdende Stimmung und dieses Gefühl prägt diesen Band und macht für mich den großen Reiz dieses Romans aus. Durch die Fülle an akribisch recherchierten, historischen Daten entsteht ein intensives Bild jener Zeit ohne künstlich zu wirken. Ein packender Pageturner, beklemmend und dicht erzählt. Ursprünglich sollte die Reihe hier abschließen und der Roman endet auch mit einem richtigen Cliffhanger, der einige losen Enden zurücklässt. Ich bin gespannt, wie die im nächsten Band weiter geführt werden.

Michael Connelly | Late Show
Die Serie um den Ermittler Harry Bosch des amerikanischen Ausnahme-Schriftstellers habe ich schon vor Jahrzehnten sehr gemocht und dann doch aus den Augen verloren. Jetzt hat er eine neue Serie um eine junge Polizistin beim LAPD geschaffen. Nachdem Detective Renée Ballard ihren Vorgesetzten wegen sexueller Nötigung anklagte, wird sie in die von allen verhasste Nachtschicht, die sogenannte Late Show versetzt. Das Schlimmste für die ehrgeizige Polizistin ist dabei noch, dass sie morgens nach Schichtende jeden Fall wieder abgeben muss. Als in einem Nachtclub fünf Menschen erschossen werden und eine Frau halbtot auf dem Santa Monica Boulevard gefunden wird, lässt das Renée keine Ruhe und sie beginnt tagsüber auf eigene Faust zu ermitteln.

Ich habe die eigensinnige, toughe Stand-Up-Paddlerin, die am Strand von Santa Monica mit ihrer Hündin lebt, so gerne bei ihren Nachforschungen durch die Straßen der kalifornischen Metropole begleitet. Ein lebendiges Los Angeles, das viel mehr ist als eine Kulisse. Mit ihr erlebt man den Polizeialltag und bekommt ein Gespür für die besonderen Probleme des weiblichen Detektives. Connelly fährt ein vielschichtiges Figurenensemble auf und ich musste öfter mal überlegen, wer mit welchem Fall zusammenhängt. Ballard ist eine wunderbare Ermittlerfigur mit Ecken und Kanten. Late Show ist ein klassischer Cop-Thriller mit realitätsnahen Schilderungen der Polizeiarbeit, einem komplexen Plot und einer coolen Serienfigur. Auch den mittlerweile auf Deutsch erschienen zweiten Band, in dem Renée auf Harry Bosch trifft, mochte ich sehr, hier fehlte mir ein bisschen die Entwicklung der Figur. Eine ausführliche Rezension von Gunnar findet sich auf dem Blog.

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