Kategorie: Spannungsroman

Jurica Pavičić | Blut und Wasser

Jurica Pavičić | Blut und Wasser

Die Suche nach Silva war mal mehr, mal weniger intensiv, ist mal erlahmt, hat sich dann wieder belebt, aber nie hat er ganz aufgehört. Selbst in ruhigen Phasen hat Mate im Hinterkopf ein unangenehmes Summen, das ihn dran erinnert, dass in seinem Leben nicht alles in Ordnung ist. Silva ist verschwunden, summt es in seinem Hinterkopf, sie ist weg und du unternimmst nichts dagegen. (Auszug E-Book, Position 1545).

Der kleine Ort Misto an der dalmatinischen Küste im September 1989: Die politischen Umwälzungen beginnen sich am Horizont abzuzeichnen, doch in Misto ist davon noch wenig zu spüren. Die Familie Vela, bestehend aus den Eltern Vesna und Jakob und den beiden fast erwachsenen Kindern Silva und Mate, verbringen vermeintlich glückliche Tage im kroatischen Spätsommer. Doch nach einem Sommerfest an einem Samstagabend verschwindet die 17jährige Silva spurlos. Zunächst sucht die Familie, dann auch die Polizei vergeblich nach ihr. Brane, Silvas Freund, wird schnell von den Verdächtigen gestrichen, da er erst sonntagsmorgens mit einem Bus in Misto ankam. Adrian, der Sohn des Bäckers, war als letzter mit ihr zusammen, wird nach einem anonymen Hinweis festgenommen, doch später wieder freigelassen. Doch letztlich verdichten sich die Anzeichen, dass Silva womöglich einfach abgehauen sein könnte. Zudem findet die Polizei heraus, dass Silva in ihrem Schülerinnenwohnheim mit Drogen gedealt hat. Als schließlich eine Zeugin auftaucht, die Silva am Sonntagmorgen am Busbahnhof gesehen haben will, geht die Polizei davon aus, dass sie aus freien Stücken ins Ausland gegangen ist. Der Fall wird mehr oder weniger zu den Akten gelegt, doch ihre Familie, vor allem ihr Bruder Mate, gibt die Suche nicht auf.

Er arbeitet irgendwann als Lkw-Fahrer und Vertreter, um möglichst viel unterwegs zu sein, um in ganz Europa nach Spuren von Silva zu suchen. Er klebt Plakate, richtet Webseiten ein und erhält auch zahlreiche, auch ernstgemeinte Hinweise – die sich aber allesamt als Fehlhinweise entpuppen. Silva bleibt unauffindbar. Zeitgleich schreitet die Zeit voran, das Buch umfasst einen Zeitraum von fast 28 Jahren. Das Verschwinden von Silva und politischen und gesellschaftlichen Umbrüche haben an der Familie Vela und an Misto ihre Spuren hinterlassen. Jakob und Vesna haben sich getrennt, auch Mates Ehe wird an seiner Obsession, seine Schwester finden zu müssen, zerbrechen. Adrian ist das Stigma des Verdächtigen nicht los geworden, wurde schließlich als Soldat im Bosnienkrieg tödlich verwundet. Auch die Familie von Brane hat das Ereignis zerrüttet. Schließlich kehrt auch der ehemalige Kommissar Gorki Schain nach Misto zurück. Er musste nach dem Ende Jugoslawiens seinen Job bei der Polizei aufgeben, die vergebliche Suche nach Silva war sein letzter großer Fall. Gorki kehrt nun als Immobilienentwickler zurück und sucht nach günstigem Land für Ferienhaus- und Tourismusprojekte, was wiederum zu einiger Unruhe in Misto führt.

Autor Jurica Pavičić ist ein in seiner kroatischen Heimat renommierter Autor, Journalist, Film- und Literaturkritiker. Er ist mir mit seinem Roman „Die Zeugen“ bekannt. Ein überzeugender Roman, der die Umstände eines Mordes und einer Entführung im Zusammenhang mit den Kriegsveteranen der Jugoslawienkriege beleuchtet. Auch „Blut und Wasser“ verweigert sich einer eindeutigen Genrezuordnung. Das Verschwinden von Silva ist ein Kriminalfall – möglicherweise. Erst am Ende löst Pavičić das Ganze auf. Dies ist auch der einzige Moment, in dem er mit der ansonsten chronologischen Erzählweise bricht. Für ein kurzes Kapitel beschreibt er, was wirklich damals in dieser Nacht in Misto passiert. Ansonsten wählt er für seine Kapitel immer wieder unterschiedliche Perspektiven und Erzähler. Das ist ein letztlich sehr überzeugendes Stilmittel, dadurch werden die dramatischen Entwicklungen in Bezug auf die einzelnen Personen nochmal deutlich hervorgehoben. Die Entwicklungen betreffen aber auch das alte Fischerdorf, das sich immer mehr zu einem Urlaubsdomizil wandelt. Einzige Konstante scheinen die stetig auftretenden adriatischen Winde zu sein.

In diesem Krieg gibt es keinen Sieg, nur aufgeschobene Niederlagen. (Auszug E-Book, Position 2238)

„Blut und Wasser“ ist kein typischer Kriminalroman, dafür bleibt zu lange offen, ob es sich wirklich um einen Kriminalfall handelt. Doch Pavičić gelingt es, mit dieser Ungewissheit eine gewisse Spannung aufrechtzuerhalten. Vor allem im Mittelteil gelingt dem Autor eine überzeugende Darstellung, wie das Ende des kommunistischen, jugoslawischen Staates, der aufkeimende kroatische Nationalismus, die Kriege und letztlich der Kapitalismus und der Massentourismus tiefe Spuren in der Dorfgemeinschaft und in den einzelnen Biografien hinterlassen haben. Eine „Chronik des gesellschaftlichen Umbruchs“, wie es der Verlag beschreibt, und hinzu kommt noch das Trauma des Verschwindens von Silva Vela. Ein wirklich überzeugender Roman, für den ich gerne eine Lesempfehlung gebe.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Blut und Wasser | Erschienen am 29.09.2020 im Verlag Schruf & Stipetic
ISBN 978-3-944359-49-6
276 Seiten | 12,90 €
als E-Book: ISBN 987-3-944359-49-6 | 6,99 €
Originaltitel: Crvena voda (Übersetzung aus dem Kroatischen von Blanka Stipetić)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen II: Rezension zum Roman auf dem Blog Zeichen & Zeiten

Weiterlesen I: Kurzrezension von Gunnar zu Pavičićs Roman „Die Zeugen“

Abgehakt | Oktober 2020

Abgehakt | Oktober 2020

Unsere Kurzrezensionen zum Ende Oktober 2020

 

Thomas Mullen | Die Stadt am Ende der Welt

Winter 1918: Der erste Weltkrieg ist noch nicht beendet. Die Amerikaner sind letztlich doch auf Seiten der Alliierten in den Krieg eingetreten und müssen Verluste auf dem Schlachtfeld verkraften. Die USA sieht sich allerdings durch die Pandemie der Spanischen Grippe einer neuen Bedrohung ausgesetzt. Tief in den Wäldern des Staates Washingtons liegt die junge Holzfällerstadt Commenwealth. Gründer Charles Worthy hat die Stadt bewusst als Gegenentwurf zum ausufernden kapitalistischen System gegründet. Nun finden sich dort ehemalige Gewerkschafter, Anarchisten, Kommunisten, Kriegsdienstverweigerer. Als die Grippe immer näher kommt, entschließt sich Worthy und die Gemeinschaft zu einem radikalen Schritt: Die Stadt begibt sich in Isolation und schottet sich von der Außenwelt ab. Das Betreten der Stadt von Fremden soll unter allen Umständen verhindert werden. Da nähert sich aus den Wäldern kommend ein Soldat den Absperrungen.
„Die Stadt am Ende der Welt“ ist der Debütroman von Thomas Mullen aus 2006, der in Deutschland zuletzt durch die Reihe um schwarze Polizisten in Atlanta bekannt wurde. Dieser Roman hier wurde natürlich durch die aktuelle Corona-Pandemie wieder schlagartig interessant und dadurch erneut auf Deutsch veröffentlicht.

Der Roman folgt über weite Strecken bekannten Muster von Pandemie-Thrillern oder Dystopien. Eine Gemeinschaft wird durch die Bedrohung stark auf die Probe gestellt und die Harmonie und Solidarität weicht nach und nach Angst, Misstrauen und Panik. Das ist aus meiner Sicht passabel und solide dargestellt, ohne allerdings aus meiner Sicht herauszuragen. Auch die zahlreichen Rückblenden auf die Vorgeschichten der Figuren verlangsamen den Erzählfluss. Was mich allerdings überzeugt hat, ist die Verbindung, die Mullen zwischen den Kriegsanstrengungen der USA und der Pandemie zieht. Tragisch und absurd wie bei der Situation einer nationalen Tragödie wie der Spanischen Grippe auch noch der letzte Kriegsdienstverweigerer aus den Wäldern geholt werden soll.

Die Stadt am Ende der Welt | Erschienen am 29.09.2020 im Dumont Verlag
ISBN 978-3-8321-8151-2
480 Seiten | 18,- €
Originaltitel: The Last Town on Earth
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,0 von 5,0
Genre: Spannungsroman

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu Thomas Mullens Roman „Darktown

 

Don Winslow | Broken

Don Winslow ist bekannt für ausufernde Thrillerepen, beispielsweise seine Kartell-Trilogie. Nun hat er sich an eine Kurzform gewagt. „Broken“ ist eine Sammlung von sechs Novellen, in denen Winslow außerdem viele alte Bekannte aus früheren Büchern wieder zurückholt.

„Broken“ erzählt die Geschichte von Drogencop Jimmy McNabb in New Orleans, der eine Fehde mit einem brutalen Drogendealer austrägt. „Crime 101“ erzählt ein Raub-Story entlang des Pacific Coast Highway mit Steve McQueen-Reminiszenzen. In „The San Diego Zoo“ wird aufgeklärt, wie ein Affe im Zoo an eine geladene Waffe kam. In „Sunset“ ist Kautionsbürge Duke Kasmajian auf der Suche nach einem Kautionsflüchtling. „Hawaii“ erzählt eine Geschichte von Ben, Chon und O (bekannt aus Savages), als sie auf Hawaii Revierkämpfe mit lokalen Gangs geraten. Zuletzt kommt „The Last Ride“, in der der Grenzschützer Cale Strickland ein Mädchen aus einem Auffanglager gegen die Vorschriften mit seiner Mutter wieder vereinen will.

Sechs Geschichten über Gewalt, Drogen, Loyalität und Moral. Geradlinig und kurzweilig erzählt, von hartgesotten, lässig bis berührend bieten diese Storys eine faszinierende Bandbreite. Absolutes Highlight ist „The Last Ride“. Winslow zeigt sich mit diesen Geschichten in Topform.

Broken | Erschienen am 24.03.2020 bei HarperCollins
ISBN 978-3-95967-489-8
512 Seiten | 22,- €
als E-Book: ISBN 978-3-95967-488-1 | 14,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 5 von 5;
Genre: noir/hardboiled

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Romanen von Don Winslow

 

Vincent Hauuy | Der Dämon von Vermont

Vor einigen Jahren verlor Profiler Noah Wallace bei der Jagd auf einen Serienmörder seine Frau bei einem Autounfall und wurde selbst schwer verletzt. Nun fristet er mit großen körperlichen und psychischen Problemen ein zurückgezogenes Leben. Da holt ihn sein ehemaliger Partner überraschend ab und fährt mit ihm zu einem Mordschauplatz im benachbarten Kanada. Der Täter hat eine Nachricht an Noah hinterlassen. Die gesamte Vorgehensweise deutet wieder auf den „Dämon von Vermont“ hin. Doch der ist doch damals beim Unfall ebenfalls verstorben. Oder etwa nicht?

Serienmörder-Thriller sind so eine Sache. Eigentlich nicht mehr mein bevorzugtes Subgenre, gibt es da doch viel Schund. Aber es gibt auch Ausnahmen. Leider zählt dieser hier nicht dazu. Was man zumindest noch positiv sagen kann: Es ist halbwegs spannend. Und der Hintergrund der Story, das MKULRA-Programm der CIA zu Bewusstseinskontrolle, ist nicht uninteressant. Die Umsetzung ist aber nur mäßig, der Plot ist für meinen Geschmack zunehmend abstrus. Auch was die handwerklichen Dinge betrifft, reißt mich das Ganze nicht vom Hocker. Maue Dialoge und vom personalen Erzähler zäh vorgetragene Gedanken der Figuren machen die Lektüre nicht besser. Der Kanadier Vincent Hauuy gewann mit diesem Debütroman einen vom französischen Bestsellerautor Michel Bussi gestifteten Literaturpreis. Warum auch immer.

Der Dämon von Vermont | Erschienen am 19.09.2020 im Tropen Verlag;
ISBN 978-3-608-50473-6
448 Seiten | 17,- €
Originaltitel: Le tricycle rouge
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 1,5 von 5;
Genre: Thriller

 

Rezension 1 bis 3 sowie die dazugehörigen Fotos von Gunnar Wolters.

 

Wolf S. Dietrich | Friesisches Gift

Auf der ostfriesischen Insel Langeoog werden Heroin-Päckchen angeschwemmt, aber als die Polizei diese sicherstellen möchte, sind sie verschwunden. Dann wird ein Journalist vermisst, der unter anderen über diese Angelegenheit berichten wollte und den Dieben offenbar zu nahe gekommen ist. Rieke Bernstein vom LKA ermittelt in beiden Fällen.

Der dritte Fall um die Kommissarin Bernstein hat sich für mich flüssig gelesen, der Schauplatz bringt Urlaubsfeeling mit und die Geschichte ist spannend geschrieben. Trotzdem konnte der Fall mich nicht völlig überzeugen, da die Ermittlungen für meinen Geschmack zu dramatische Ausmaße annehmen und mir die Protagonistin bis zum Schluss unnahbar vorkam.

Friesisches Gift | Erschienen am 28.02.2019 im Lübbe Verlag;
ISBN 978-3-40417-787-8
416 Seiten | 10,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3 von 5;
Regionalkrimi

 

Katharina Peters | Todesklippe

Ein Polizeipsychologe aus Rostock kommt bei einem Motorradsturz ums Leben. Ein Kollege glaubt nicht an einen Unfall und so wird die Privatdetektivin Emma Klar aus Wismar eingeschaltet, die erst verdeckt, aber später auch offen ermittelt. Und plötzlich kommen noch ganz andere Ungereimtheiten ans Licht…

„Todesklippe“ von Katharina Peters fand ich spannend zu lesen. Es handelt sich um einen sehr weitverzweigten Fall, bei dem die ermittelnden Beamten nicht immer den vorgeschriebenen Dienstweg einhalten, um ans Ziel zu kommen. Emma Klar als Protagonistin konnte mich ebenfalls überzeugen, nur das Ende wäre für meinen Geschmack mit etwas weniger Gewalt ausgekommen.

Todesklippe | Erschienen am 12.04.2019 im Aufbau Verlag
ISBN 978-3-74663-543-8
352 Seiten | 9,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 4,0 von 5,0
Genre: Regionalkrimi

Weiterlesen: Weitere Rezensionen von Andrea zu Romanen von Katharina Peters

Rezensionen 4+5 und dazugehörige Fotos von Andrea Köster.

Ellen Sandberg | Das Erbe

Ellen Sandberg | Das Erbe

„Mona folgte seinem Blick. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite entdeckte sie ein wunderschönes Jugendstilhaus. Über mehrere Etagen Stuck, geschwungene Formen, florale Elemente, vergoldete Verzierungen und in der Rosette am Giebel ein Schwanenpaar, das die Köpfe Höcker an Höcker legte. Ein beeindruckendes und liebevoll instand gehaltenes Gebäude.
„Ihre Tante hat beinahe ihr ganzes Leben im Schwanenhaus gelebt“, sagte Sander.“ (Auszug Seite 23)

Mona Lang erfährt durch einen Brief, dass sie die Alleinerbin von Klara Hacker ist, der Großcousine ihrer Mutter. Mona hat Klara das letzte Mal vor einigen Jahren bei dem siebzigsten Geburtstag ihres Vaters gesehen und wusste nicht mal, dass sie verstorben ist. Klara geht davon aus, dass sie ein sehr wertvolles Gemälde geerbt hat und ist dann völlig überrascht, als sie beim Treffen mit Klaras Steuerberater erfährt, dass sie jetzt das Schwanenhaus in München besitzt. Das Haus ist 12 Millionen Euro wert und somit ist Mona reich. Sie hat sich noch gar nicht ganz an ihr neues Leben gewöhnt, da lässt Monas Mutter eine Bemerkung fallen, die Mona nicht nur ins Grübeln bringt, sondern die sie auch über Moral nachdenken lässt und sie weit in die Vergangenheit zieht. Welche Geheimnisse verbirgt dieses Haus?

Die Spannung nimmt stetig zu

Das Erbe von Ellen Sandberg ist der dritte Spannungsroman der Autorin Inge Löhnig unter diesem Pseudonym. Die ersten beiden Bücher (Die Vergessenen und Der Verrat) haben mir bereits sehr gut gefallen und auch dieses hat mich nicht enttäuscht. Bereits nach den ersten Seiten war ich mitten in der Geschichte, die sich leicht und flüssig liest und mit dem Kommentar von Monas Mutter stetig an Spannung zunimmt. Bei den knapp fünfhundert Seiten ist keine zu viel, beim Lesen gab es für mich keine Längen.

Blick in die Vergangenheit

Die Geschichte ist in drei Stränge unterteilt: Das Leben von Mona, Sabine und Klara, wobei von Klara in der Vergangenheit berichtet wird, angefangen 1938 bei ihrer Kindheit im Schwanenhaus, denn dort wohnte sie ihr gesamtes Leben. Es werden ziemlich viele Namen erwähnt und in der Mitte des Buches war es für mich nicht mehr ganz so einfach alle richtig zuzuordnen, da musste ich mich etwas mehr konzentrieren.

Protagonistin mit moralischem Kompass

Mona ist mir sehr sympathisch. Quasi mit dem Erbe hat sich ihr langjähriger Freund getrennt und so zieht sie von Berlin nach München ins Schwanenhaus. Dort gönnt sie sich von ihrem Reichtum dann auch etwas, aber ohne zu großspurig zu werden. Da sie einen „moralischen Kompass“ hat, hat Klara sie als Alleinerbin eingesetzt, doch dieser Kompass bringt Mona immer weiter an ihre Grenzen und eine Entscheidung fällt ihr, in Bezug auf das Haus und die Ergebnisse ihrer Recherchen dazu, sehr schwer. Beim Lesen habe ich mich auch immer wieder gefragt, wie ich in dieser Situation reagiert hätte.

Hartz IV-Klischees

Bei Sabine werden ziemlich viele Klischees bedient: Sie wohnt in Hamburg-Harburg in einer Sozialwohnung mit ihren beiden Kindern, sie ist von ihrem Mann getrennt, lebt von Hartz IV, nimmt ab und zu einen Job an, um sich dann aber gleich wieder in der Probezeit kündigen zu lassen, fühlt sich grundsätzlich von allen und jedem benachteiligt und verbringt ihre Tage zu Hause mit Dosenbier und Zigaretten. Trotzdem empfinde ich die Darstellung von Sabine als nicht überzogen.

Fazit: Klare Empfehlung! Eine Reise in die Vergangenheit des zweiten Weltkrieges und seine Folgen und eine spannende Frage der Moral.

 

Rezension und Foto von Andrea Köster.

Das Erbe | Erschienen am 28. Oktober 2019 im Penguin Verlag
ISBN 978-3-328-10402-5
512 Seiten | 15.- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Auch bei uns: Rezensionen zu den Romanen Die Vergessenen und Der Verrat von Ellen Sandberg.

Deepa Anappara | Die Detektive vom Bhoot-Basar

Deepa Anappara | Die Detektive vom Bhoot-Basar

„Haben Sie diesen Jungen gesehen“, fragt Pari, und ihre Stimme ist genauso kühl wie die Eishände, mit denen sie Bahadurs Foto hochhält. „War er hier? Haben Sie seinen Freund gesehen?“
„Darum muss sich die Polizei kümmern, nicht ihr“, sagt der Mann.
„Die Polizei kümmert sich aber nicht um uns, weil wir arm sind“, sage ich. (Auszug Seite 121)

Jai und seine Freunde Pari und Faiz leben in einer illegalen Armensiedlung (Basti) in einer nordindischen Stadt und gehen in die vierte Klasse. Das Leben im Basti ist beschwerlich und gefährlich. Doch die Situation wird noch bedrohlicher, als kurz nacheinander ein Mitschüler aus ihrer Klasse und ein weiteres Kind aus der Siedlung verschwindet. Die Polizei unternimmt nichts, die Stimmung wird zunehmend aufgeheizt. Jai und seine Freunde gründen ein Detektivtrio und gehen selbst auf die Spur nach den verschwundenen Kindern.

Jai, Pari und Faiz suchen nach Hinweisen im Basti, in der Schule und im benachbarten wuseligen Bhoot-Basar mit all seinen Ständen und Gassen. Sie wagen sich sogar verbotenerweise bis ins weit entfernte Stadtzentrum und bis zum Bahnhof. Sie sammeln ein paar Einzelheiten, die darauf hindeuten, dass die Kinder nicht freiwillig weggelaufen sind und können ein paar Gerüchte entkräften. Doch wer genau dahintersteckt, da tappen sie weiterhin im Dunkeln.

Die Unruhe im Armenviertel wird immer größer und es werden Schuldige gesucht. Auch die Polizei mischt nun mit, aber schürt den Konflikt durch Korruption und voreilige Festnahmen nur noch. Außerdem schwelt für die Bewohner immer die Angst, dass mit zunehmender Aufmerksamkeit die illegale Siedlung abgerissen wird und sie sich ein neues Zuhause suchen müssen.

Ich bin Detektiv und habe gerade ein Verbrechen begangen.
Aber es ist für eine gute Sache. Wenn Pari und ich Bahadur und Omvir finden, werden wir unser Zuhause nicht verlieren. Unser Zuhause ist viel mehr wert als lumpige vierhundert Rupien. (Seite 98)

Der Ich-Erzähler Jai lebt im Basti in einer kleinen Bude zusammen mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester Runu, einer vielversprechenden Läuferin. Er gibt sich dabei als Anführer der Detektive aus, weil er glaubt, durch das Gucken von Real-Crime-Polizei-Dokus bestens vorbereitet zu sein. Allerdings fallen dem einzigen Mädchen der Gruppe, Pari, die deutlich besseren Fragen ein. Auch sonst ist Pari eindeutig die Cleverste der Truppe, hat sie doch aufgrund ihrer guten Schulnoten sogar ein Stipendium für eine Privatschule in Aussicht. Dritter im Bunde ist Faiz, Muslim, mit mehreren älteren Geschwistern. Er sorgt sich sehr um sein Äußeres und arbeitet schon regelmäßig im Basar. Die Geschichte lebt von den sehr unterschiedlichen Charakteren der Drei und besonders amüsant ist die Diskrepanz zwischen Jais Anspruch auf den Posten des Chefdetektivs und seinen Fähigkeiten insbesondere im Vergleich zu Pari, die ihn deutlich in den Schatten stellt.

Das Buch erinnert von der Story natürlich an so Kinderbuchklassiker wie Emil und die Detektive oder Kalle Blomqvist. Die Aufklärung eines Kriminalfalls durch die Kinder ist aber letztlich nicht die Hauptsache, vielmehr ermitteln die Kinder nur Teilaspekte, Kleinigkeiten. Der Roman liefert vor allem einen Einblick ins heutige Indien. Dabei vermitteln die Kinder die lebhaften, bunten, manchmal auch fröhlichen Seiten, allerdings ist von Beginn an klar, dass letztlich die problematischen Seiten Indiens thematisiert werden. Armut, Korruption, Klassenunterschiede, Smog, Konflikte zwischen den Religionen und vor allem die Benachteiligung von Kindern bis hin zu Kindesmissbrauch und Sklaverei. Was mir generell bei solchen Romanen aus Kindersperspektive oftmals ein wenig fehlt, ist die tiefergehende Befassung mit den Themen. Der Blick durch die Augen der kindlichen Protagonisten kratzt manchmal doch nur ein wenig an der Oberfläche. In diesem Roman ist dies insgesamt besser gelöst durch die Vielzahl an Kontakten und Nebenfiguren, mit denen Jai, Pari und Faiz kommunizieren. Die Autorin durchbricht außerdem mehrfach die Erzählperspektive des Ich-Erzählers mit kurzen Kapiteln aus Sicht der Verschwundenen und drei „Geschichten, die dir das Leben retten werden“ – bemerkenswerte Geschichten über Schicksale und Aberglauben quer über die Religionsgrenzen.

Die Detektive vom Bhoot-Basar ist das Debüt der inzwischen in England lebenden Inderin Deepa Anappara. Sie schildert das Leben der drei Freunde lebhaft und voller Sympathie für ihre Protagonisten. Allerdings hatte ich zwischenzeitlich ein wenig das Gefühl, dass die Geschichte trotz weiterer verschwundener Kinder ein wenig auf der Stelle tritt. Es ist der Autorin positiv anzurechnen, dass sie ab dem dritten Abschnitt wieder deutlich an Handlung und Intensität zulegt und auch der Versuchung widersteht, das Buch zu einem Kinderbuch werden zu lassen. Insgesamt war ich dann auch zufrieden über diese authentische Reise mit Jai, Pari und Faiz ins heutige Indien.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Die Detektive vom Bhoot-Basar | Erschienen am 16. September 2019 im Rowohlt Verlag
ISBN 987-3-498-00118-6
400 Seiten | 24.- Euro
Originaltitel: Djinn Patrol on the Purple Line
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Joël Dicker | Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert ♬

Joël Dicker | Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert ♬

Der berühmte Schriftsteller Harry Quebert schrieb vor mehr als 30 Jahren einen Bestseller um eine skandalöse Liebe, lebt aber inzwischen zurückgezogen an der amerikanischen Ostküste in New Hampshire. Sein beschauliches Leben in dem kleinen Städtchen Aurora findet allerdings ein jähes Ende, als bei Gartenarbeiten auf seinem Grundstück die verwitterte Leiche eines jungen Mädchens gefunden wird, die als die seit 30 Jahren verschwundene Nola Kellergan identifiziert wird. Die damals erst 15-jährige Nola verschwand im Sommer 1975 unter mysteriösen Umständen. Offensichtlich auf der Flucht vor einem Verfolger tauchte sie verletzt und blutend im Haus einer älteren Witwe am Waldesrand auf. Die informierte Polizei fand bei ihrem Eintreffen die alte Frau erschossen auf, von Nola fehlte seither jede Spur.

Adieu allerliebste Nola

Bei der Leiche findet sich das Original-Manuskript von Queberts Bestseller „Der Ursprung des Übels.“ Die handschriftliche Widmung „Adieu allerliebste Nola“ lenkt den Verdacht verstärkt auf den 67-jährigen Autor. Er wird verhaftet und des Mordes an dem Teenager angeklagt, mit der er ein Verhältnis gehabt haben soll. Ihm droht die Todesstrafe.

Der einzige, der an Queberts Unschuld glaubt, ist sein ehemaliger Schüler Marcus Goldman. Quebert war sein Uniprofessor und half ihm, nicht nur das Handwerk des Schreibens zu erlernen, sondern entwickelte sich zum Mentor und guten Freund. Goldman lebt inzwischen in New York und nach einem sehr erfolgreichen Debütroman leidet er an einer Schreibblockade. Eigentlich wollte er sich in Harrys Villa zurückziehen, um neue Inspirationen zu finden. Er macht sich sofort auf den Weg nach Aurora und stellt eigene Nachforschungen an. Erst nur um Harry zu entlasten, doch aufgrund des massiven Drucks seines Verlegers beschließt er, die Dinge, die er ans Tageslicht bringt, in einem neuen Buch zu verarbeiten. Mit seinen Ermittlungen wirbelt er in dem kleinen Städtchen viel Staub auf, er wird bedroht und die zutage geförderten Wahrheiten wackeln auch an dem Sockel, auf den er Harry gestellt hatte. So entsteht Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert, der Roman im Roman.

Der raffiniert komponierte Plot besticht durch mehrere Erzählebenen, wobei Dicker mühelos die Kunst beherrscht, nie den Faden zu verlieren und man immer genau weiß, in welcher Zeitebene man sich befindet. Marcus Goldman führt als Ich-Erzähler durch das aktuelle Geschehen. Er erinnert sich an die Zeit, als Harry Quebert ihn, den talentierten aber faulen und von sich total überzeugten Studenten, unter seine Fittiche nahm. Dann gibt es Rückblenden in den Sommer von Nolas Verschwinden, der jeweils aus unterschiedlichen Perspektiven geschildert wird. Daneben gibt es Rückblicke in die noch frühere Vergangenheit, um einzelne Figuren genauer zu beleuchten.

Schmonzette?

Als Pendler konsumiere ich Hörbücher immer auf meinem Arbeitsweg und da sind mir Stoffe zum Abschalten ganz lieb. Es muss nicht so kompliziert sein oder höhere Literatur. Und dafür war das Hörbuch genau das Richtige. Es ist ein Schmöker, aber im besten Sinne, der mich vortrefflich unterhalten hat. Ich weiß nicht wie oft ich vor Verwunderung den Kopf schüttelte, aber sehr häufig drehte ich auch noch eine Extra-Runde, weil ich unbedingt weiter hören wollte.

Joël Dicker jongliert souverän mit einer großen Erzählfreude mit den unterschiedlichen Handlungssträngen. Immer neue überraschende Wendungen und Begebenheiten machen einfach immens großen Spaß. Nichts ist wie es scheint und eine Verblüffung folgt auf die nächste. Es gelingt dem Autor, den Leser immer wieder auf falsche Fährten zu führen und die Wahrheit erst nach und nach aufzudecken. Auch die Seitenhiebe auf die Vermarktungsstrategien des Literaturbetriebs fand ich sehr gelungen und die bigotte Kleinstadt-Atmosphäre sehr authentisch dargestellt.

Amour Fou

Aber an einigen Stellen war es mir zu kitschig, die schwülstigen Liebesschwüre zu floskelhaft und dadurch wirkte die Liebesgeschichte auch zu seelenlos. Manche Charaktere sind überzogen dargestellt, die Dialoge teilweise sehr gestelzt und besonders die Weisheiten, die Harry seinem Schützling einimpft banal und überflüssig. Und bin ich die Einzige, die sich an einer Liebesgeschichte zwischen einem 15-jährigen Teenager und einem mehr als doppelt so alten Mann stößt?

Dass der Ausgang bis zum Schluss offen bleibt, macht den großen Reiz aus. Obwohl es eine Vielzahl von permanenten Wendungen gibt, gelingt es dem Autor diese zum großen Vergnügen des Hörers stimmig aufzulösen.
Der Roman des Schweizer Autors wurde nach seinem Erscheinen 2013 auch in Deutschland sehr gehypt, nachdem er 2012 bereits die französischen Bestsellerlisten gestürmt und sämtliche Preise abgeräumt hatte. Aber erst nachdem die Geschichte als Miniserie mit dem amerikanischen Schauspieler Patrick Dempsey verfilmt wurde, hatte ich es wieder auf dem Schirm. Beim Hören des Hörbuchs hatte ich dann auch immer Dempsey vor Augen.

Torben Kessler trägt die Geschichte mit einer angenehmen Stimme vor und unterhält ganz wunderbar durch die 20 Stunden. Auch wenn er bei den einzelnen Charakteren die Stimme nur minimal variiert.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert | Die 2. Auflage erschien am 13. Oktober 2014 bei OSTERWOLDaudio
ISBN 978-3-8695-224-1
3 MP3-CDs | 14.99 Euro
Gesamtspielzeit: ca. 20 Stunden 21 Minuten
ungekürzte Lesung von Torben Kessler
Bibliographische Angaben & Hörprobe

Weiteres: Trailer zur Miniserie bei TVnow