Kategorie: Spannungsroman

Rezensions-Doppel: Elizabeth Wetmore | Wir sind dieser Staub & Angie Kim | Miracle Creek

Rezensions-Doppel: Elizabeth Wetmore | Wir sind dieser Staub & Angie Kim | Miracle Creek

Die amerikanische Literaturszene ist ein schier unerschöpflicher Fundus für neue Autoren und Autorinnen. Gerade bei den Autorinnen gab es in letzter Zeit sehr viele neue Stimmen, die sich in den Zwischenräumen zwischen Kriminalliteratur und anderen Genres bewegen. Zwei davon sind Elizabeth Wetmore und Angie Kim. Elizabeth Wetmore ist eine der zahlreichen Spätberufenen. Sie hat in ihrem Leben schon vieles gemacht, eine Bar geschmissen, Englisch gelehrt, Taxi gefahren. Im Alter von 52 Jahren erfolgte dann mit „Valentine“ in begeistert aufgenommes Debüt als Autorin. Auch Angie Kim hat sich erst spät für eine schriftstellerische Karriere entschieden. Die geborene Südkoreanerin zog als Teenagerin in die USA und arbeitete als Anwältin. Ihr Romandebüt „Miracle Creek“ veröffentlichte sie auch erst mit 50 Jahren und gewann dafür 2020 den Edgar für den besten Debütroman. Zeit für eine Doppelrezension.

Elizabeth Wetmore | Wir sind dieser Staub

Odessa, im Westen von Texas Mitte der 1970er Jahre. Es dämmert bereits an diesem Valentins-Morgen, als die 14-jährige Gloria Ramírez schwer misshandelt aus einem Pick-up taumelt, in dem sie die ganze Nacht brutal vergewaltigt wurde. Während ihr Peiniger seinen Rausch ausschläft, flüchtet sie barfuß durch endlos staubige Weite, die Füße von Glasscherben und Kakteen, die Hände von Stacheldraht zerschnitten zur nächstgelegenen Ranch. Die Landschaft scheint nur aus rotem staubigem Wüstensand und Büffelgras zu bestehen. Präriehasen hoppeln zwischen ausrangierten Pipelines und Bohrtürmen umher und unter dem ständigen Auf und Ab der Ölpumpen haben sich Mokassinotter und Klapperschlangen zusammengerollt. Gloria erreicht die Veranda der Whitehead-Ranch und bittet die 26-jährige, mit dem zweiten Kind hochschwangere Mary Rose um Hilfe. Mittlerweile hat sich Dale Strickland in seinem Truck auf den Weg gemacht, um Gloria einzuholen. Während ihre kleine neunjährige Tochter Sheriff und Krankenwagen alarmiert, versucht Mary Rose den jungen Ölarbeiter mit dem Gewehr in Schach zu halten. Dabei befindet sie sich in einem inneren Konflikt und wünscht sich das übel zugerichtete Mädchen wäre auf einer anderen Farm gelandet.

Und da verstummt er, späht sekundenlang an mir vorbei zum Haus und verzieht den Mund zu einem breiten Grinsen. Ich frage mich, ob meine Tochter am Fenster steht, und neben ihr das fremde Mädchen mit den schwarzvioletten Augen und den aufgeplatzten Lippen. …. Wir rühren uns nicht, ich und mein möglicherweise geladenes Gewehr. (Auszug Seite 33)

Nach diesem atemberaubenden Anfangskapitel wird aus der Perspektive verschiedener Frauen, die auf die eine oder andere Weise in die Geschehnisse verwickelt sind, erzählt. Dabei liest sich jede Episode wie eine eigenständige Kurzgeschichte. Trotz ihrer mutigen Tat ist Mary Rose Whitehead danach ständigen Schikanen ausgesetzt. Sie wird bedroht und beschimpft, der Täter, Sohn eines Pfarrers wird verteidigt, das Opfer in den Schmutz gezogen und rassistisch sowie sexistisch beschimpft. Selbst ihr Ehemann Robert versteht nicht, dass sie wegen einer jungen Mexikanerin, die aus purer Langeweile zu einem Fremden ins Auto gestiegen ist, sich und das Leben ihrer Tochter in Gefahr gebracht hat. Trotzdem will Mary Rose unbedingt im späteren Prozess gegen Dale Strickland aussagen. Auf der entlegenen Farm fühlt sie sich nicht mehr sicher. Ihr Mann kümmert sich von früh bis spät fast allein um die Rinderzucht, nachdem die letzten Helfer abgehauen sind, um gegen bessere Bezahlung auf den Ölfeldern zu arbeiten und so zieht sie mit Tochter und Neugeborenem in die Stadt. Auch hier wagt sie es nicht, ihre Tochter auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen.

Neben Mary Rose und Gloria, die sich nach der traumatischen Erfahrung Glory nennt, erfahren wir von der Nachbarin Corrine, einer ehemaligen Lehrerin, die ihren Schmerz über den Tod des geliebten Mannes Potter in Alkohol ertränkt. Weiter von der 10-jährigen Debra Ann, dessen Mutter Ginny abgehauen ist und die sich fürsorglich um einen obdachlosen Vietnam-Veteranen kümmert. Mit viel Empathie aber wenig Nachsicht schaut Elizabeth Wetmore sehr genau auf ihre Frauenfiguren, die alle irgendwie desillusioniert und gebrochen sind, aber mit einem Rest an Würde gegen ausweglose Situationen kämpfen.

Warum hat Gott Texas das Öl geschenkt? Als Wiedergutmachung für alles, was Er dem Land angetan hat. (Auszug Seite 284)

In Odessa bietet die Arbeit auf den Ölfeldern den Männern eine Chance auf gutes Geld und ein besseres Leben. Trotz hoher Unfallrate erscheint diese Tätigkeit den meisten erstrebenswerter als das Leben der Farmer, deren Existenzen durch Dürre, Ungeziefer sowie fallende Rinderpreise bedroht sind. Für Frauen scheint das Land der Ölbarone nicht besonders geeignet. Das zeigt Wetmore auf besondere Weise, indem sie die weibliche Perspektive in diesem männlichen, rauen Setting in den Vordergrund rückt. Sie müssen sich unterordnen, harren unglücklich im tristen Alltag aus, und versuchen, mit wenig Aussicht auf Veränderung irgendwie zu überleben. Die wenigsten sehen eine Perspektive. Noch tiefer als die Frauen stehen nur die illegal eingewanderten Mexikaner. Dennoch ist der Roman nicht komplett deprimierend, der Autorin gelingt es immer wieder auch Szenen der Hoffnung und der Menschlichkeit zu zeigen. Elizabeth Wetmore ist in den 70ern im westlichen Texas in genauso einem Kaff aufgewachsen, inmitten einer trostlosen Landschaft geprägt von Förderanlangen für Erdöl und Erdgas, bis ihr mit 18 Jahren der Absprung gelang. Trotzdem spürt man ihre Liebe zu dieser unwirtlich scheinenden texanischen Natur, denkt man nur an die kleinen, sehr sarkastischen Witze zwischendurch.

Fernab von allen Genreschubladen, denn Elizabeth Wetmores großartiges Debüt ist vielmehr als ein Spannungsroman, zeichnet sie das Bild vom Aufbrechen verkrusteter Strukturen im ländlichen Amerika der 70er Jahre. Dabei ist ihr Schreibstil derart bildgewaltig, man spürt die Hitze und den Staub fast körperlich, man kann die nach Öl stinkende Luft praktisch riechen, die unendliche Weite vor sich sehen und die Langeweile in der Ödnis nachempfinden. Mit großer Ausdruckskraft und rauer, jedoch auch poetischer Sprache schildert sie eine Machogesellschaft, in der Sexismus und Rassismus dominieren. In einem fein austarierten Plot erzählt sie von Ungerechtigkeiten, dem hilflosen Ausgeliefertsein aber auch von einer neuen Generation von Frauen, die sich nicht mehr alles gefallen lassen und erstmalig gegen die Macht des Patriarchats aufbegehren.

Angie Kim | Miracle Creek

In einer Kleinstadt in Virginia beginnt vor dem örtlichen Gericht ein Mordverfahren. Angeklagt ist Elisabeth Ward wegen Mordes an ihrem Sohn Henry und einer Bekannten Kitt Kozlowski. Die Todesumstände waren äußerst ungewöhnlich: Elisabeth und Henry sowie Kitt und ihr Sohn TJ (beide Söhne sind autistisch) besuchten mit weiteren Personen einen ungewöhnlichen Therapieort. Das „Miracle Submarine“ ist eine U-Boot-ähnliche Druckkammer, in der die hyperbare Sauerstofftherapie, die Darreichung 100%igen Sauerstoffs, durchgeführt wird. Betrieben wurde das „Miracle Submarine“ von der Familie Yoo, koreanische Einwanderer, in einer Scheune am Waldrand. Ein Risiko bei dieser Therapie ist jedoch das erhöhte Brand- und Explosionsrisiko aufgrund des reinen Sauerstoffs. Tatsächlich kam es eines Abends zu einer Brandentwicklung nahe der Sauerstoffschläuche, die dann auf die Druckkammer übersprang. Henry und Kitt starben, der Betreiber Pak Yoo konnte die weiteren Insassen der Druckkammer befreien. Er selbst, seine Tochter Mary und der Patient Matt Thompson erlitten dabei noch schwere Verletzungen. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit war Elisabeth nicht mit in der Kammer, sondern außerhalb der Scheune. Aufgrund mehrerer Indizien glaubt die Staatsanwaltschaft, Elisabeth habe die Tat begangen. Motiv: Sie wollte sich endlich der Last ihres autistischen Sohnes befreien.

Die Autorin Angie Kim erzählt die Geschichte abwechselnd aus der Perspektive der beteiligten Personen. Durch diese Perspektivwechsel und auch durch den Fortgang der Gerichtsverhandlung, in der Elisabeths Anwältin einiges unternimmt, um den Verdacht von ihrer Mandantin hin auf andere zu ziehen, entstehen von Beginn an beim Leser Zweifel an der Version der Staatsanwaltschaft. Allerdings erzählen hier sehr viele Personen nicht die Wahrheit oder verschweigen wichtige Dinge, um sich nicht selbst in Misskredit und zumindest in ein schlechtes Licht zu rücken. So wird schnell enthüllt, dass Pak Yoo die Aufsicht im Moment der Katastrophe seiner Frau übertragen hatte. Und was für ein merkwürdiges Verhältnis hatten Matt und Paks minderjährige Tochter Mary? Und wer hatte sich eine Woche vor dem Unglück nach der Brandschutzversicherung erkundigt? Zahlreiche Fragen tauchen auf, die Figuren umspinnt ein immenses Lügennetz, das sich nur langsam entflechtet.

Sie brauchte Antworten. Sie löste die Bremsen, setzte zurück, vom Baum weg, und fuhr zurück zur Straße. Nach links ging es zum Gericht, sie könnte noch vor dem Ende der Mittagspause wieder dort sein, an der Seite ihres Mannes. Aber da würde sie keine Antworten bekommen. Nur noch mehr Lügen, die weitere Fragen aufwarfen. […] Sie fuhr nach rechts. Sie musste nach Antworten suchen. Allein. (Auszug S.256-257)

Ähnlich wie Elisabeth Witmore kann man Angie Kims Roman auch nicht so ganz einem Genre zuordnen. Viele Szenen spielen vor Gericht und doch ist es kein klassischer Justizthriller. Der Roman dringt noch deutlich tiefer in die persönlichen Verhältnisse der Figuren ein, er erzählt von Mutterliebe, Zweifel und Verzweiflung angesichts eines eigenen autistischen Kindes, von Identität und patriarchalem Stolz koreanischer Einwandererfamilien, von Missgunst, Untreue und krankhaftem Kinderwunsch. Alle Figuren sind dabei verbunden in mangelnder Kommunikation, Verschweigen, Vertuschung bis hin zur offenen Lüge.

Insgesamt gelingt Angie Kim ein überzeugender psychologischer Spannungsroman, dem es über die gesamte Zeit gelingt, durch neue Enthüllungen und Wendungen die Spannung und Aufmerksamkeit hochzuhalten. Dabei überzeugt vor allem die Struktur und der Aufbau des Romans und der sehr intime Blick auf die Figuren.

 

Foto und Rezensionen von Andy Ruhr (Wir sind dieser Staub) und Gunnar Wolters (Miracle Creek).

Wir sind dieser Staub | Erschienen am 30.09.2021 im Eichborn Verlag
ISBN 978-3 84790-092-4
320 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Valentine | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Wertung: 5 von 5
historischer Kriminalroman | Western

Miracle Creek | Erscheinen am 09.03.2020 bei Hanserblau
ISBN: 978-3-906-90315-6
520 Seiten | 24,- €
Originaltitel: Miracle Creek | Übersetzung aus dem Englischen von Mareike Heimburger
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Wertung: 4,0 von 5
Spannungsroman

Rumaan Alam | Inmitten der Nacht

Rumaan Alam | Inmitten der Nacht

Amanda und Clay haben über Airbnb ein luxuriöses Ferienhaus gemietet, um mit ihren beiden Teenager-Kindern Archie und Rose eine unbeschwerte Ferienwoche auf Long Island zu verbringen. Eine typisch weiße New Yorker Mittelschichtsfamilie, Amanda arbeitet im Marketing und Clay als Dozent an einem College. Die schicke Villa, die mit Swimmingpool, Jakuzzi und hochwertiger Ausstattung samt Klimaanlage keine Wünsche offenlässt, können sie sich nur leisten, weil sie ziemlich abgelegen am Rande eines Waldgebietes liegt. Keine Nachbarn in der Nähe und zum Einkaufen muss man einige Zeit fahren. Doch die Erholung währt nur kurz, denn mitten in der ersten Nacht, die Kinder sind schon im Bett, Amanda und Clay sitzen vor dem Fernseher, steht jemand draußen vor der Tür.

Und da war es wieder, unverkennbar: ein Geräusch. Husten, eine Stimme, Schritte, Zögern; jenes unbeschreibliche Tierwissen, dass sich ein Vertreter der eigenen Spezies in unmittelbarer Nähe befindet. Die drückende Stille, in der man sich fragt, ob er Böses im Schilde führt. Es klopfte an der Tür. (Auszug Seite 48)

Amandas erster Reflex ist der Griff zum Baseballschläger, doch als Clay ängstlich die Tür öffnet, steht vor ihm ein schwarzes Paar in den Sechzigern und bittet um Einlass. Der Finanzmakler George G.H. und seine Frau Ruth erklären sich als die Besitzer des Feriendomizils, die vor einem großflächigen Stromausfall aus Manhattan hierher geflohen sind. Die ganze Ostküste sei lahmgelegt, sie hätten es nicht mehr in ihre Wohnung in der Park Avenue geschafft und aufgrund der chaotischen Zustände in New York hier Zuflucht gesucht. Amanda und Clay sind verständlicherweise verunsichert, besonders Amanda sehr skeptisch, ob sie den beiden trauen können, denn der Strom läuft hier noch ordnungsgemäß. Die Aussagen lassen sich auch nicht überprüfen, denn der Handyempfang ist in dieser ländlichen Abgeschiedenheit generell schlecht, aber jetzt funktionieren weder TV, Internet noch Telefon. Sämtliche Verbindungen zur Außenwelt scheinen gekappt.

G.H. verstand es bestens, das Verhalten anderer Menschen vorherzusagen, doch das brauchte Zeit. Sie waren im Haus. Nur darauf kam es an. (Auszug Seite 57)

Aus dieser Ausgangssituation entwickelt sich ein immer bedrohlicher werdendes Szenario. Anhand des fesselnden Klappentextes erwartete ich eine Mischung aus Thriller und Psychospiel. Während der Lektüre ist man sich aber nicht mehr sicher, ob es sich um einen Psychothriller oder doch eher um eine Dystopie handelt. Das Unheil schleicht sich unaufhaltsam an und es verdichten sich die Hinweise darauf, dass sich eine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes ereignet hat. Durch einen allwissenden Erzähler weiß die Leser*in immer ein wenig mehr als die Protagonist*innen. Dabei verstärkt es die latent bedrohliche Spannung, dass man immer nur versteckte kleine Andeutungen bekommt, die jedoch nie das explizite Ausmaß der Katastrophe enthüllen.

Auch die sechs Menschen, die in einer zufällig zusammengewürfelten Gemeinschaft auf kleinem Raum in dem abgelegenen Ferienhauses zusammengeschweißt sind, wissen nicht, was da draußen vorgeht und ob sie das vermeintlich sichere Refugium verlassen und in die Stadt zurückkehren sollen. Wie die beiden Familien fernab von jeder Informationsquelle versuchen mit der Situation umzugehen, wie sie sich in vermeintlich logischen Erklärungen versuchen, um sich selbst zu beruhigen und die Angst zu verdrängen, wie sie verzweifelt versuchen, die Normalität aufrechtzuerhalten und zwischen Tatkraft und Erstarrung wechseln, das ist beklemmend und allzu menschlich dargestellt. Auf sich selbst zurückgeworfen schwanken sie zwischen Verwirrung, Ablehnung und Angst vor Kontrollverlust. Die Geschichte lebt von der Dynamik zwischen der widerwilligen Schicksalsgemeinschaft und dass weder die Figuren noch wir erfahren, was außerhalb Long Islands passiert. Es mutet fast surrealistisch zu, wenn plötzlich Hunderte Rehe am Waldesrand oder Dutzende Flamingos am Pool auftauchen.

Auch sie würden bald verstummen wie vor einem plötzlichen Sommergewitter, denn die Insekten wussten Bescheid; sie klammerten sich mit aller Kraft an der gefurchten Baumrinde fest und warteten auf das, was da kommen würde. (Auszug Seite 164)

„Inmitten der Nacht“ ist eine anspruchsvolle Lektüre, die mich von der ersten Seite an gefesselt und über die etwas mehr als 300 Seiten nicht mehr losgelassen hat. Das lag zum einen an der Sprachgewalt des Autors. Rumaan Alam nimmt sich viel Zeit, seine Figuren genüsslich zu sezieren und ihre Charaktere ambivalent zu zeichnen. Sein Blick ist präzise, genau und glaubwürdig. Er beschreibt Durchschnittsmenschen mit Fehlern, Eigenarten und Lastern. Amanda schämt sich für den Gedanken, dass es nicht die Sorte Haus zu sein scheint, in dem Schwarze wohnen. Clay, der sich mit dem Auto nach Hilfe aufmacht, ist der Situation überhaupt nicht gewachsen und mag nicht mal zugeben, dass er sich verfahren hat. Aber auch Ruth und G.H. blicken mit einigen Vorbehalten auf den Lebensstil der Weißen herab und fühlen sich Ihnen intellektuell und gesellschaftlich überlegen. Dadurch besteht die ganze Zeit eine Unbehaglichkeit, auch weil nicht klar ist, wer Gast und wer Gastgeber ist. Dabei sind die teilweise irrationalen Verhaltensweisen für mich absolut nachvollziehbar.

Rumaan Alam hat einen dynamischen Erzählstil und verfügt über die Gabe, die Alltäglichkeiten des Zusammenlebens einer Familie dicht an die Leser*in heranzutragen, oft mit feinem Humor, ohne jemand lächerlich zu machen. Ob es die detaillierte Beschreibung der Ferienwohnung ist, oder die Einkäufe, die Amanda noch kurz vorher tätigt und deren Beschreibung sich über eine Seite zieht. Für mich kein Wort zu viel, eine unglaubliche Lesereise und ein wunderbares sowie verstörendes Vergnügen, dass sich schwer einem bestimmten Genre zuordnen lässt. Ein Psycho- oder Katastrophenthriller, Kammerspiel und Sozialsatire, in dem der Autor soziale Themen wie Klimawandel, Alltagsrassismus und Konsumgesellschaft ohne große Effekthascherei streift.

Der Roman stand auf der Shortlist des Booker Prize 2020 und befand sich übrigens auch auf Barack Obamas Liste der besten Bücher 2021, was seinen Humor beweist, wenn man an die Stellen über den ehemaligen Präsidenten im Buch denkt. Der Roman soll von Netflix mit Julia Roberts und Mahershala Ali in den Hauptrollen verfilmt werden.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Inmitten der Nacht | Erschienen am 18.10.2021 im btb Verlag
ISBN 978-3-4427-5928-6
320 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Leave the World Behind (Übersetzt aus dem Englischen von Eva Bonné)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Melba Escobar | Die Kosmetikerin

Melba Escobar | Die Kosmetikerin

Ich hasse alles, was diese nicht biologisch abbaubaren Frauen mit ihren gezupften Augenbrauen repräsentieren. Ich hasse ihre schrillen, gekünstelten Stimmen, als wären sie vierjährige Püppchen, kleine Drogenbaron-Schlampen, die wie ein Phallus in den Körper einer Frau gezwängt sind. Alles ist so verworren, diese Macho-Kind-Frauen verstören mich, sie deprimieren mich, bei ihrem Anblick muss ich daran denken, was alles kaputt und faul ist in diesem Land, in dem der Wert von Frauen an der Größe ihres Hinterns, der Form ihrer Brüste und ihrer Wespentaille gemessen wird. (Auszug Seite 7/8)

Mit der Hoffnung auf ein besseres Leben zieht die alleinerziehende Karen aus der Provinz in die Hauptstadt Kolumbiens. In Bogotá findet sie einen Job in einem renommierten Kosmetikinstitut in einem mondänen Viertel. Im ‚Haus der Schönheit‘ lässt sich die weibliche Oberschicht behandeln und vertraut Karen ungewollt alle möglichen Geheimnisse an. Sie spart ihr Geld um schnellstmöglich ihren vierjährigen Sohn nachzuholen, den sie in der Obhut ihrer Mutter in der Hafenstadt Cartagena gelassen hat.

Haus der Schönheit
Eines Tages behandelt sie die minderjährige Schülerin Sabrina Guzmán, die sich, offensichtlich angetrunken für ein bevorstehendes Date mit einem älteren Mann verschönern lassen möchte. Als Karen erfährt, dass das Mädchen am nächsten Morgen tot aufgefunden wurde, ist sie geschockt und kann an einen vermuteten Selbstmord nicht glauben. Auch die verzweifelten Eltern lassen nichts unversucht, um herauszufinden, was in den letzten Stunden ihrer Tochter geschah. Sabrinas Mutter besucht Karen sogar im Salon, denn die war die letzte, die das Mädchen lebend gesehen hat. Doch Karen hat selbst genug Probleme, die ihr Leben in einen Abwärtsstrudel verwandeln. Sie findet eines Tages ihre Wohnung ausgeraubt vor, auch ihre gesamten Ersparnisse unter der Matratze sind weg. Sie wird von ihrem Vermieter brutal vergewaltigt und dann von dessen Ehefrau aus der Wohnung geworfen. Aus der Not heraus beginnt sie nebenher als Prostituierte zu arbeiten und gerät dadurch ständig in gefahrvolle Situationen. Die traumatischen Erfahrungen und ihr Nebenjob als Callgirl werfen sie aus der Bahn und sie gerät ahnungslos in den Dunstkreis der an dem Tod des Schulmädchens Beteiligten. Der Täter verfügt über ein einflussreiches Netzwerk aus politischen und kriminellen Akteuren und damit gerät Karen in Gefahr.

Eine ihrer Kundinnen ist die 57-jährige Psychoanalytikerin Claire. Sie lebte viele Jahre in Paris und ist jetzt nach der Trennung von ihrem Ehemann in die Stadt zurückgekehrt, die sie eigentlich verabscheut und in der sie sich immer fremd fühlt. Regelmäßig besucht sie den Schönheits-Salon, allerdings mit ambivalenten Gefühlen. Eigentlich misstraut sie den zementierten Klassenschranken, auch wenn sie als gebildete Frau ein Teil davon ist, und verachtet die Arroganz der Schickeria. Von der attraktiven Karen und ihrer Ausstrahlung ist sie aber fasziniert. Als sie bemerkt, dass die schöne Mulattin sich verändert, will sie ihr helfen und schreibt ihre tragische Geschichte auf.

Ambitioniert und anstrengend
Ich muss zugeben, dass es mir der Roman sehr schwer gemacht hat. Das lag zum einen an den ständig wechselnden Erzählperspektiven. Größtenteils erzählt Claire Karens Geschichte, zwischendurch aber auch ihre Freundin Lucía, teilweise wird auch schon mal mitten im Text die Perspektive ohne einen Hinweis gewechselt. Auch die großen Handlungssprünge machten mir das Lesen sehr anstrengend und dämpften den Lesefluss. Ich hatte ständig das Gefühl etwas verpasst zu haben und war irgendwann des Zurückblätterns müde. Die tote Schülerin spielt anders als nach dem Lesen des Klappentextes vermutet, nur am Rande eine Rolle.

Vielmehr geht es der Autorin in ihrem multiperspektivisch erzählten Roman neben dem Aufzeigen der wirtschaftlichen Ungleichheiten um den allgegenwärtigen Machismo. Wie ein Kriminalroman inszeniert, ist ‚Die Kosmetikerin‘ doch eher ein Sittenbild der Gesellschaft. Dabei stehen mal nicht die Kartelle oder die Kämpfe der Drogenbarone im Fokus. Escobar zeigt deutlich, dass Kolumbien auch jenseits des Drogenhandels von mächtigen Clans beherrscht wird, dass diese mafiösen Strukturen sich zudem in den besseren Kreisen sowie in der politischen Elite ausbreiten und Sexismus und Korruption an der Tagesordnung sind.

Exemplarisch für die gesellschaftlichen Schichten steht der Kosmetiksalon, in dem reiche privilegierte Damen und arme Angestellte aufeinander treffen. Die Frauen, die sich hier behandeln lassen, unterwerfen sich den gängigen Schönheitsidealen. Sie haben ihre Rolle in der patriarchalen Macho-Kultur scheinbar akzeptiert und lassen ihren Frust an Frauen in schwächeren Positionen aus.

Escobar schreibt sehr ambitioniert mit einigen fast philosophischen Sätzen über die Zustände in Bogotá. Viele schonungslose Passagen werden mit einem großen Hang zur Brutalität geschildert, die mir an die Nieren gingen. Ich fand es an vielen Stellen sehr aufwühlend, aber aufgrund der verwirrenden Erzählweise nicht mitreißend genug, viel zu düster und deprimierend.

‚Die Kosmetikerin‘ ist der vierte Roman der kolumbianischen Schriftstellerin und Journalistin Melba Escobar. ‚La casa de la belleza‘ wurde 2016 als bester Roman mit dem kolumbianischen Premio Nacional de Novela ausgezeichnet.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Die Kosmetikerin | Das TB erschien am 09. September 2019 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-4534-2336-7
320 Seiten | 9,99 Euro
Originaltitel: La casa de la belleza (Übersetzung aus dem Spanischen von Sybille Martin)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Jennifer Clement | Gebete für die Vermissten

Jennifer Clement | Gebete für die Vermissten

Jetzt machen wir dich hässlich, sagte meine Mutter. Sie pfiff durch die Zähne … Sie roch nach Bier. Im Spiegel sah ich, wie sie mir mit dem Stück Kohle übers Gesicht fuhr. Das Leben ist böse, flüsterte sie … Vielleicht muss ich dir die Zähne ausschlagen, sagte meine Mutter. (Auszug Seite 9)

Guerrero ist eine von Gewalt gebeutelte Provinz im Südwesten von Mexico. Bekannt ist die Urlaubsmetropole Acapulco an der Pazifikküste liegend. In den dünn besiedelten Bergen, wo vor allem Indigene leben, lassen die Kartelle Mohn anbauen und durch diese Gebiete wird das Kokain dann aus Südamerika transportiert.

In den kleinen Bergdörfern besitzen Drogenhändler die Macht und terrorisieren diesen Landstrich. Ein Menschenleben ist hier nichts wert, besonders nicht das der Mädchen. Für die junge Ladydi Garcia Martinez ist das der bittere Alltag. Sie erzählt uns von ihrem Leben in dieser trostlosen Gegend, in dem mittlerweile fast nur noch Frauen leben. Die Männer, die nicht auf die Seite der Drogendealer wechseln, verlassen ihre Familien um in Acapulco Arbeit zu finden. Oder sie fliehen über die Grenze in die USA. Die es schaffen, schicken einen Teil ihres Lohnes zu ihren Frauen aber die meisten Männer kehren nicht zurück. So ist es die Aufgabe der Frauen, ihre Kinder zu beschützen. Und das Gefährlichste sind nicht die giftigen Skorpione, Klapperschlangen, Leguane oder Erdbeben, auch nicht die Militärs, die wahllos Gift aus Hubschraubern über das Gelände versprühen. Eigentlich um die Mohnfelder der Narcos zu zerstören, oft wurden die Piloten aber auch bestochen und sprühen ihre Pestizide über die Hütten der Bauern. Das Schlimmste sind die Entführungen durch die Menschenhändler. Die kleinen Mädchen werden von ihren Müttern in Jungensachen gekleidet und als Teenager absichtlich hässlich gemacht, die Haare kurz geschnitten, die Zähne mit Filzstift geschwärzt. Sobald am Horizont die schweren Escalades mit schwarz getönten Scheiben auftauchen, verstecken sich die Mädchen in selbstgegrabenen Erdlöchern. Doch meistens sind die Frauen der Willkür der Drogenmafia machtlos ausgeliefert, von den bisher verschleppten Mädchen fehlt jede Spur, nur eine taucht nach einem Jahr psychisch und physisch angeschlagen wieder auf.

Eine vermisste Frau ist nur ein Blatt, das der Regen in die Gosse treibt. (Auszug Seite 68)

Für Ladydi scheint sich ein Ausweg aus dem Elend zu eröffnen, als sie einen Job als Kindermädchen in Acapulco antritt. Ihr Cousin Mike hat ihr die Stelle vermittelt und bringt sie auf das luxuriöse Anwesen einer reichen Familie. Die Besitzer tauchen aber monatelang nicht auf. Ladydi hat eine gute Zeit und verliebt sich in den Gärtner. Bis zu dem Tag, als die Polizei die Villa stürmt und ein gewaltiges Waffenlager vorfindet. Für Ladydi beginnt ein Alptraum, denn aufgrund der Machenschaften ihres Cousins, der für die Zetas arbeitet, wird sie verhaftet und findet sich in Drogenschmuggel und einen üblen Doppelmord verwickelt. Obwohl noch minderjährig kommt sie ins Frauengefängnis in Mexiko-City. Auch hier gerät sie wieder in eine reine Frauenwelt, in der jede Inhaftierte grauenhafte Geschichten zum Besten geben kann.

Die Autorin, die in Mexiko-City aufwuchs hat für diesen Roman mehr als 10 Jahre lang in Guerrero recherchiert, Hunderte Interviews mit vom Drogenkrieg betroffenen Mädchen und Frauen geführt, um dann alles mit viel Herzblut in eine fiktive Story zu verpacken. Herausgekommen ist ein intimer Blick auf den trostlosen Alltag der armen Bevölkerung inmitten der Mohnfelder. Ohne zu bewerten berichtet sie in neutraler Sprache hautnah aus der Perspektive einer betroffenen Heranwachsenden. Ladydi lässt uns teilhaben an ihrer trostlosen Jugend und erzählt von ihrer Halbschwester Maria mit der Hasenscharte, von Paula, dem schönsten Mädchen von Mexiko, von Estefani, deren Mutter an Aids stirbt, von Ruth, dem Müllbaby, die einen Schönheitssalon betreibt und ihrer alkoholsüchtigen Mutter Rita.
Jennifer Clement findet eine feine Balance zwischen Sachlichkeit und Emotion, erzählt in einem unterkühlten, fast unpersönlichen Ton, völlig ungeschminkt mit vielen poetischen und bildreichen Metaphern und das komplette Fehlen der wörtlichen Rede. Trotz der Not und widriger Umstände gibt es auch immer wieder Zeichen der Wärme und der Freundschaft, auch blitzt immer wieder das grotesk-komische in dieser Welt der Armut und Gewalt auf und sorgt für hellere Momente. So heißt die Protagonistin tatsächlich nach Lady Di, aber nicht aufgrund deren Schönheit, sondern weil sie für ihre Mutter die Heilige der Betrogenen ist.

Der Stoff wird sehr knapp auf 200 Seiten gefasst, ist mehr Novelle als Roman. Das war auch so ein bisschen mein Problem. Es gibt so viele komplexe Nebenfiguren, aber keine der Charaktere ist tief oder mehrdimensional angelegt. Auch wenn jede ihre eigene Geschichte hat, die bestimmt oft ergreifend und berührend scheint, ist gar kein Platz für tiefgehende Charakterzeichnungen. Sie wirken mehr wie standardisierte Stellvertreter und als wolle die Autorin alles unterbringen, was sie während ihrer Recherchen herausgefunden hat. Auch wenn dahinter viel Realität steckt und alles der traurigen Wahrheit entspricht, drohen bei der Vielzahl der alltäglichen Grausamkeiten diese zur Routine zu werden und die unerträglichen Ereignisse konnten mich gar nicht mehr erschüttern. Trotzdem zerbricht Ladydi nicht an ihrem Schicksal, sie kennt auch keine andere Welt und sie erfährt auch immer wieder die große Solidarität der Frauen.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Gebete für die Vermissten | Das Taschenbuch erschien am 06. Dezember 2015 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-5184-6640-7
228 Seiten | 8,99 Euro
Originaltitel: Prayers for the Stolen (Übersetzung von Nicolai von Schweder-Schreiner)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezension zu Jennifer Clements Roman „Gun Love

Nils Westerboer | Athos 2643

Nils Westerboer | Athos 2643

Neben dem Krimigenre gehört Science Fiction sicherlich ebenfalls zu den unterschätzten Gattungen der Literatur. Denn oftmals steckt in vermeintlichen Genrewerken so viel mehr drin. Während der literarische Krimi sich gerne mit handfesten sozialen, gesellschaftlichen und politischen Themen auseinandersetzt, probiert es Science Fiction oft mit den großen Themen der Philosophie, Ethik oder sogar Theologie. Genau diesen Ansatz wählt auch Nils Westerboer in seinem Roman „Athos 2643“.

Aber zunächst zur Ausgangslage. Wir schreiben das Jahr 2643. Die Menschheit war irgendwann im ausgehenden 21.Jahrhundert aufgrund einer Pandemie gezwungen, die Erde zu verlassen. Wenige überlebten das „Nadelöhr“, den Sprung zum Mond und von dort aus weiter ins ganze Sonnensystem. Mit Hilfe des großflächigen Einsatzes künstlicher Intelligenzen bis hin zum humanoider Chimären (die allerdings aufgrund eines Terrorangriffs vor mehr als 200 Jahren deaktiviert wurden) hat der Mensch den lebensfeindlichen Weltraum erschließen können. Über den Status der zum Einsatz kommenden Intelligenzen und die Funktionseinstufung der menschlichen Bewohner wacht das Kollektiv der sogenannten „Obhut“. Die KI haben grundsätzlich zwei Funktionsstufen: In der Stufe „util“ handelt die KI im Sinne des größstmöglichen Nutzens des von ihr zu betreuenden Habitats, was allerdings Kollateralschäden für einzelne Personen nicht aussschließt. In der Stufe „deon“ handelt die KI streng ethisch für jeden Einzelnen.

Auf „Athos“, einem kleinen felsigen Objekt in der Umlaufbahn des Neptun, ehemals als Mine erschlossen, aber lange aufgegeben, befindet sich ein Kloster einer christlichen Gemeinschaft mit lediglich acht Bewohnern. Angeschlossen ist zudem eine Fleischfabrik (der Begriff ist wörtlich zu nehmen, Nutztiere wurden zur Fleischproduktion optimiert und ohne nicht benötigte Körperteile gehalten), in der sich ein Todesfall ereignet hat. Ein Mönch wurde von einer Schlachterdrohne getötet. Ein Vorfall, der mit einer funktionierenden KI, die die ganze Station auf Athos steuert, nicht hätte vorkommen sollen. Zur Prüfung und Neueinstellung der KI wird Rüd Kartheiser geschickt. Er ist Inquisitor und soll die KI mit Hilfe von Konversationstechniken von „util“ auf „deon“ einstellen. Mit dabei als Partner hat Rüd die holografische KI Zack. Zack erscheint als attraktive Frau, was Rüd auch ausnutzt, und was im Kloster einige ziemlich irritiert. Rüd trifft auf relativ geringe Unterstützung sowohl bei den Mönchen als auch bei der KI des Klosters, MARFA. Je länger er auf Athos verweilt, umso mehr stellt Rüd fest, dass irgendein tieferes Geheimis die Gemeinschaft und ihre KI umgibt. Um seinen Auftrag erfüllen zu können, ist Rüd schließlich bereit, entscheidende Anweisungen der Obhut zu missachten und Zack einen weiterreichenden Status freizuschalten.

„Wem vertrauen Sie eigentlich mehr?“, fragt Rüd kopfschüttelnd. „Ihrer MARFA oder dem lieben Gott?“
Gembdenbach hebt die Hände, als sei Rüd ein unbelehrbares Kind, an das jede Mühe verschwindet ist.
Uri springt für ihn ein. „Das – Oder – ist – falsch“, piepst er. (Auszug S. 195)

Der Weltraum ist als Setting bei mir eher unterrepräsentiert. Vielleicht zu Unrecht, denn das Genre bietet so viel mehr als Space Operas. „Athos 2643“ lässt nach dem Klappentext dann auch eher einen Krimi vermuten. Der Schauplatz in einem Mönchskloster auf einem Neptunmond, zwei Ermittler kommen hinzu, die Klostergemeinschaft hat etwas zu verbergen – da wurden bei mir gewisse Assoziationen mit „Der Name der Rose“ geweckt. Und das nicht ganz zu Unrecht, denn die Kriminalhandlung tritt teilweise deutlich in den Hintergrund, denn auf diesem menschlichen Außenposten werden wichtige Fragen der Philosophie, Ethik und Theologie aufgeworfen und behandelt. Kein Wunder, ist Autor Nils Westerboer doch auch studierter Theologe. In meinen laienhaften Worten zusammengefasst, dreht sich vieles um Descartes berühmten Ausspruch: „Cogito ergo sum.“ Nur diesmal als Frage formuliert. Inwieweit können künstliche Intelligenzen „sein“? Was unterscheidet sie noch von echten Menschen und wird dies überwunden?

Vergessen als Fähigkeit.
Ich begreife jetzt: Entscheiden braucht Vergessen. Solange ich alles weiß, was ich wissen kann, sind meine Entscheidungen keine Entscheidungen, sondern Folgerungen. Kann ich vergessen, tappe ich, wie die Menschen in einer Dämmerung zwischen hell und dunkel, stochere in teils klaren, teils vagen Erinnerungen, wäre gezwungen, zu wägen, zu ermessen, müsste, könnte entscheiden.
Entscheiden braucht Vergessen.
Echtes Vergessen. (Auszug S. 363)

Oben hatte ich formuliert, dass die Krimihandlung in den Hintergrund rückt. Dadurch kam es für mich zwischendurch auch zu etwas langatmigen Passagen, aber zum Glück behält Westerboer einen Spannungsbogen, der zum Schluss nochmal in Form eines Thrillers anzieht. Besonderen Reiz gewinnt der Roman durch die Erzählperspektive: Die KI Zack führt als Ich-Erzähler*in durch die Handlung. Zack macht während des Romans eine Entwicklung durch, man könnte darüber streiten, ob ihre Erzählstimme dem immer angemessen ist. Insgesamt konnte mich „Athos 2643“ aber doch überzeugen. Ein hintergründiger Science-Fiction-Spannungsroman, bei dem man manche Passage erstmal sacken lassen muss – aber das muss ja auch bei Spannungsliteratur kein Nachteil sein.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Athos 2643 | Erschienen am 19.02.2022 bei Hobbit Presse im Klett-Cotta Verlag
ISBN 978-3-608-98494-1
432 Seiten | 18,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe