Kategorie: Aktenzeichen

Dominique Manotti | Marseille.73

Dominique Manotti | Marseille.73

Der Roman beginnt mit einem Prolog, einer Erklärung der Verhältnisse in Südfrankreich 1973. In ganz Frankreich leben viele Migranten aus Nordafrika, insbesondere aus dem ehemals französischen Algerien, das vor etwa zehn Jahren unabhängig wurde. Damals musste de Gaulle einsehen, dass Algerien nicht zu halten war, musste aber mit der Unabhängigkeit Algeriens innenpolitisch große Probleme bewältigen. Die große Gruppe der Algerienfranzosen, der Pied-Noirs, wehrte sich bis hin zu terroristischen Aktionen der OAS. 1973 wird der Konflikt wieder angeheizt. Durch ein Dekret des Innenministers werden viele Migranten quasi über Nacht von Schwarzarbeitern zu Illegalen, denen die Abschiebung droht. Gewaltbereite rechte Gruppierungen greifen dies bereitwillig auf. Die „Sans-Papiers“ wollen sich gegen die Benachteiligungen und Bedrohungen wehren, doch ihre Demonstrationen werden gewaltsam von Sicherheitskräften und „besorgten Bürgern“ aufgelöst. Mitten in diese angespannte Stimmung kommt die Nachricht vom Tod eines Marseiller Busfahrers durch einen psychisch gestörten arabischen Algerier.

Bevor er zum Èvêché aufbricht, wirft Daquin einen letzten Blick auf den Vieux-Port zu seinen Füßen, das graugrüne, reglose Wasser, die verwaisten Kaianlagen, kein Geräusch, keine Bewegung, das Leben steht still. Die Stadt atmet nicht mehr. In einer Handvoll Stunden wird sie Èmile Guerlache zu Grabe tragen, sie wartet, sie stinkt nach Blut. (Auszug S.52)

Die Beerdigung des Busfahrers wird von extremen Gruppen instrumentalisiert, aber es bleibt erstmal still. Am Abend sitzt der junge Algerier Malek an einem Boulevard vor einer arabischen Bar, als ein Auto neben ihm hält. Der Beifahrer schießt Malek mit drei Kugeln nieder. Die herbeigerufenen Polizisten der Sûreté nehmen die Sache eher gelangweilt auf. Die Zeugen aus der Bar und die hinzugekommenen Brüder des Toten rufen nochmal die Kriminalpolizei an, das Team von Commissaire Théo Daquin nimmt den Tatort nochmal auf und findet sogar eine weitere Patronenhülse. Doch der Fall bleibt bei der Sûreté. Gleichwohl behalten Daquin und seine Inspektoren Grimberg und Delmas den Fall im Blick, denn sie merken, dass da etwas gewaltig stinkt und dass es Parallelen zu einer Ermittlung gibt, die sie gerade bearbeiten: Die illegalen Aktivitäten der UFRA, der Organisation der Algerienheimkehrer, und die Beteiligung von Mitgliedern der Marseiller Polizei. Derweil versuchen die Kollegen den Fall Malek als einen Mord im Milieu darzustellen (wie auch weitere Tötungsdelikte an Algeriern) und den Toten und seine Familie als kriminell zu diskreditieren.

Ein neuer Manotti ist für mich immer ein echtes Fest. Die 1942 geborene französische Historikerin und Ex-Gewerkschafterin steht für hochpolitische, meist historische Krimis, die aber eigentlich direkte Bezüge zur Gegenwart aufweisen. „Marseille 73“ ist wieder ein Roman mit ihrem häufig gewählten Protagonisten Théo Daquin und schließt zeitlich ziemlich direkt an den Roman „Schwarzes Gold“ an. Daquin ist ein sehr fähiger Ermittler, seine Homosexualität muss er allerdings im schwulenfeindlichen Marseille geheimhalten. Zudem verfügt er als Pariser über wenig Kenntnis und Erfahrung über die Machtverhältnisse im Marseiller Polizeipräsidium und zwischen den verschiedenen, teilweise rivalisierenden Polizeieinheiten. Doch dafür hat Daquin seinen Inspecteur Grimbert, einen Alteingesessenen, der sich zwischen den Etagen zu bewegen weiß.

„Man überträgt diese Fälle der Sûreté nicht, damit sie erfolgreich abgeschlossen werden, man überträgt sie ihr, damit sie niemals aufgeklärt werden. Es gibt hier eine Art, die Dinge zu sehen, eine Geisteshaltung, eine Kultur, nenne es, wie du willst, die von allen geteilt wird: Worüber man nicht spricht, das existiert nicht. Also spricht man nicht über rassistische Verbrechen. Gehen Sie weiter, es gibt nichts zu sehen.“ (Auszug S.92)

Manottis Stil ist sehr verknappt, kurze Sätze, sehr präzise. Sie schreibt zudem generell im Präsens, was manche Abschnitte fast berichtsartig macht. Zur tieferen Darstellung nutzt sie aber die Möglichkeit der Dialoge und des auktorialen Erzählers, wobei sie interessanterweise manchmal für ein oder zwei Sätze in die Ich-Erzähler-Ebene schwenkt. Trotz eines Glossars und Personenregisters ist der Roman komplex und eher für ambitionierte Genreleser. Allerdings wird man extrem belohnt, denn Manotti verbindet hier mehrere Themenbereiche einfach großartig miteinander. Da ist zum einen der aufkeimende Rassismus, der sich mitten in der Bevölkerung und auch in den Polizeikräften ausbreitet, da ist zum anderen der Kampf der Migranten, der „Sans-Papiers“, um Legalität und Schutz durch die Behörden, auch mit Hilfe der Gewerkschaften. Des Weiteren der Kampf der Familie des getöteten Malik um Anerkennung und Ehre, um eine echte Ermittlung des Mörders und zuletzt der Kampf innerhalb der Behörden um Deutungshoheit, um die Öffentlichkeit, um den Umgang mit Korruption oder Schlimmerem. So ist die Ermittlung des Teams Daquin fast weniger eine Suche nach dem Mörder Maliks als vielmehr ein Wettstreit gegen die Vertuschung und kriminelle Energie im eigenen Hause.

Insgesamt ist für mich „Marseille.73“ ein enorm vielseitiger Krimi noir voller Finesse und Brillanz. Sicherlich einer der stärksten Krimis diesen Jahres. Zwar fiktiv, aber auf historischen Fakten basierend und – wie bereits oben erwähnt – voller Bezüge zur Gegenwart. Die Verlegerin Else Laudan äußert bereits in ihrem Vorwort Parallelen zu den NSU-Morden und dem Umgang der Ermittlungsbehörden damit. Und tatsächlich stelle ich mir auch gerade einen „dicken Marcel“ im Bundesamt für Verfassungsschutz vor, ein Faktotum außerhalb der Organisationspläne, der im Zusammenspiel mit den Dienststellen entscheidet, welche Ermittlung eingestellt und welche Akte vernichtet werden muss, um den schönen Schein zu wahren und die Behörde vor Unbill zu bewahren. Die Vermutung liegt nahe, dass sowas hierzulande und heutzutage ähnlich abläuft wie damals in Marseille `73.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Marseille.73 | Erschienen am 02.11.2020 im Argument Verlag
ISBN 978-3-867-54247-0;
400 Seiten | 23,- €
Originaltitel: Marseille 73
Bibliografische Angaben

Weitersehen: TV-Beitrag zum Roman inklusive Interview mit der Autorin in einer Sendung von Arte france.

Weiterlesen: Joachim Feldmanns Rezension im Crimemag.

Weiterlesen II: Weitere Rezensionen zu Manottis Romanen auf diesem Blog.

Hendrik Berg | Eisiger Nebel (Band 6)

Hendrik Berg | Eisiger Nebel (Band 6)

„Helge blieb stehen und lauschte in die Dunkelheit. In der Ferne war das Rauschen des Meeres zu hören. Ansonsten war es still. Der Mond, der hinter dem Nebel verschwunden war, tauchte alles in ein unwirkliches milchiges Licht.“ (Seite 235)

Aus dem Husumer Hafenbecken wird eine sehr entstellte Leiche gefischt. Kriminalhauptkommissar Theo Krumme und seine Kollegin Pat Reichel beginnen mit den Ermittlungen und stellen schnell fest, dass es sich bei dem Toten um keinen harmlosen Touristen handelt. Die Spur führt zu einem kleinen Dorf auf der Halbinsel Eiderstedt in Nordfriesland, dessen Einwohner eng zusammenhalten. Und genau das bringt sie bald alle in Gefahr…

Fall Nummer sechs
„Eisiger Nebel“ von Hendrik Berg ist bereits der sechste Fall um Kommissar Theo Krumme, aber der erste, den ich gelesen habe. Das ging wunderbar ohne Kenntnisse der vorherigen Bücher, jeder Fall ist in sich abgeschlossen. Die Geschichte wird aus Sicht verschiedener handelnder Personen beschrieben, was dem Leser den einen oder anderen Vorsprung an Wissen in Hinsicht auf die Ermittlungen ermöglicht. Außerdem bekommt gerade das Ende dadurch noch zusätzliche Spannung.

Vom Berliner zum Friese
Theo Krumme ist Mitte Fünfzig, vor drei Jahren von Berlin nach Nordfriesland gezogen, weil seine Ehe gescheitert ist, und nun wohnt er mit seiner neuen Freundin Marianne in einem kleinen Häuschen in Husum. Hier arbeitet er mit der wesentlich jüngeren und wesentlich größeren Pat zusammen. Das Team wird von den Kollegen oft belächelt, aber sie ergänzen sich perfekt. Krumme bewundert am meisten Pats Geschick mit der modernen Technik.

Spannung steigt
Ich kam ein kleines bisschen schwierig in die Geschichte rein. Nicht vom Verständnis her, aber sie hat mich nicht gleich gepackt, weil es etwa dreißig Seiten dauert, bis der Fall besteht, also die Leiche gefunden wird. Vorher werden einige Nebenschauplätze beschrieben, die nur indirekt etwas mit dem Fall zu tun haben und eher für die allgemeine Stimmung im Buch sind. Der Spannungsbogen beginnt dann aber mit den Ermittlungen und bei diesen liegen auch recht schnell Ergebnisse vor, die die Kommissare voranbringen. Dann steigt der Spannungsbogen stetig und zum Ende hin war das Weglegen des Buches fast nicht mehr möglich für mich.

Düster und bedrohlich
Insgesamt werden die Nordfriesische Küste und seine Bewohner für meinen Geschmack gut beschrieben. Auch die Bewohner mit ihren unterschiedlichen Charakteren und Geschichten wirken auf mich authentisch. Durch das aktuelle Wetter im Buch, nämlich eisiger Nebel, und einer Schauergeschichte, wirkt die Geschichte zusätzlich düster und bedrohlich.

Fazit: Sehr spannende Unterhaltung, angesiedelt im nebeligen Nordfriesland. Klare Empfehlung!

Hendrik Berg wurde 1964 in Hamburg geboren. Nach einem Studium der Geschichte in Hamburg und Madrid arbeitete er zunächst als Journalist und Werbetexter. Seit 1996 verdient er seinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Drehbüchern. Er wohnt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Köln.

 

Foto und Rezension von Andrea Köster.

Erschienen am 16.03.2020 im Goldmann Verlag
ISBN 978-3-442-49055-4
352 Seiten | 10,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

James Lee Burke | Blues in New Iberia (Band 22)

James Lee Burke | Blues in New Iberia (Band 22)

In meiner Eitelkeit sah ich mich gern als Rächer oder, schlimmer noch, fahrenden Ritter. Aber ich schlug nur im Dunkeln wild um mich. […] Meine Dienstmarke war zumindest vorübergehend nichts mehr wert. Ich besaß keine rechtlichen Vollmachten. Wie konnte ich in einem Fall weitermachen, der sich zu einem Raum ohne Türen entwickelt hatte? (Auszug S. 230-231)

Detective Dave Robicheaux geht einem Hinweis aus einem Notruf nach und kommt zum Strandhaus des Regisseurs Desmond Cormier, ein guter alter Bekannter Robicheaux‘. Auf dessen Terrasse bemerkt er etwas, das draußen auf dem Meer treibt: Die Leiche einer jungen Frau, in theatralischer Manier post mortem an ein Kreuz genagelt. Die Frau arbeitete für eine Hilfsorganisation, die sich unter anderem um Strafgefangene in Todeszellen kümmert. Die Spur führt fast automatisch zu Hugo Tillinger, einem zum Tode Verurteilten, der aus einem Gefängniskrankenhaus fliehen konnte. Diesen Tillinger will Robicheux‘ Kumpel Clete Purcel vor einigen Tagen gesehen haben, als er aus einem Güterzug in einen Fluss sprang. Purcel griff nicht ein und macht sich nun Vorwürfe.

Doch als weitere Leichen auftauchen, ebenfalls inszeniert und damit offensichtlich das Werk eines Serienmörders, gibt es auch Spuren in andere Richtungen. Korrupte Cops, die in der Prostitutionsszene dick mitverdient haben sowie auch Spuren zu Cormier und seiner Filmcrew, die momentan ein aufwändiges historisches Filmdrama in Louisiana und Arizona drehen. Cormier ist eigentlich ein guter Mann, ging vor 25 Jahren mit nichts als großen Träumen nach Hollywood und kehrt nun als gefeierter Regisseur zurück. Doch mit welchen Leuten hat er sich inzwischen eingelassen? Gerüchte machen die Runde, dass Cormiers Film zu großen Teilen mit schmutzigem Geld finanziert wird, man vermutet die Russen, die Saudis und die Mafia von der Ostküste. Robicheaux ist zudem besonders auf der Hut, da seine Tochter Alafair ebenfalls an dem Film mitwirkt und auch seine neue Kollegin Bailey Ribbons (zu der er sich hingezogen fühlt) wird von Cormier umschmeichelt.

„Die Filmleute haben irgendwas mit dem Tod von Lucinda Arceaux zu tun. Ich kann’s nicht beweisen, ich weiß es einfach.“
„Woher?“
„Das Böse hat einen Geruch. Es ist eine Präsenz, die ihren Träger verzehrt. Wie leugnen es, weil wir dafür keine plausible Erklärung haben. Es riecht nach Verwesung innerhalb von lebendem Gewebe.“ (Auszug S. 70)

James Lee Burke ist Jahrgang 1936 und immer noch verdammt produktiv. Zuletzt hat er jedes Jahr einen neuen Robicheux-Band veröffentlicht. „Blues in New Iberia“ ist inzwischen Nr. 22, in den USA ist bereits Band 23 („A Private Cathedral“) erschienen. Sein Protagonist Dave Robicheaux und sein Kumpel Clete Purcel sind immer noch unbeugsamer Verfechter der Gerechtigkeit in den düsteren, gewalttätigen Sümpfen und Bayous Lousianas. Dieses Mal kommt es bei beiden aber zu etwas melancholischen Schüben. Aus der Mid-Life-Crisis sind beide schon längst raus (das genaue Alter ist ja immer etwas komisch zu bestimmen bei Robicheaux, wenn man die Rückverwiese sieht, müsste er ungefähr so alt sein wie Burke – was in der Story aber nicht ganz passen würde), vielmehr kommen sie ins Grübeln, schwanken zwischen (Alp-)Traum und Realität, blicken auf ihre Vergangenheit, lecken ihre Wunden. Kurzum: Sie haben den Blues. Aber wer will es Ihnen verdenken bei theatralisch inszenierten Leichen, weißen Polizisten, die farbige Frauen anschaffen schicken, halbseidenen Hollywood-Produzenten und einem Killer mit Flammenwerfer?

Wenn man James Lee Burke etwas vorwerfen mag (ich spreche es ungern aus), dann dass er ein wenig zur Redundanz neigt. Korrupte Kollegen, merkwürdige Auftragskiller, direkte Bedrohung von Robicheaux‘ Familie. Manche Figuren und Storymotive kommen einem Kenner der Reihe doch etwas bekannt vor. Vermutlich ist das bei inzwischen 22 Bänden auch irgendwie nicht anders zu erwarten. Positiv formuliert könnte man sagen, Burke zitiert sich selbst. Und doch hatte ich bei diesem Band das Gefühl, dass der Autor durchaus straffer hätte erzählen können.

Das ist aber eher Jammern auf einem ziemlich hohen Niveau, denn wenn man einen Burke aufschlägt, darf man sich als Leser sicher sein, dafür auch einiges zu bekommen: Ein starken, kraftvollen Schreibstil, ambivalente, sehr präzise beschriebene Figuren, komplexe Storys rund um klassische Themen wie Schuld, Rache, Vertrauen und Freundschaft sowie ein üppiges Stimmungsbild der Sumpf- und Küstenlandschaft Louisianas. Und das reicht in diesem Fall vielleicht nicht für ein echtes Highlight in dieser großartigen Reihe, aber immer noch für einen wirklich lesenswerten Kriminalroman.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Blues in New Iberia | Erschienen am 01.07.2020 im Pendragon Verlag
ISBN 978-3-86532-684-3
586 Seiten | 22,- €
Originaltitel: New Iberia Blues
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen I: Rezension zu „Blues in New Iberia“ von Jochen König auf krimi-couch.de

Weiterlesen II: Rezensionen von Gunnar und Andy zu weiteren Romanen der Robicheaux-Reihe: Band 1, Band 3, Band 7, Band 10, Band 14, Band 16, Band 21

 

Lisa Sandlin | Ein Job für Delpha

Lisa Sandlin | Ein Job für Delpha

„Von den Leuten, mit denen ich seit Neuestem zu tun habe, Mr. Phelan, wissen Sie, Joe Ford, Miss Doris und Calinda Blanchard, dass ich im Gefängnis gewesen bin. … Wenn Sie etwas wissen wollen, in dem ich mich dank meiner Vergangenheit auskenne, fragen Sie mich das bitte direkt. Ich werde es Ihnen sagen. Eiern Sie nicht herum, als wollten Sie mir sagen, dass man meinen Schlüpfer sehen kann.“ (Auszug Seite 136)

Einen Job braucht Delpha Wade unbedingt. Sie ist Anfang 30, als sie in Texas auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen wird. 14 Jahre hat sie wegen Totschlag gesessen und jetzt will sie unbedingt wieder Fuß fassen und ihren Platz in der Gesellschaft finden. Als Leser begleiten wir sie auf ihren ersten, unsicheren Schritten bei der Wohnungs- und Jobsuche. Sie findet ein Zimmer in einem heruntergekommenen Seniorenwohnheim, dass sie kostenlos bewohnen darf, wenn sie sich dafür abends und am Wochenende um die pflegebedürftige Tante der Hotelleiterin kümmert.

Eine neu gegründete Detektei
Ihr Bewährungshelfer verschafft ihr ein Bewerbungsgespräch als Sekretärin in der neu gegründeten Detektei von Tom Phelan. Nachdem der 29-Jährige Phelan bei der Arbeit auf einer Bohrinsel im Golf von Mexiko einen Mittelfinger verloren hat, macht er sich, obwohl total unerfahren als Privatdetektiv selbständig. Tom geht hier nicht besonders strukturiert vor, aber er ist ein gutmütiger Kerl und schnell stellt sich heraus, dass Delpha, der er eine Chance gibt, für ihn ein echter Glücksgriff ist. Mit ihrer Menschenkenntnis, Klugheit und dem ihr eigenen Pragmatismus kümmert sie sich um alles, was so anfällt und macht sich damit in kürzester Zeit unentbehrlich.

Anfänglich hat Phelan Investigations mit Routineaufträgen zu tun. Ein verschwundener Junge, der in schlechte Gesellschaft geraten ist, ein nerviger Hund, der die ganze Nachbarschaft terrorisiert, ein Beinamputierter, dessen Schwester seine Prothese als Geisel genommen hat und auch der Klassiker darf nicht fehlen: Eine betrogene Ehefrau, die Bilder von ihrem Ehemann in Flagranti bestellt. Erst im letzten Drittel der Geschichte verdichten sich die bis dahin scheinbar belanglosen Geschehnisse zu einem brisanten Kriminalfall. Alles hängt irgendwie zusammen und Delpha und Tom haben es auf einmal mit Patentraub, Industriespionage und einem Serienkiller zu tun, der Delpha in tödliche Gefahr bringt. Sie bekommt auch noch die Chance auf Rache, denn sie begegnet dem Mann, der sie einst durch eine Falschaussage ins Gefängnis brachte.

Die 70er Jahre
Es sind die 70er Jahre, Creedence Clearwater Revival klingt aus dem Radio und die Menschen verfolgen Nixons Anhörungen im Watergate Skandal im Fernsehen. Mich hat tatsächlich das wunderschön gestaltete Cover gelockt sowie Delphas interessante Hintergrundgeschichte, mit der das Leben bisher nicht grade fair umgegangen ist, die ich aber hier nicht spoilern möchte. Zu Beginn hatte ich leichte Schwierigkeiten in die Geschichte reinzukommen. Lisa Sandlin hält sich nicht mit großen Erklärungen auf, sondern glänzt durch einen episodenhaften Erzählstil, bei dem mir zumindest anfänglich der umfassende Zusammenhang fehlte. Vieles war mir am Anfang zu unüberschaubar und ich suchte irritiert den roten Faden. Ich musste mich erst an den ambitionierten Schreibstil gewöhnen, der besonders in den Dialogen oft schräg und witzig ist. Aber ich war von den ersten Seiten fasziniert, mitzuerleben, wie Delpha Wade sich in ihr neues, selbstbestimmtes Leben mit den noch ungewohnten Möglichkeiten eingewöhnt.

Meine Meinung
Sandlin beschreibt sehr einfühlsam und mit großer Wärme wie unsere Protagonistin jede neue Erfahrung in Freiheit erlebt und sei es nur ihre Freude über ein eigenes Zimmer zum Abschließen. Sie ist ein ruhiger und zurückhaltender Mensch, will nichts falsch machen oder auffallen und sich an die Bewährungsauflagen halten. Sie ist auch smart und lebenshungrig und man freut sich mit ihr über die Affäre mit einem 20-jährigen College-Studenten. Sandlin hat ein Händchen für die Atmosphäre der 70er Jahre im südöstlichen Beaumont in Texas. Ihre Milieuschilderungen sind sehr stimmig und sie entwirft großartige Sprachbilder. Besonders sinnlich und wunderschön beschrieben fand ich einen Ausflug ans Meer, den Delpha mit ihrem jungen Freund unternimmt.

Die Fälle der Detektei, die ja erst mal unspektakulär sind, werden logischerweise sehr kleinteilig beschrieben, was dem ganzen Roman aber eine große Gelassenheit gibt. Dann werden aber mit überraschender Lässigkeit alle Teile zusammen geknüpft und Tom und Delpha kommen einer großen Verschwörung auf die Spur. Vieles hängt doch noch miteinander zusammen und das ist eigentlich sehr gut konstruiert. Ein ganz besonderer, literarischer Kriminalroman um zwei Außenseiter in Texas.

Die Autorin
Die amerikanische Autorin Lisa Sandlin schrieb ihr Romandebüt mit 64, vorher war sie mit Kurzgeschichten und Essays hervorgetreten. Die Professorin stammt aus Beaumont, Texas und lehrte an der Universität von Omaha/Nebraska Creative Writing. Heute lebt sie in Santa Fe, New Mexico, wo sie Schreiben unterrichtet. „Ein Job für Delpha“ wurde mit dem Hammett Prize und dem Shamus Award 2016 ausgezeichnet. 2020 ist der Folgeband „Family Business“ erschienen und ich würde gerne Delpha und Tom auf ihrem Weg weiter verfolgen.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Ein Job für Delpha | Erschien am 10. Juli 2017 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-5184-6779-4
350 Seiten | 9,95 Euro
Originaltitel: The Do-Right
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Corinna Kastner | Fischland-Lügen

Corinna Kastner | Fischland-Lügen

„In der Ferne erkannte sie auf dem tiefblauen Wasser ein Segelboot und weit dahinter einen großen Frachter. Beide bewegten sich entlang des Horizonts auf die Seebrücke zu, und im Stillen schloss sie eine Wette mit sich selbst ab, wer das Rennen gewinnen, wer zuerst auf Höhe des Brückenkopfes ankommen würde. Trotz seiner Wendigkeit und Schnelligkeit wurde das Segelboot von dem großen, schweren Frachter überholt. So war das im Leben. Die Stärkeren gewannen. Immer.“ (Seite 7)

Im Ostseebad Wustrow, auf dem Fischland, will Immobilienhai Falk Clasen eine Golfanlage mit Hotel bauen, was den Fischländern natürlich nicht gefällt. Zeitgleich sucht Clasens Tochter Miriam in Wustrow nach ihrem Freund Dominik, der bis vor kurzem Sicherheitschef bei Clasens Firma war und nun spurlos verschwunden ist. Das sind für die Pensionswirtin Kassandra Voß schon zwei Gründe, um gegen Falk Clasen zu ermitteln. Durch Zufall erfährt sie, dass ihr Freund und Ex-Polizist Kay Dietrich ebenfalls hinter Clasen her ist und mit vereinten Kräften schleusen sie Kay in Clasens Firma, um so an belastendes Material zu gelangen. Doch das erweist sich als große Gefahr…

Das Gefühl der Ostsee zum Lesen
„Fischland-Lügen“ von Corinna Kastner ist der sechste Fall um Pensionswirtin Kassandra Voß und der achte Krimi der Autorin mit Schauplatz auf dem Fischland. In dieser Geschichte ist ein wesentlicher Handlungsort auch die Hansestadt Stralsund, was mich aber nicht gestört hat, denn der Fokus bleibt auf der Halbinsel. Und diese, speziell Wustrow, wird sehr detailliert beschrieben und man bekommt gleich Lust, sich ebenfalls die Ostseeluft um die Nase wehen zu lassen.

Sehr hoher Spannungsbogen
Am Anfang der Geschichte hatte ich etwas Schwierigkeiten, mir zu merken, welche Person zu welchem Namen gehörte, obwohl es nicht mein erstes Buch mit der Protagonistin war. Im Laufe des Lesens hat es sich für mich allerdings gelichtet und ich hatte damit keine weiteren Probleme. Der Spannungsbogen steigt ab etwa der Hälfte rasant an und fällt bis zum Schluss kaum noch. An manchen Stellen habe ich sogar fast atemlos gelesen, was passiert. Das liegt nicht nur allein an der Handlung, sondern auch daran, wie die Autorin die einzelnen Situationen und Kapitel gliedert.

Bodenständige Protagonistin
Kassandra Voß ist vor einigen Jahren aufs Fischland gezogen, um dort mit einer Pension neu anzufangen. Seitdem zieht sie kriminelle Machenschaften quasi an und ermittelt gern auf eigene Faust mit Hilfe ihrer Freunde, die sie in Wustrow kennengelernt hat. Dabei bleibt sie meiner Meinung nach stets bodenständig, begibt sich in keine waghalsigen oder unüberlegten Aktionen und ist trotzdem spontan, impulsiv und ungeduldig, wenn sie mitten in einem Fall steckt. Ich finde die Protagonistin damit sehr sympathisch.

Nicht erfüllte Versprechung
Auf dem Buchrücken wird damit geworben, dass es sich um „die perfekte Mischung aus packender Krimihandlung und romantischer Liebesgeschichte“ handelt. Mit ersterem gehe ich absolut mit. Bei der Liebesgeschichte habe ich persönlich die wahre große Liebe erwartet, wie man sich das eben in Romanen so vorstellt. Hier ist es aber eher eine Mischung aus Affären, unglücklichen Ehen und gestandenen Beziehungen, bei denen höchstens gedanklich an deren Fortbestehen gezweifelt wird. Hätte mich insgesamt gar nicht gestört, wenn nicht was anderes versprochen worden wäre.

Fazit: Viel Ostsee-Gefühl, noch mehr Spannung und andere Liebe als erwartet.

Corinna Kastner wurde 1965 in Hameln geboren. Sie arbeitet am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung in Hannover und fühlt sich an der Ostsee am wohlsten. Besonders das Fischland inspiriert sie sowohl schriftstellerisch als auch fotografisch. Seit 2005 veröffentlicht sie schauplatzorientierte Spannungsromane und seit sieben Jahren ihre Küsten Krimis, die auf dem Fischland spielen.

 

Foto und Rezension von Andrea Köster.

Fischland-Lügen | Erschienen am 23. Juli 2020 im Emons Verlag
ISBN: 978-3740809157
400 Seiten | 14,00 €
Bibliografische Angaben und Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Romanen von Corinna Kastner