Kategorie: Kriminalroman

Wolf Haas | Auferstehung der Toten Bd. 1

Wolf Haas | Auferstehung der Toten Bd. 1

Den Brenner, den hast du doch bestimmt schon vermisst? Weil ein Spezial mit Krimis aus Österreich ohne den Brenner, das wäre schon merkwürdig. Um den kommst du nicht herum. Der Brenner ist ja quasi eine Instanz in Österreich. Obwohl man ja schon länger nichts mehr von dem gehört hat. Deshalb an dieser Stelle vielleicht mal ein Rückblick. Wie das damals angefangen hat mit dem Brenner. In Zell.

Von Amerika aus betrachtet, ist Zell ein winziger Punkt. Aber vom Pinzgau aus gesehen: vierzig Hotels, neun Schulen, dreißig Dreitausender, achtundfünfzig Lifte, ein See, ein Detektiv. (Auszug Seite 12)

In Zell am See wird kurz vor Weihnachten ein älteres, amerikanisches Ehepaar erfroren im Sessellift aufgefunden. Simon Brenner ist der Polizeibeamte, der die Ermittlungen leitet, aber ohne Erfolg. Die Person mit dem größten Motiv, der Schwiegersohn des Ehepaars, hat ein Alibi. Nachdem er sich mit seinem neuen Chef überworfen hat, kündigt Brenner und heuert bei einer Detektei an. Diese wird von der Versicherung der Toten beauftragt, die Hintergründe weiter zu ermitteln und so kommt es, dass Brenner nach Zell fährt und dort seine Ermittlungen wieder aufnimmt.

Wolf Haas ist einer der bekanntesten und erfolgreichsten österreichischen Schriftsteller. Zwar veröffentlicht er inzwischen auch Romane abseits des Krimigenres (zuletzt Junger Mann in 2018), aber am bekanntesten ist er noch immer für seine Krimis mit dem Brenner. Die Reihe begann 1996 mit Auferstehung der Toten, als letztes bislang erschien 2014 Brennerova. Innerhalb der Reihe sind die Bände jedoch ziemlich eigenständig, was Handlung und Figuren betrifft. Protagonist ist Simon Brenner, der im ersten Roman gerade bei der Polizei aufgehört hat und sein Heil als Detektiv versucht (zwischendurch probiert er in der Reihe aber noch andere Jobs aus). Brenner ist (in Auferstehung der Toten) Mitte 40, Junggeselle, lernt aber durchaus leicht Frauen kennen. Er ist ein eher ruhiger, langsamer Typ, äußerlich auch eher durchschnittlich, beruflich nicht übermäßig ehrgeizig und nicht entschlussfreudig. Eher hartnäckig als scharfsinnig. Aber gerade dadurch vielleicht beim Leser beliebt. Die Popularität des Brenner hat auch vor der Kinoleinwand nicht Halt gemacht. Vier Romane wurden mit Joseph Hader in der Hauptrolle verfilmt und zählen zu den erfolgreichsten österreichischen Kinofilmen.

„Hier darf alles ein bisserl langsamer gehen.“
Da sind natürlich bei uns alle Leute gleich. Wir mögen es nicht, wenn ein Deutscher unseren Dialekt nachmacht. Dem Brenner ist es da nicht anders gegangen. Und dann noch das „langsam“, praktisch, also es stimmt natürlich, aber wir hören es nicht gern. (Seite 54)

Das eigentlich Originelle an dieser Reihe ist aber das allwissende Erzähler-Ich. Es trägt zwar in Hochdeutsch, aber ziemlich flapsig in einer österreichischen Sprachcharakteristik vor. Es werden Nebensätze als ganze Sätze verwendet, Satzbestandteile umgestellt, Hilfsverben unterschlagen und ähnliches. Ein wenig so wie ich es etwas plump im ersten Absatz versucht habe. Außerdem verlässt der Erzähler immer wieder für Nebensächlichkeiten den eigentlichen Handlungsstrang und lenkt ab. Müsste ich mir das Erzähler-Ich als reale Person vorstellen, käme mir ein älterer Mann im Wirtshaus in den Sinn, der einem auf die Schulter klopft und fragt, ob man die Geschichte vom Brenner kennt und diese dann ausschmückend erzählt. Mir gefällt das, könnte mir aber vorstellen, dass das nicht bei jedem Leser verfängt.

„…Das Vergessen ist eine Gnade, müssen sie wissen. Und diese Gnade hat der liebe Gott den Zellern im Übermaß erwiesen.“ (Seite 141)

Der Roman ist ziemlich kurz, nur knapp 150 Seiten, so dass der eigentliche Krimiplot nicht zu sehr in den Hintergrund rückt (dies ist bei den späteren Brenner-Krimis schon anders). Im provinziellen Zell am See geht es um eine Rachegeschichte, um alte, verdrängte (Familien-)Geheimnisse, was Brenner aber erst nach und nach klar wird. Dazu beerdigt Haas ganz nebenbei auch den Mythos von den Kapruner Stauseen als Symbol der jungen Republik Österreich nach dem 2.Weltkrieg, in dem er die Zwangsarbeiterthematik anspricht. Garniert wird das Ganze mit merkwürdigen Figuren und erzählt in lakonisch-spöttischer Manier mit einigem Schmäh. Haas war damit Vorbild für eine Reihe weitere Autoren aus seiner Heimat, doch im Original verfängt dieser amüsant-satirisch-kritische Stil immer noch am besten.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Auferstehung der Toten | Erstmals erschienen 1996
Die gelesene Taschenbuchausgabe erschien am 1. August 2000 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-499-22831-5
320 Seiten |  10.- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen unseres .17special Blogkooperative: Adventsspezial Österreich.

Kurt Ostbahn | Blutrausch Bd. 1

Kurt Ostbahn | Blutrausch Bd. 1

Kottan und Ostbahn-Kurti, zwei Krimi-Kultfiguren aus Wien

Der österreichische Krimi hat einen festen Platz beim deutschen Publikum erobert, sei es in literarischer Form, sei es als TV-Serie. Immer neue Produktionen unseres südlichen Nachbarn fluten den ohnehin schon übersättigten Markt der Fernseh-Serienkrimis. Das war einmal ganz anders. Der erste und lange Zeit einzige österreichische Kriminalist war der gemütliche, man darf auch sagen bräsige Oberinspektor Marek aus Wien. Den bekamen ab 1963 zunächst nur die ORF-Zuschauer zu sehen, mit einer Ausnahme: In einer Folge der ZDF-Serie Der Kommissar ermittelte Fritz Eckhardt 1970 gemeinsam mit seinem deutschen Pendant Erik Ode. Ein Jahr später wechselte er dann zur ARD und löste seine Fälle fortan innerhalb der Tatort-Reihe sozusagen als ein früher Vorläufer der mittlerweile allgegenwärtigen Regionalkrimis.

Lange Zeit war dies der alleinige Beitrag Österreichs zum Fernsehkrimi, und auch der Buchmarkt verzeichnete wenige Veröffentlichungen aus der Alpenrepublik. Das sollte sich gründlich ändern, zuerst mit einer TV-Produktion, die mittlerweile Kultstatus hat: Kottan ermittelt. Im deutschen Fernsehen liefen die einzelnen Folgen mit gehöriger Verzögerung nach der Erstausstrahlung im ORF und wurden zunächst in den dritten Programmen versteckt. Ab Folge 8 jedoch fungierte das ZDF als Co-Produzent und die Filme wanderten auf den Freitagabend-Sendeplatz. Da waren die Zuschauer aber an die drögen Auftritte von Horst Tappert und Siegfried Lowitz als Derrick und Der Alte gewohnt, eher biedere Krimiunterhaltung mit Ermittlungen in der Münchner Schickeria wie schon beim Kommissar. Entsprechend reserviert bis irritiert und sogar schockiert reagierte ein Teil des Publikums auf die gänzlich andere, völlig überraschende, freche und frische Serie um den Major Adolf Kottan aus dem Wiener Polizeipräsidium. Den verkörperte nach zwei Folgen mit Peter Vogel und drei weiteren mit Franz Buchrieser in der Hauptrolle nunmehr und bis zum Ende mit der neunzehnten Episode Lukas Resetarits, der Kottan schlechthin.

Bereits während der Ausstrahlung der ersten Folge riefen Dutzende aufgebrachter Zuschauer, die den Satire-Charakter des Films, freilich mit Kritik an der Polizeiarbeit, nicht erkannten, beim ORF an und empörten sich über die Verunglimpfung der Gesetzeshüter, witterten Landesverrat und beschimpften, beleidigten und bedrohten Autor und Regisseur. Helmut Zenker und Peter Patzak nahmen das zum Anlass, mit jeder neuen Folge noch eins draufzusetzen. Die späteren Kottan-Episoden waren völlig überdreht und arteten immer mehr zu anarchistischem Spaß aus, Kalauer und Klamauk, Slapstick-Auftritte und eine ganze Palette von Running Gags prägten fortan die Geschichten.

Kottan ist meist grantig, raunzt Jede und Jeden an, wenn auch mit Charme und Schmäh, ist träge oder, netter ausgedrückt, bequem und würde gern eine ruhige Kugel schieben. Aber er muss wohl oder übel immer wieder ran, weil der Sandler Erwin Drballa ständig über Leichen stolpert. Kottans Assistent Alfred Schrammel, stets übereifrig aber völlig überfordert bildet sich mit den Mike-Hammer-Romanen von Mickey Spillane fort. Dezernatsleiter Paul Schremser, nach einer Amputation einbeinig, nutzt seine Krücke schon mal als Maschinengewehr oder als Fußangel für Flüchtende. Polizeipräsident Alfred Pilch befindet sich in beständigem Kampf mit dem widerspenstigen Getränkeautomaten auf dem Flur sowie lästigen Fliegen in seinem Büro und bleibt ewig Verlierer. Der trottelige Polizist Schreyvogel legt gerne die Autos von Parksündern tiefer, indem er mit einem in der Schuhspitze montierten Nagel die Reifen anpiekst.

Ein besonderes Vergnügen sind die Proben von „Kottans Kapelle“, die eine ohnehin reichlich absurde Handlung willkürlich unterbrechen und die drei Kriminalisten als Coverband zeigt, die sich an diversen toll gewählten Rock- und Popsongs abarbeitet. Absolut überspannt: Die beliebte Fernsehansagerin Chris Lohner mischt sich des Öfteren in das Familienleben des Kriminalmajors ein, indem sie sich direkt aus dem TV-Gerät zu Wort meldet oder auch mal von innen an die Mattscheibe klopft, um den eingenickten Kottan aufzuwecken. Der lebt mit seiner Frau und seiner Mutter zusammen, die ständig neue Theorien zum perfekten Mord entwickelt. Eine ganze Riege an skurrilen Figuren taucht mehr oder weniger regelmäßig auf, so die Halbwelt-Größen Horrak und Wasservogel, die immer wieder vergeblich versuchen, Kottan umzubringen. Die Beispiele verdeutlichen, dass hier das komplette Genre parodiert wird, gewohnte Muster ignoriert und eingefahrene Sehgewohnheiten torpediert werden.

So polarisierte Kottan immer mehr. Während sich inzwischen eine riesige Fangemeinde gebildet hatte, wurden den Sendeanstalten die chaotischen Einfälle von Zenker und Patzer irgendwann zu viel und so stellte man die Serie, obwohl noch fertige Drehbücher in der Schublade lagen, 1983 ein (Später erschienen sie als Hörspiel). Erst 2010 in Österreich beziehungsweise 2011 in Deutschland kam Kottan noch einmal zum Einatz – in einem Kinofilm. Die Abenteuer des Majors Kottan erschienen auch in Buchform, als Theaterstück, Comic-Heftchen und zuletzt als E-Book. Lukas Resetarits steht bis heute als Kabarretist auf der Bühne und verteilt in diesem Jahr in seinem siebenundzwanzigsten Programm seit 1977 satirische Seitenhiebe.

Sein Bruder Willi Resetarits verkörpert eine weitere österreichische Kultfigur, er ist der legendäre Ostbahn-Kurti. „Erfunden“ wurde die Figur von Günter Brödl, einem genialen Multitalent als Schriftsteller, Songtexter, Musikjournalist und Radiomoderator. 1979 hatte in seinem Theaterstück Wem gehört der Rock´n Roll? der Ostbahn-Kurti eine Nebenrolle, aber die Figur gefiel seinem Schöpfer so gut, dass er eine komplette Biografie für sie erfand, aus der er immer wieder öffentlichkeitswirksam Bruchstücke in den verschiedensten Medien streute, gipfelnd in einem angeblichen Sold-Out-Konzert der fiktiven Rockband Ostbahn-Kurti & die Chefpartie. Es war der Musiker Willi Resetarits, damals als Sänger Frontmann der erfolgreichen Polit-Rock-Band Schmetterlinge, der fortan dem Phantom Ostbahn-Kurti Gestalt verleihen sollte.

Brödl verfasste wunderbare Songtexte für den Kurti und seine Chefpartie, später für seine Kombo, indem er zahlreiche US-Rocknummern ins Österreichische, genauer ins Wienerische, übertrug. Mit diesem Repertoire produzierte die Band bis 2003 viele erfolgreiche Alben und absolvierte zahllose umjubelte Auftritte auf ständigen Tourneen. Brödl war Bestandteil der Kapelle, war bei jedem Auftritt dabei, kümmerte sich als „Trainer“ um das seelische Gleichgewicht der Bandmitglieder und sorgte als Berater in allen Lebenslagen für eine intakte Gruppendynamik. In dieser Funktion hat Brödl eine tragende Rolle in den Kriminalromanen um Kurt Ostbahn, die er selbst seit 1995 verfasste. Es begann mit Blutrausch, einem fulminanten Auftakt der Reihe mit spektakulärem Plot.

Eine breite Palette unterschiedlichster Figuren haben ihren mehr oder weniger großen Auftritt, ungewöhnliche Wirte und ihre seltsamen Gäste, leichte Mädchen und schwere Jungs, kleine Ganoven und brutale Killer, schräge Vertreter der Exekutive, Fetischisten und Mitglieder einer erlesenen SM-Szene, aber auch gediegene Herren und sensationelle Frauen. Man merkt, hier erwartet den Leser ein Abenteuer, das die dunkelsten Seiten seiner Beteiligten offenbart und in menschliche Abgründe blicken lässt. Und all diese Menschen hat sich der Kurt Ostbahn nicht etwa ausgedacht, nein, denen ist er wirklich und wahrhaftig samt und sonders begegnet, es sind leibhaftige, mehr oder minder bekannte Persönlichkeiten lediglich die Namen sind geändert und das eine oder andere dazu erfunden, so dass nicht immer klar ist, was Dichtung ist und was Wahrheit. Ostbahn verrät, dass er und Brödl Dichtung und Wahrheit im Verhältnis 1:1 mischen.

Erzählt wird ausschließlich aus dem Blickwinkel des Ich-Erzählers, eben Kurt Ostbahn. Der spricht mitunter den Leser auch direkt an, dann in durchaus gewähltem Hochdeutsch, vor allem aber redet er, wie man in seinem Gemeindebezirk eben redet: in einer Sprache, die einfach ist und geradeheraus, die sich an der tatsächlich gesprochenen, an der Umgangs- oder Alltagssprache orientiert, nicht ohne originelle, witzige und feinsinnige Bilder allerdings. Es geht tatsächlich vor allem, eigentlich ausschließlich, um den omnipräsenten „Doktor“ Kurt Ostbahn, alias Ostbahn-Kurti, Kurtl oder Herr Kurt, je nach Gesprächspartner. Und es geht um die bizarren Begebenheiten, die ihm im wohlverdienten Urlaub widerfahren und die er als Erlebnisbericht dem Kassettenteil seines alten Ghettoblasters anvertraut, der Trainer macht anschließend aus diesem Protokoll etwas Lesbares. Der dritte im Bunde ist Doktor Trash, im wahren Leben der Brödl-Intimus Peter Hiess, Journalist und Autor, und so wie der Trainer ein wandelndes Rockmusik-Lexikon ist und profunder Kenner des Musikgeschäfts, so ist der Doc Liebhaber von (literarischem) Mord und Totschlag und mit Serienkillern und Massenmördern auf Du und Du. Die beiden stehen dem Kurtl mit Rat und Tat zur Seite, denn der ist da in ane blede Gschicht geraten.

Eigentlich wollte sich der Rockmusikant nach einer Tournee mit seiner Kombo ausruhen, auf der Bettbank liegen und über die Tücken des Leben sinnieren, stattdessen begegnen ihm unvermittelt Mord, Totschlag und Perversionen aller Art. Insofern verspricht der Romantitel nicht zu viel, es sind schon grauslige Geschehnissen, in die der Kurtl und seine Freunde verwickelt werden, und sie werden schonungslos geschildert, allerdings immer auch mit einem kleinen Augenzwinkern. Hier zeigt sich der ganz spezielle, morbide Humor der Wiener, und man ahnt, all diese überspitzt dargestellten Grausamkeiten, die vielen brutalen Zwischenfälle, das alles ist offensichtlich nicht ganz ernst gemeint. Entsprechend formuliert der Kurt Sätze, die einen beim Lesen unwillkürlich schmunzeln lassen, entwirft übergangslos immer wieder einmal Sprachbilder, die dem Leser automatisch ein lautes Lachen entlocken. Aber der Reihe nach.

Der Kurtl muss beim Herrn Josef in seinem Stammlokal, dem Café Rallye, einem grindigen Tschocherl, also einer abgeranzten Spelunke, in seinem Wiener Hieb Fünfhaus miterleben, wie ein Wickel zwischen den beiden einzigen Gästen blutig endet und der Urheber des Streits, der drogensüchtige Wickerl, vom Wirt vor die Tür gesetzt wird. Wenig später findet der Kurtl auf dem Heimweg eben jenen Wickerl fürchterlich zugerichtet tot am Wegesrand, waidmännisch aufgebrochen, das Herz herausgerissen. Es stellt sich heraus, dass ihn die „Sex-Metal-Band“ Mom&Dead als Bassisten herausgeworfen hat und er sich daraufhin bei krummen Geschäften mit Raubkopien wohl mit Partnern angelegt hat, die eine Nummer zu groß für ihn waren und augenscheinlich wenig zimperlich. Am nächsten Morgen stehen zwei Herren von der Kriminalpolizei vor der Tür des Herrn Dr. Ostbahn. Die Blutspur des ermordeten führte zurück zum Rallye, und die Gästeliste des Abends war ja nicht lang. Also ist der Kurtl ein Verdächtiger und so versucht er mit Hilfe von Trainer und Doc auf eigene Faust, die Wahrheit herauszufinden.

Dabei wird er kurz abgelenkt, denn er verliebt sich in die sensationellste Frau, die jemals das Rallye betreten hat, Marlene, Gattin eines schwerreichen Hotel-Tycoons, auf Inspektions-Tour in den Europäischen Residenzen des Mr. Thompson. Kaum ist man sich, zunächst in Kurtls bescheidener Behausung – später in ihrer Suite im Palace – näher gekommen, ist sie auch schon wieder verschwunden, abgereist ohne sich zu verabschieden.

Damit nicht genug, kurz darauf wird der Herr Josef schwer verletzt, sein Ziehsohn Rudi umgebracht, aufgeschlitzt vom vermutlich selben Täter, der den Wickerl abgeschlachtet hat. Wickerl war nicht nur Bassist bei Mom&Dead, er hatte auch eine Beziehung zur Sängerin der Band, Donna, vulgo Elfriede Tomschik. Donna, so erfahren die Amateur-Ermittler, war das Aushängeschild eines dubiosen, sektenartig organisierten US-Unternehmens, das Sexspielzeug und Fetischartikel vertreibt. Der Kurtl lernt Donna im Anschluss an ein Konzert ihrer Gruppe kennen und staunt nicht schlecht: Sie hat mittlerweile einen neuen Freund, Gily. Der ist niemand anders als Gilbert Thompson, Marlenes psychisch labiler Sohn und Zwilling von Sarah. Sachen gibt’s.

Vor allem aber gibt es schon wieder einen Toten. Steve, Manager bei Donnas Plattenfirma. Als man ihn findet, hat auch er kein Herz mehr. Es wird Zeit, dem mörderischen Treiben Einhalt zu gebieten. Einer Allianz der drei Freunde mit den beiden Polizisten und Donna gelingt das schließlich, nachdem der „Schlächter von Sechshaus“ noch einmal sein Messer gezückt und ein finales Blutbad angerichtet hat.

Es ist also eine Menge los in dieser Geschichte von Sex, Drugs, Rock ’n‘ Roll und Crime. Da wird viel gepudert, (auch die Nase), heftig geraucht (und nicht nur Zigaretten), und es wird gesoffen, jede Menge Bier, Fernet und Scharlachberg, es gibt Musik von Willie Nelson bis Sex-Metal? – und es gibt natürlich Leichen, bestialisch niedergemetzelt und fürchterlich zugerichtet.

Die Story macht dem reißerischen Romantitel insofern alle Ehre, aber es geht dabei nicht in erster Linie um die grausamen Morde, die besondere Stimmung zwischen gelöst und gereizt, von beschaulich bis bedrohlich macht den Charme des Romans aus, vor allem natürlich die spezielle Ausstrahlung des Herrn Kurt, sein meist souveränes Auftreten, seine lockere Art, die uns ahnen lässt, der packt’s eh, kurz gesagt, sein Schmäh. Schlagfertig pariert der Kurtl alle Angriffe und Anwürfe mit lässig hingeworfenen, oft geistreichen Retouren, der Kurtl hat auf alles eine Antwort und ist fast jeder Situation gewachsen. Mit Ironie und Selbstironie begegnet er allen Widrigkeiten des Alttags und erträgt die Misslichkeiten des Daseins mit Leichtigkeit.

Natürlich ist das keine große Literatur, möglicherweise auch weniger interessant für Leser, die keinerlei Kenntnis über das Ostbahn-Universum besitzen. Für alle Kurtologen aber ganz sicher eine vergnügliche und spannende Lektüre, die eine Begegnung mit vielen Personen bereithält, die in der Wiener Gesellschaft tatsächlich bekannt sind, und die für manche eine heimelige Atmosphäre erzeugen wird, weil der lokale Einschlag mit seiner authentischen, kenntnisreichen Schilderung der Örtlichkeiten und seiner besonderen Bewohner entweder Neues entdecken oder Altbekanntes wiedererkennen lässt und in Umgebungen führt, die der Wien-Tourist sicher nicht zu Gesicht bekommt. Alles in allem eine vergnügliche Lektüre auf vier-Sterne-Niveau, das von den nachfolgenden Krimis um Kurt Ostbahn nicht mehr ganz erreicht wird.

 

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

Blutrausch | Erschienen am 3. März 2009 im Milan Verlag
ISBN 978-3-85286-173-9
232 Seiten | 14.50 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Die Verfilmung erschien am 20. November 2009, Produktionsjahr 1997
1 DVD | ca. 7.- Euro
Laufzeit: 90 Minuten
FSK 18
Filmtrailer

Diese Rezension erscheint im Rahmen unseres .17special Blogkooperative: Adventsspezial Österreich.

Simone Buchholz | Hotel Cartagena Bd. 9

Simone Buchholz | Hotel Cartagena Bd. 9

Diese Bar hier macht so sehr einen auf Ausblick, dass ich eigentlich keinem Drink, den ich nicht selbst gemixt habe, über den Weg trauen sollte. Zu viel aufdringliche Schönheit, zu viele Sieh-mich-an-Sachen, zu viel Ablenkung. (Auszug Seite 15)

Die Ausgangssituation des 9. Bandes der Chas-Riley-Reihe könnte aufregender und verheißungsvoller nicht sein. Der ehemalige Hauptkommissar Faller feiert seinen 65. Geburtstag ganz groß in einem Nobelhotel am Hamburger Hafen. Und sie sind alle gekommen, die ganze Bagage rund um Staatsanwältin Chastity Riley und sitzen nun beim Cocktail, hoch oben im 20. Stock in der Hotelbar. Auch wenn Chas findet, dass sie hier eigentlich nicht richtig reinpassen. Nur Ivo Stepanovic vom LKA und Chas aktueller Lover verspätet sich etwas.

Es ist mir ein Rätsel, warum der Faller seinen Geburtstag ausgerechnet hier feiern muss, wir passen doch schlechter an so einen Ort als ein Rudel Straßenköter in einer Plastiktüte, warum stehen wir nicht im Silbersack am klebrigen Tresen und trinken Flaschenbier, warum sitzen wir nicht in einer dunklen Pizzeria und sind laut … (Seite 15)

Wir haben hier eine Situation

Dann stürmen ein Dutzend schwerbewaffnete Geiselnehmer die Bar und bringen alle Gäste sowie das Personal in ihre Gewalt. Forderungen werden keine gestellt, so dass das Motiv der Geiselnahme lange Zeit rätselhaft bleibt. Aus der Perspektive von Riley beobachtet der Leser die Geschehnisse, die sich immer mehr zuspitzen. Während unsere Heldin in diesem Ausnahmezustand am Anfang noch versucht, einen Kontakt zu dem charismatischen Anführer aufzubauen, kommt es wegen einer sich entzündenden Schnittverletzung zu einer Blutvergiftung und ihre Wahrnehmungen werden zunehmend getrübter.

In einem zweiten Erzählstrang geht es rückblickend um das Schicksal von Henning Garbarek, der auf St. Pauli in ärmlichen Verhältnissen ohne große Zukunftsperspektiven aufwächst. Henning ist ein kluger Junge und sieht für sich keine Hoffnung auf dem Kiez. Die Sehnsucht nach einem anderen Leben ist so groß, dass er eines Tages Mitte der 80er Jahre ziemlich spontan auf einem Schiff Richtung Südamerika anheuert und wenig später in Cartagena, Kolumbien an Land geht. Und zuerst läuft es auch gut für ihn, er findet Arbeit, Freunde und gründet eine Familie. Aber dann gerät er an die falschen Leute und wird zum Mittelsmann eines kolumbianischen Drogenbosses. Nachdem er jahrelang jede Menge nicht ganz saubere Kohle verdient hat, kommt es unwiderruflich zur Katastrophe.

Wo die jungen Leute sich hier treffen? Am Strand. Wo er Arbeit finden könnte? Am Strand. Wo er günstig essen könnte? Am Strand. Worauf er achten müsste, wegen Gefahren und so? Auf das Treiben am Strand. (Seite 36)

Während erst nach und nach klar wird, wie die dramatische Schicksalsgeschichte von Henning mit der Geiselnahme zusammenhängt, überlegt sich Ivo Stepanovic einen waghalsigen Befreiungsversuch. Er gesellt sich vor dem Hotel zu den versammelten Einsatzkräften und wird kurzerhand zu den Verhandlern gesteckt.

In Hotel Cartagena spielen die bekannten Charaktere fast nur eine Nebenrolle, denn die Geschichte, die Simone Buchholz hier auf etwas mehr als 200 Seiten aufblättert, ist eher eine 80er Jahre Koksgeschichte. Und mein einziger kleiner Kritikpunkt ist dann auch folgender: Dass sich unter den Geiseln zufälligerweise ein eingespieltes Team von Kriminalbeamten befindet, oder LKA-Mann Ivo Stepanovic von außen operieren kann, spielt für den Krimi-Plot überhaupt keine Rolle. Dieser ist raffiniert und klug inszeniert, die bedrohliche Situation wird immer verfahrener und langsam läuft es in beiden Erzählsträngen auf eine Eskalation raus. Aber Chastity kann ihren inneren John McClane gar nicht aktivieren, wie im Klappentext vollmundig versprochen wird, da sie das Geschehen durch die Blutvergiftung in einem Fiebertraum fast handlungsunfähig miterlebt.

Nur ein kleiner Kritikpunkt denn ich rauschte nur so durch die kurzen Kapiteln bis zum großen Showdown. Buchholz besticht wieder mit messerscharfen, schnoddrigen Dialogen, die auf den Punkt geschrieben sind. Fasziniert hat mich die Mischung aus Ironie, stakkatohaftem Schreibstil und dann wieder Melancholie und poetische, fantasievolle Sprachbilder, die sie kreiert.

Vermutlich ist er der einzige im Raum, der mit jeder Faser seines Herzens weiß, wie unübersichtlich nicht nur ich bin, sondern wir alle sind, ja sogar alle Menschen auf der ganzen verdammten Welt. Der Faller weiß um den großen Knoten, den wir bilden und den ich manchmal nur erahnen kann, wenn ich an jemandem vorbeistolpere und dabei eine Hand zu fassen kriege und die kleinen Risse, die Beschädigungen in der Oberfläche spüre und denke: wow, du auch? (Seite 17)

Die Autorin pfeift auf alle Krimiregeln und zieht ihren eigenwilligen, lässigen Erzählstil kompromisslos durch. Es geht hier nicht um das klassische Falllösen. Es finden keine Ermittlungen statt und die Aktionen der Polizei sind auch eher Nebenschauplätze. Simone Buchholz interessiert sich sehr viel mehr für ihre Charaktere mit ihren Ecken und Kanten und hat einen ganzen Haufen ambivalenter Figuren – ja Freaks – am Start, wobei der Fokus auf der sperrigen Staatsanwältin liegt. Viele ihrer Ideen habe ich gefeiert, wie um mal beispielhaft das Kapitel Columbohaftigkeit zu nennen, in dem Stepanovic auf einen der Verhandler trifft und die beiden sich erst mal wie Westernhelden abtaxieren. Fast schon zu cool!

Ich finde Simone Buchholz läuft hier zur Hochform auf, und ich habe diesen Kriminalroman abseits des Mainstreams sehr genossen.  Das Coverbild ist wieder von ihrem Freund Achim Multhaupt dem Retro-Look der 80er Jahre nachempfunden und reiht sich stilistisch perfekt in die Reihe der letzten vier im Suhrkamp-Verlag erschienen Bände ein.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Hotel Cartagena | Erschienen am 29. September 2019 bei Suhrkamp
ISBN 978-3-518-47003-9
228 Seiten | 15.95 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Auch bei uns: Rezensionen zu den Romanen Blaue Nacht und Mexikoring (Bd. 8) von Simone Buchholz.

Rezensions-Doppel: Garry Disher | Hitze & Kaltes Licht

Rezensions-Doppel: Garry Disher | Hitze & Kaltes Licht

Die monatliche Krimibestenliste ist natürlich eine Zusammenstellung ausgewählter Kritiker, unabhängig von tatsächlichen Verkaufszahlen und dementsprechend auch nicht dem Krimimainstream verpflichtet. Für den gut informierten und belesenen Krimifan ist sie natürlich eine gewisse Referenz. Auf eben dieser Krimibestenliste steht nunmehr im vierten Monat in Folge ein Autor, was bei der relativ schnelllebigen Liste äußerst bemerkenswert ist. Garry Disher hat dieses Kunststück mit zwei Büchern geschafft, zunächst mit Kaltes Licht, welches dann von Hitze abgelöst wurde.

Zum Autor selbst: Jahrgang 1949, geboren und aufgewachsen im ländlichen Südaustralien. Er lebt heute auf der Mornington-Halbinsel südlich von Melbourne, dem Schauplatz seiner Kriminalreihe um Inspektor Hal Challis. Mit dieser Reihe und der Serie um den Berufskriminellen Wyatt wurde Disher auch hierzulande bekannt. Er schreibt allerdings nicht nur Krimis, sondern auch Romane, Sachbücher und Kinder- und Jugendbücher. Neben seinen Krimireihen veröffentlicht er auch Stand Alones.

Außerhalb der Heimat ist Disher vor allem in den deutschsprachigen Ländern erfolgreich, womit Disher durchaus kokettiert (In einem Interview meinte er, die Anfangsszene aus Kaltes Licht mit der Schlange habe er für seine deutschen Leser eingebaut, die sich doch bestimmt vor Schlangen fürchten)1. Ich hatte 2016 die Gelegenheit, Disher bei einer Lesung zu erleben. Ein zurückhaltender, bodenständiger, sehr sympathischer Mann. Er selbst meinte unlängst, dass ihn die Buchlesungen hier sehr gefallen (und erzählt von einigen sehr deprimierenden Buchsignierungen in der Heimat). Höfliches Publikum, ein Moderator stellt Fragen, er selbst liest in Englisch, ein bekannter Schauspieler die deutsche Übersetzung und er stellt sich etwas amüsiert die Frage, ob er überhaupt die Hauptperson sei, wegen der alle gekommen sind. In 2020 wird Garry Disher wieder in Deutschland erwartet. Zeit genug, vorher diesen hervorragenden Schriftsteller wieder- oder neu zu entdecken. Zeit für eine Doppelrezension.

Garry Disher | Hitze

Wyatt bräuchte mal wieder etwas Geld. Doch die Not ist nicht so groß, als dass er sich mit einem Haufen unprofessioneller Hitzköpfe zu einem Überfall auf einen Geldtransporter hinreißen ließe. Der Coup findet ohne ihn statt und hat in der Folge unangenehme Nachwirkungen – auch auf ihn. Stattdessen wendet sich Wyatt einem interessanteren Job an der sonnigen Gold Coast im Nordosten Australiens zu.

Ein Vermittler bringt ihn mit der Klientin Hannah Sten zusammen, die ihn engagiert, ein Gemälde aus dem Haus eines Investmentbankers zu stehlen. Angeblich Raubkunst aus der Zeit der Nationalsozialisten, damals im Besitz ihrer Familie. Die Eigentumslage ist aber nicht so eindeutig, so dass der aktuelle Eigentümer die Sache einfach aussitzt. Einiges ist bereits ausgekundschaftet, unter anderem, dass das Haus zum Zeitpunkt des Diebstahls definitiv leer wäre. Wyatt nimmt den Job an und sein Vermittler Minto empfiehlt ihm die Zusammenarbeit mit seiner Nichte Leah Quarrell. Diese ist Immobilienmaklerin und kann das Haus mit dem Gemälde einfacher auskundschaften. Wyatt lässt sich eher widerwillig darauf ein, nicht wissend, dass Leah eigene Pläne schmiedet.

Wyatt neigte nicht zur Selbstreflexion. In ihm regierte nur ein schlichter Antrieb: ein Objekt von Wert auszumachen und es stehlen. (Seite 106)

Dieser Wyatt erinnert natürlich sofort an einen weiteren großen Gangster der Kriminalliteratur: Parker aus der Feder Richard Starks alias Donald E. Westlake. Und das ist auch so gewollt, denn Garry Disher verleugnet gar nicht das große Vorbild. Und tatsächlich ist Wyatt so etwas wie ein australischer Verwandter von Parker. Ein vornamenloser Gangster, der sein eigenes Ding durchzieht und sich, wenn es darauf ankommt, nur auf sich selbst verlässt. Genau wie sein Vorbild strahlt er eine große Abgeklärtheit und Professionalität aus. Gewalt wird nur im Notfall angewendet und ist eigentlich zu vermeiden. Die größte Gefahr für Wyatt geht dann auch in diesem Fall weniger von der Polizei als von der eigenen Zunft aus, für die Loyalität ein Fremdwort geworden ist und die mehr auf Aggression als auf Finesse baut. Und dennoch ist Wyatt nicht einfach ein Abziehbild von Parker. Bei aller Coolness wirkt er eine Spur empathischer und besonders in diesem Roman auch melancholischer.

Collingwood war sein Geburtsort, wo er gekämpft hatte, gelernt hatte, abzuwarten und nachzudenken, bevor er tätig wurde. Wo man ihm nichts gegeben und er es sich deshalb genommen hatte. Aber das war nur eine frühe Phase seines Daseins gewesen, kein Kapitel in einer Geschichte. Er hatte keine Geschichte, es sei denn, man könnte eine hervorzaubern auf Grundlage der Tatsache, dass er jetzt existierte und zuvor nicht existiert hatte. Und eines Tages nicht mehr existieren würde. (Seite 161)

Hitze ist inzwischen der achte Wyatt-Roman (der neunte ist im Original bereits erschienen) und die Reihe hat nun fast dreißig Jahre auf dem Buckel. Dabei hat sich Disher aber einen lakonischen und schnörkellosen Stil erhalten. Die Handlung ist präzise, verzichtet fast völlig auf Nebenstränge und bietet einen intensiven Blick auf Schauplatz und Figuren. Wer auf geradlinige Gangsterromane steht, der kommt an diesem Wyatt definitiv nicht vorbei.

 

Hitze | Erschienen am 30. August 2019 bei Pulp Master
ISBN: 978-3-92773-495-1
278 Seiten | 14.90 Euro
Originaltitel: The Heat
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Genre: Gangsterroman
Wertung: 4.0 von 5.0

 

Garry Disher | Kaltes Licht

Das Buch beginnt mit der oben erwähnten Anfangsszene. Eine Schlange schlängelt sich über die Veranda und den Rasen vor einem Haus in einem Ort in der Nähe von Melbourne. Sie verschwindet unter einer Betonplatte auf dem Grundstück. Der besorgte Familienvater ruft einen Schlangenfänger, der die Platte aufstemmen lässt. Doch unter der Platte kommt nicht nur das Kriechtier zum Vorschein, sondern auch eine skelettierte Leiche eines jungen Mannes. Ein Fall für die Cold-Cases-Einheit.

Sergeant Alan Auhl und seine Kollegin Claire Pascal suchen nach einer vermissten Person, die vorher dort gelebt hat, stoßen bei ihren Nachforschungen aber immer wieder auf Erinnerungslücken, Halbwahrheiten und Lügen. Schließlich ermitteln sie, dass der Ermordete selbst vor knapp zehn Jahren in Verdacht stand, seine Freundin erschossen zu haben und danach spurlos verschwunden war. Nun muss sich damals alles ganz anders abgespielt haben.

Währenddessen beschäftigen Alan Auhl zwei weitere Dinge. Ein weiterer alter Fall ploppt auf: Damals konnte Auhl dem Arzt Alec Neill nichts nachweisen, als zwei seiner Ehefrauen unter mysteriösen Umständen verstarben. Nun beschuldigt Neill plötzlich seine dritte Ehefrau, seine Geliebte getötet zu haben, was bei Auhl tiefes Misstrauen hervorruft und er sich in einen Fall einklinkt, mit dem er eigentlich nichts zu tun hat. Außerdem ist eine von Auhls Mieterinnen in argen Nöten. Neve Fanning lebt mit ihrer Tochter von ihrem gewalttätigen Mann getrennt, angezeigt hat sie ihn allerdings nie. Als sie nun die Besuchszeit ihres Mannes mit der Tochter Pia weiter einschränken will, dreht ihr Mann einfach den Spieß um und zieht vor Gericht alle Register, um Neve zu diskreditieren. Auhl fühlt sich verpflichtet, Neve Fanning zu helfen.

Es wurde immer später, und Auhl brütete vor sich hin. Männer wie Kelso, Fanning -Alec Neill. Ihre Anmaßung, ihre Vetternwirtschaft, ihre Macht, ihr Gefühl, ein Anrecht auf etwas zu haben. Erstschlagsmänner: Sie packten die Gelegenheit beim Schopfe, während der Rest der Welt alles erst durchdachte. (Seite 117)

Vor drei Jahren erschien mit Bitter Wash Road ein erster Stand-Alone-Krimi aus der Feder Garry Dishers. Obwohl hochgelobt, hat Disher relativ schnell betont, dass er daraus keine Serie entwickeln wolle. Wie es nun mit diesem vorliegenden Roman und seinem Protagonisten Alan Auhl aussieht, bleibt abzuwarten. Anknüpfungspunkte zu einer Weiterentwicklung sind auf jeden Fall vorhanden. Seine Hauptfigur ist ein Mann Mitte Fünfzig, von seiner Ehefrau getrennt lebend, wobei man sich aber durchaus noch sieht und auch gelegentlich etwas Intimeres unternimmt. Alan Auhl war lange Jahre Ermittler bei der Mordkommission und hatte sich eigentlich in den Ruhestand verabschiedet. Nun sucht er wieder die Herausforderung und wurde wieder eingestellt, um Cold Cases zu bearbeiten. Die Kollegen reagieren distanziert bis abweisend, behandeln Auhl wie einen Versehrten. Erst nach und nach kann Auhl durch gewissenhafte Arbeit die Ressentiments abschwächen. Vor allem für die Kollegin Claire Pascal wird er zu einem wichtigen Ansprechpartner, sie mietet in einer Ehekrise sogar ein Zimmer in dessen Haus. Auhl besitzt ein großes Haus, in dem er mit seiner erwachsenen Tochter wohnt und die zahlreichen weiteren Zimmer weitervermietet. Dort gibt es so etwas wie ein offenes Haus, man trifft sich ab und zu zum gemeinsamen Essen in der großen Küche. So kommt Auhl in Kontakt mit den Mietern, z.B. mit Neve Fanning. Er ist ein eher zurückhaltender Typ, höflich, freundlich, hilfsbereit. Auf der Arbeit gewissenhaft und ein intelligenter Ermittler, mit einem starken Sinn für Gerechtigkeit. Und dieser Gerechtigkeitssinn ist es auch, was diesen ansonsten anfangs etwas bieder wirkenden Mann im weiteren Verlauf so interessant macht. Auhl kennt genau die Grenzen zwischen Recht und Gerechtigkeit, aber inzwischen ist er an einem Punkt angelangt, an dem er die Grenzen überschreitet, um Gerechtigkeit walten zu lassen. Und im Verlaufe des Buches ist der Leser überrascht, wie weit Auhl diese Grenze übertreten wird.

Kaltes Licht ist ein klassischer Ermittlerkrimi, ein Police Procedural (Polizeiroman) und zwar einer, der die Polizeiarbeit genau betrachtet. Somit wird der Fall mit der Leiche unter der Betonplatte zwischendurch übergelagert von anderen Fällen, von Privatem – und dennoch kehrt der Fall am Ende selbstverständlich zurück und wird zu einem logischen Ende gebracht. Was mich an Garry Disher immer wieder begeistert, ist diese natürliche Leichtigkeit und Authentizität seiner Romane. Sein Stil ist präzise und elegant (auch im Deutschen dank der gewohnt guten Übersetzung durch Peter Torberg), seine Figuren und Milieus tief und glaubwürdig, seine Plots komplex, aber immer durchdacht. Nicht wenige Kritiker halten Disher für einen der besten Kriminalschriftsteller der Welt. Und dieses Champions-League-Niveau kann er auch mit Kaltes Licht bestätigen. Ein rundum überzeugender Roman, ein Jahreshighlight. Und ein bisschen gespannt darf man sein, ob man von diesem Alan Auhl nochmal etwas hört bzw. liest.

 

Kaltes Licht | Erschienen am 15. Juli 2019 im Unionsverlag
ISBN: 978-3-29300-550-1
320 Seiten | 22.- Euro
Originaltitel: Under the Cold Bright Lights
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Genre: Krimi
Wertung: 4.5 von 5.0

 

Rezensionen und Foto von Gunnar Wolters.

Auch bei uns: Rezension zu Bitter Wash Road sowie ein Bericht von der Lesung in Hamm, Rezension zu Drachenmann, außerdem Hommage: Gier von Garry Disher

Weiterlesen: Interview von Alf Mayer mit Garry Disher im Crimemag, zwei Artikel von Garry Disher im Guardian

Francis Durbridge | Paul-Temple Die große Box ♬

Francis Durbridge | Paul-Temple Die große Box ♬

Sechs Hörspiele in den Original-Radiofassungen

Heutzutage sind die meisten Protagonisten eines Krimis, die Ermittler, Detektive oder Kommissare oft irgendwie beschädigt, kaputt oder zumindest traumatisiert. Sie kämpfen mit Alkohol- und Drogenproblemen, ihren inneren Dämonen oder sind zumindest etwas schrullig.

Beim Morpheus!

Ein ganz anderes Kaliber ist der fiktive Kriminalschriftsteller und Hobbydetektiv Paul Temple, der Ende der 1930er Jahre von dem britischen Schriftsteller Francis Durbridge erfunden wurde. Der kultivierte Gentleman löst seine Fälle mit lässigem Charme, ist scharfsinnig, souverän und bleibt einfach immer smart. Es kommt höchstens mal ein „Beim Morpheus!“ wenn er überrascht wird.

Ihm zur Seite steht Steve, seine zauberhafte, stets gut gelaunte, immer topmodisch gekleidete Ehefrau. Als Sidekick für humorige, geschliffene Dialoge unverzichtbar! Paul ist als Schriftsteller sehr erfolgreich und so gehören die Temples eher zur Upperclass und können sich in ihrer Londoner Wohnung einen Diener leisten. In jeder Folge dabei ist der britisch stocksteife Charlie mit den flapsigen Ausdrücken. Temple arbeitet eng mit Scotland Yard zusammen und Sir Graham Forbes bittet ihn oft um Unterstützung und bringt ihm die Fälle praktisch ins Haus. Und das würde ich doch auch machen, denn Paul löst die richtig verzwickten Fälle.

„Oh Paul, er ist in einem fürchterlichen Zustand!“

Verschiedene Zutaten findet man in leicht abgeänderter Form in jeder Folge. Das sind zum Beispiel der ominöse Nachtclub, das einsame Landhaus oder der geheimnisvolle Megaverbrecher, den noch keiner gesehen hat und jeder nur unter seinem Pseudonym kennt. Oft ruft eine Person Temple an und will etwas Wichtiges zur Aufklärung mitteilen, aber auf keinen Fall sofort am Telefon. Es wird ein Treffpunkt vereinbart, und man kann davon ausgehen, dass die Person vorher beseitigt und oft vom Ehepaar Temple aufgefunden wird. Fast inflationär oft fällt dann von Steve der Satz: „Oh Paul, er / sie / das Opfer / die Leiche ist in einem fürchterlichen Zustand.“ Immer steht ein gewöhnlicher, aber für den Fall mysteriöser Gegenstand im Mittelpunkt, um den sich der Hörer die meisten Gedanken machen kann.

In Paul Temple und der Fall Vandyke führt eine Puppe die Temples nach Paris, wo sie nach einem verschwundenen Baby suchen und einen Drogenhändlerring ausheben, dabei wird eine handgeschriebene Notiz mit dem Vermerk: „Ein Mr. Vandyke hat angerufen; keine Bestellung hinterlassen“ gefunden.

In Paul Temple und der Fall Jonathan verwundert neben einem Siegelring eine Postkarte mit dem Text: „Wir amüsieren uns glänzend. Viele Grüße Jonathan“, die neben der verstümmelten Leiche eines amerikanischen Studenten gefunden wird.

In Paul Temple und der Fall Madison gibt ein verschwundener Penny an einer Uhrenkette Grund für Spekulationen. Bei dem Fall um einen undurchsichtigen Privatdetektiv namens Madison geht es um Erpressung und eine große Falschmünzerbande.

Als Paul und Steve in Paul Temple und der Fall Spencer den Mord an einer jungen Schauspielerin untersuchen, hilft ihnen als Anhaltspunkt eine mysteriöse Schallplatte in der Londoner Wohnung der Toten mit dem Begleitschreiben: „Es war ein Genuss! Herzlichst Spencer“.

Ein blaues Kleid und einige Cocktailstäbchen bringen den charmanten Detektiv in Paul Temple und der Fall Conrad auf die richtige Spur. Hier verschwindet die Tochter eines berühmten Psychiaters aus einem bayrischen Eliteinternat.

In einem Mantel der Firma „Margo“ gehüllt wird in Paul Temple und der Fall Margo die Tochter eines amerikanischen Verlegers tot aus der Themse gezogen.

Für die Begrüßung nehmen sich alle immer viel Zeit, wobei „Hello“ lustigerweise immer englisch ausgesprochen wird. Bei all den kriminellen Machenschaften bleibt auch immer noch Zeit für einen Drink oder zwei. Zum Schluss treffen sich alle Verdächtigen oft zum gepflegten Drink am Abend und Paul Temple entlarvt den Täter.

Aber es gibt auch unterhaltsame Actionszenen, zum Beispiel in Paul Temple und der Fall Madison wird Steve auf einen Kabinenkreuzer verschleppt und kann sich ganz knapp auf einem Polizeiboot in Sicherheit bringen, bevor eine Bombe detoniert. In Paul Temple und der Fall Vandyke entgeht das Ehepaar Temple nur knapp einem Attentat in einem Pariser Straßencafé, in Paul Temple und der Fall Conrad werden sie in den bayerischen Alpen von der Straße abgedrängt und in dieser Folge war für mich auch einer der spannendsten Szenen, als Paul sich mit einem Informanten in einer alten Lagerhalle am Nordufer der Themse trifft, diesen sterbend vorfindet und nachdem ein Feuer ausbricht sich nur durch einen Sprung in die Themse retten kann.

Paul Temple war sein Durchbruch

Francis Durbridge hatte die Krimis rund um Paul Temple nur fürs Radio konzipiert, es gab keine Romanvorlage. Der britische Autor achtete beim Schreiben speziell auf Spannung und Effekte für den Hörer und das Publikum musste immer nach einem spektakulären Cliffhanger eine Woche auf die Fortsetzung warten. Während heute alle Toneffekte digital hinzugefügt werden, agierten die Schauspieler rund um René Deltgen damals noch in echten Räumen und durch die spielerischen Inszenierungen wirkt alles handgemacht. Wenn die Schausprecher Treppen hochlaufen, Türen zuschlagen, Tee eingießen oder live mit Schreckschusspistolen schießen, wirkt alles sehr lebendig und man hört heute noch den Spaß, den das gemacht haben muss.

Ab 1938 produzierte die englische BBC 29 PT-Hörspiele und in Deutschland konnten sich begeisterte Krimihörer ab 1949 an den vom WDR ganz nach dem Vorbild der BBC produzierten Hörspielen vergnügen. Bis 1967 faszinierten 13 Fortsetzungsserien eine ganze Generation von Krimiratefreunden.

Bei den in der Box befindlichen sechs Hörspielen handelt es sich um die Original-Radiofassungen des WDR. Den besonderen Charme macht auch aus, dass hier nichts geschnitten wurde und man auch die damaligen An- und Absagen hört. Es sind zeitlos spannende, nostalgisch anspruchsvolle, raffinierte Kriminalfälle, wobei auch die Originalmusik von Hans Jönsson beiträgt.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Paul Temple Die große Box | Erschien am 18. April 2019 im Audio Verlag
ISBN 978-3-7424-0953-9
6 mp3-CDs| 29,99 Euro
Bibliographische Angaben & Hörprobe