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Abgehakt | Dezember 2018

Abgehakt | Dezember 2018

Zum Jahresende 2018 haben wir noch ein paar Kurzrezensionen des vergangenen Quartals für euch. Mit diesem Beitrag beenden wir unser Blogjahr, wir melden uns im Januar mit frischen Texten zurück. Dankeschön fürs Lesen und Kommentieren, hier und auf den drei Social Media Kanälen Facebook, Instagram und Twitter!

Kommt gut ins neue Jahr und bleibt uns auch in 2019 treu; das würde uns sehr freuen!

Kurzrezensionen des 4. Quartals 2018

Wolfgang Schorlau | Der große Plan

Ein neuer Auftrag führt Privatdetektiv Georg Dengler ins Auswärtige Amt: Eine hochrangige Mitarbeiterin ist spurlos verschwunden und Dengler soll sie finden. Anna Hartmann arbeitete für die Troika bei der Griechenland-Rettung, möglicherweise ist dies ein Ansatz. Doch es gibt keine Lösegeldforderung, nur ein Überwachungsvideo deutet eine Entführung an. Eventuell liegt die Lösung auch im Privaten. Oder ist Anna Hartmann gar aus freien Stücken untergetaucht? Dengler macht sich auf die Suche und wie immer fördert er politischen Sprengstoff zu Tage.

Die äußerst erfolgreiche Reihe um Georg Dengler ist inzwischen beim neunten Fall angelangt. Autor Wolfgang Schorlau sucht sich immer wieder brisante politische Themen als Fälle für seinen Ermittler aus. Dieses Mal ist es das große Thema Euro-Krise, Griechenland-Rettung, aber auch deutsche Kriegsverbrechen in Griechenland während des zweiten Weltkriegs.

Schorlau hat in seinen Krimis immer auch einen pädagogischen Auftrag. Seine Gesellschaftskritik oder Kritik an der Politik kommt selten subtil, sondern meist offen und oft auch dozierend daher. Ich lese diese Reihe gerne, aber stilistisch gelingt der Spagat zwischen Krimi und journalistischem Aufsatz manchmal nur bedingt. So sehr ich auch mit der Meinung des Autors übereinstimme, dass Griechenland übel mitgespielt wurde, so bin ich aber auch nur bedingt zufrieden, dass er volkswirtschaftliche Proseminare als Teamsitzungen seines Detektivs tarnt. Das wäre doch auch geschmeidiger gegangen. Ansonsten ist Der große Plan ein temporeicher Krimi zwischen Stuttgart, Berlin und Athen, bei dem sich für mich das Motiv aber schon früh abzeichnete. Insgesamt ordentlich, aber sicher nicht der Beste der Reihe.

Der große Plan | Erschienen am 8. März 2018 bei Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-04667-0
448 Seiten | 14.99 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Genre: gesellschaftskritischer Krimi
Wertung: 3.0 von 5.0

Auch bei uns: Gunnars Rezension zu Die schützende Hand des Autors Wolfgang Schorlau.

 

Olivier Guez | Das Verschwinden des Josef Mengele

Josef Mengele, der Todesarzt von Auschwitz, in den letzten Monaten des Krieges untergetaucht, emigriert unter falschem Namen nach Argentinien. Dort kann er sich auf ein funktionierendes Netzwerk alter Nazis und auf die Protektion der peronistischen Regierung verlassen. Auch die Familie hält Kontakt. Doch die Zeiten ändern sich, es wird irgendwann doch noch nach den Verbrechern gesucht. Der Mossad entführt Eichmann. So beginnt eine jahrzehntelange Flucht durch Südamerika, in der Mengele zunehmend isoliert, aber dennoch nicht gefunden wird.

Autor Olivier Guez hat mit Das Verschwinden des Josef Mengele einen Zwitter geschrieben, einen Tatsachenroman, beginnend mit der Ankunft Mengeles in Argentinien 1949 bis zu seinem Tod an einem brasilianischen Strand dreißig Jahre später. Der Autor hat brillant recherchiert, zeichnet das Leben des SS-Arztes präzise nach. Das Buch ist an vielen Stellen hochinformativ: Die Rattenlinien und die alten Seilschaften, die Untätigkeit deutscher und einheimischer Behörden, die vergebliche Suche des Mossad und das Porträt eines unbeirrbaren, fanatischen Rassisten, der bis zuletzt an die Richtigkeit seiner verbrecherischen Taten glaubte.

Das Problem für mich war nur: Es funktioniert nicht als Roman. Guez erzählt dreißig Jahre teilweise zeitraffend, verharrt zu selten im Moment, verzichtet im Wesentlichen auf Dialoge. Das alles macht das Buch nicht mitreißend, nicht spannend, sondern es bleibt eher dokumentarisch. Gleichzeitig verharrt der Autor beim lamentierenden, selbstmitleidigen Mengele und es wird nicht ganz klar, was am Ende davon vielleicht doch nur Fiktion war.

Das Verschwinden des Josef Mengele | Erschienen am 10. August 2018 im Aufbau Verlag
ISBN 978-3-351-03728-4
224 Seiten | 20.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Genre: True Crime
Wertung: 2.5 von 5.0

 

Martin Krist | Freak City 1: Hexenkessel

New York City: Patsy und Milo haben einen todsicheren Tipp bekommen, wo bei einem Einbruch eine Menge zu holen ist. Doch plötzlich steht nicht nur der Hausbesitzer im Raum, sondern auch ein Mörder, der schon seit Wochen die Stadt in Angst versetzt. Gleichzeitig bekommt Pearl, ein freischaffender Ermittler, einen neuen Auftrag: Er soll eine vermisste aufstrebende Theaterschauspielerin suchen. Und wie es so kommt, werden sich irgendwann die Wege der Beteiligten kreuzen.

Martin Krist ist ein vielschreibender Thrillerautor und Verfechter des Sulfpublishing. Stetig und sympathisch im Netz präsent, außerdem ein Krimiliebhaber mit beeindruckender Bibliothek. Von daher hatte ich mir schon längst vorgenommen, ein Buch des Autors zu lesen. Dieser hat sich nach eigenen Angaben mit seiner neuen Serie Freak City einen Lebenstraum erfüllt, eine Thrillerserie mit Schauplatz New York zu schreiben.

Eine durchaus interessante Hauptfigur hat dieser Roman auf jeden Fall. Pearl, ein Halbblut, Geldeintreiber und Spürhund, trägt seine Narben mit sich herum, äußerlich wie innerlich. Was dieser erste Thriller der Reihe – Hexenkessel – ebenfalls erfüllt: Tempo, Tempo, Tempo. Keine Atempause, es geht immer voran. Die erzählte Zeit beträgt noch nicht mal 24 Stunden. Das müsste mir eigentlich gefallen, allerdings hatte ich das Gefühl, dass hier doch zu sehr aufs Gaspedal gedrückt wurde. Der Plot wirkt noch nicht rund, Wendungen sind auf Zufall aufgebaut, weitere Figuren, selbst Patsy, bleiben für mich etwas blass. So ziehe ich ein zwiespältiges Fazit, aber habe durchaus die Hoffnung auf eine Steigerung in dieser Reihe.

 

Freak City 1: Hexenkessel | Erschienen am 14. November 2018 als Selfpublisher im Verlag R&K
ISBN 978-3-746-77975-1
220 Seiten | 9.99 Euro (als E-Book 0.99 Euro)
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Genre: Thriller
Wertung: 2.5 von 5.0

Auch bei uns: Monikas Rezension zu Martin Krists Thriller Märchenwald.

 

Tom Franklin | Krumme Type, krumme Type

Larry Ott fristet ein Dasein als Verstoßener in Chabot, Mississippi. Vor 25 Jahren hatte er ein Mädchen mit auf ein Date genommen, das hinterher spurlos verschwand. Larry beteuerte seine Unschuld, ihm konnte auch nie etwas nachgewiesen werden, so dass er nicht verurteilt wurde. Fortan war er ein Paria, lebte allein im abgelegenen Elternhaus. Nun wird erneut eine 19-Jährige vermisst und Larry steht natürlich sofort unter Verdacht. Er wird eines Abends mit schweren Schussverletzungen aufgefunden, liegt seitdem im Koma. Der ermittelnde Detective ist sich relativ sicher, dass Ott sich aus Schuldgefühlen die Verletzungen selbst zugefügt hat. Doch der schwarze Constable Silas Jones ist sich dessen nicht so sicher. Was niemand im Ort weiß, ist, dass Silas und Larry eine gemeinsame Vergangenheit verbindet.

Krumme Type, krumme Type ist eine absolut sensationelle Südstaatengeschichte, die abwechselnd aus der Sicht von Larry und Silas erzählt wird und regelmäßig in Rückblicken die Vergangenheit aufrollt. Denn die Geschichte von damals spielt natürlich in die Gegenwart hinein: Eine Freundschaft zweier ungleicher Jungen, die unter keinem guten Stern steht und nur einen Sommer lang überdauert. Es ist ein pralle Geschichte, in der alles steckt: Crime, Coming of Age, Freundschaft, Verrat, Schuld, Reue, Rassismus, Gewalt. Ein intensives Porträt des ländlichen amerikanischen Südens und dazu zwei wunderbar beschriebene, tragische Hauptfiguren.

Und allen, die meinen, dass ich da wieder einen düsteren Noir empfehlen will, denen sei gesagt, dies ist mitnichten ein Noir, denn man spürt die Sympathie des Autors Tom Franklin für seine Figuren, so dass er diese nicht ohne Hoffnung aus der Geschichte entlassen will. Eigentlich hätte dieses Buch eine viel ausführliche Besprechung verdient, aber es gibt bereits die ultimative Lobhudelei. Die Besprechung von Philly auf ihrem Blog Wortgestalt ist absolut umwerfend, ich kann mich da nur anschließen!

 

Krumme Type, krumme Type | Erschienen am 27. Juli 2018 bei Pulp Master
ISBN 978-3-927734-99-9
406 Seiten | 15.80 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Genre: Spannungsroman
Wertung: 5.0 von 5.0

Auch bei uns: Gunnars Rezension zu Tom Franklins Roman Die Gefürchteten.

Weiterlesen: Philly’s Rezension zu Krumme Type, krumme Type

 

Rezensionen 1 bis 4 sowie die dazugehörigen Fotos von Gunnar Wolters.

 

Klara Holm | Krähennest

In einem Krähennest, also einer Aussichtsplattform auf einem Schiff, wird der abgetrennte Kopf eines Mannes gefunden. Luka Kroczek übernimmt die Ermittlungen und findet schnell heraus, dass der Tote ein Kollege seiner Freundin Teresa ist. Als eine zweite Leiche auftaucht, wird der Fall immer undurchsichtiger und auch Teresa gerät in Gefahr.

Krähennest von Klara Holm ist ein flüssig zu lesender Küsten-Krimi, der auf der Insel Rügen spielt und mit echten Schauplätzen punktet. Die typische Ermittlungsarbeit steht im Vordergrund, aber auch einige Anekdoten aus dem Privatleben der Protagonisten kommen nicht zu kurz. Zum Ende hin wird es dann nochmal spannend und für mich war das Ende nicht vorhersehbar. Durchaus eine Empfehlung als leichten Krimi für zwischendurch.

 

Kurzrezension und Foto von Andrea Köster.

Krähennest | Erschienen am 26. März 2016 bei rororo im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-499-27071-0
352 Seiten | 9.99 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Genre: Regionalkrimi
Wertung: ausstehend

 

Hier geht es zu den bisherigen Beiträgen der Kategorie: Abgehakt – Krimis kurz besprochen

Daphne du Maurier | Die Vögel ♬

Daphne du Maurier | Die Vögel ♬

Als Kind war der geniale Schocker „Die Vögel“ von Alfred Hitchcock das Spannendste und Gruseligste, was ich mir vorstellen konnte. Das Meisterwerk von dem amerikanischen Filmemacher aus dem Jahr 1963, der als Klassiker des Horrorgenres gilt, bezieht sich auf eine Kurzgeschichte der englischen Autorin Daphne du Maurier. Der Kultregisseur übernahm aber nur das Motiv der mörderischen Vogelattacken und hat die Story vom regnerischen Küstenort in Cornwall an die sonnige kalifornische Küste verlegt. Auch die Charaktere und der Handlungsverlauf wurden vollständig ausgewechselt.

Ich war erst skeptisch, aber Gott sei Dank habe ich mich für das Hörbuch entschieden, denn die Bearbeitung hat mich begeistert!

Nat Hocken ist ein einfacher Landarbeiter und lebt mit Frau und Kindern an der englischen Küste. Da er im zweiten Weltkrieg verwundet wurde, bekommt er eine kleine Invalidenrente und ist an ein paar Tagen die Woche bei seinem Nachbarn auf der Farm mit leichten Arbeiten beschäftigt. So hat der ruhige, nachdenkliche Einzelgänger Nat genug Zeit, die Natur und besonders die Vögel zu beobachten.

Eines Tages im Spätherbst fällt ihm auf, dass riesige Vogelschwärme laut kreischend und pfeifend über der Küste kreisen und in ihrer Vielzahl – ähnlich einer großen Wolke – den Himmel verdunkeln. Es sind unnatürlich viele Tiere und sie erscheinen ihm rastloser und unruhiger denn je. Nat ist der erste, dem auffällt, dass die See- und Landvögel sich eigenartig, fast aggressiv benehmen. Sie scheinen sich zu sammeln und Abertausende Möwen verwandeln das Meer in ein weißes Möwenmeer.

Der Angriff

Von einem Tag zum anderen verändert sich das Wetter und es wird bitterkalt, hervorgerufen durch einen eisigen Ostwind. In der Nacht versuchen mehrere Dutzend kleiner Singvögel in das Haus einzubrechen und die beiden kleinen, im oberen Stockwerk schlafenden Kinder Jill und Johnny anzugreifen. Nur mit Mühe kann Nat die Vögel davon abbringen, den Kindern die Augen auszuhacken. Während in der Nachbarschaft noch nach Erklärungen für das Verhalten der Vögel gesucht wird und sein Chef meint, den Vögeln mit der Schrotflinte beizukommen, wird Nat immer unruhiger und beschließt am nächsten Tag, seine Tochter vom Schulbus abzuholen. Auf dem Rückweg können sie nur mühsam die Angriffe der Vögel abwehren.

Nat mutmaßt, dass die Vögel nicht verwirrt sind, sondern vorsätzlich und mit einem Killerinstinkt ausgestattet angreifen um zu töten. Er muss an die deutschen Luftangriffe im Krieg denken. Er zieht als Einziger die richtigen Schlüsse und beginnt in aller Eile sein kleines Haus zu befestigen und verbarrikadiert die Fenster und den Kamin mit Brettern. Aus dem Radio erfährt die Familie, dass der Notstand ausgerufen wurde und dass es die Angriffe im ganzen Land gab. Nat beobachtet, dass die Vögel nur bei Flut angreifen, deshalb will er die Zeit während der Ebbe nutzen um sich mit Nahrungsmitteln einzudecken. Als er und seine Familie sich daraufhin bis zum Nachbarn durchschlagen, finden sie auf der Farm alle getötet vor.

Die Apokalypse

Am nächsten Tag bleibt das Radio stumm, denn kein Radiosender sendet mehr. Jetzt greifen auch die Möwen und andere Vogelarten an und hacken erbarmungslos mit ihren Schnäbeln an den Fensterläden. Sie scheinen über eine kollektive Intelligenz zu verfügen und stoßen immer wieder in Formationen vor. Nat und seine Familie verschanzen sich in der Küche und werden Zeuge, wie nicht einmal Kampfflugzeuge der Lage Herr werden. Wie eine Phalanx attackieren sämtliche Vogelrassen in der eindeutigen Absicht zu töten und sogar den eigenen Tod in Kauf nehmend. Die Vögel schlagen zurück! Warum weiß man nicht, denn das Ende ist offen und es gibt keine Erklärung für das Verhalten der gefiederten Tiere. Nat und seine Familie können sich nur von Tag zu Tag retten.

Horror vom Feinsten

Daphne du Maurier hat hier eine wirklich düstere, literarisch anspruchsvolle Kurzgeschichte geschrieben, in dem kein Wort zu viel ist. Ohne große Effekthascherei und total auf den Punkt kreiert sie eine verstörende Stimmung, in dem sie normale Menschen im Alltagsleben in ausweglose, lebensbedrohliche Situationen bringt. Man meint fast das grauenvolle Flattern Tausender Flügel oder die erbarmungslos hackenden Schnäbel zu hören. Man spürt die unnatürliche Kälte aus Russland, den bitterkalten Wind, der die Bäume entlaubt und den schwarzen Frost bringt, den schwarzen, nicht den weißen Frost! Das beschreibt sie so beklemmend, dass ich tatsächlich an einigen Stellen vor Spannung meine Hände ins Lenkrad krampfte.

Dazu hat auch die hervorragende Inszenierung durch Jens Wawrczeck beigetragen. Der Schauspieler und Synchronsprecher, bekannt vor allen als Mitglied der Hörspielserie Die Drei ??? flüstert, schreit, poltert und bebt immer an den richtigen Stellen und schafft es auch, dem melancholischen Nat Leben einzuhauchen. Er trifft den Ton und versteht es, die Stimmung perfekt in Szene zu setzen.

Anmerkung dR: Jens Wawrczeck hat vor einigen Jahren beim Verlag Vitaphon sein eigenes Label Audoba gegründet. Darin veröffentlicht er Lesungen und Hörspiele von Werken, die ihm besonders am Herzen liegen. Da er auch ein großer Hitchcock-Fan ist, hat er in seinem Label die Reihe „Verfilmt von Alfred Hitchcock“ aufgelegt, darin veröffentlicht er die Bücher als Lesungen, die Hitchcock zu seinen Filmen inspirierten. (Quelle: hr2 Kultur) Bisher sind in dieser Reihe elf Hörbücher erschienen, Die Vögel ist das zuletzt aufgelegte.

Daphne du Maurier war eine britische Schriftstellerin, die 1989 als 72-jährige in Cornwall verstarb. Ich kannte von ihr den ebenfalls von Hitchcock verfilmten Roman Rebecca, der ein Welterfolg wurde. Auch viele anderen Werke von ihr wurden verfilmt, am bekanntesten sicher die Verfilmung der Erzählung „Dreh dich nicht um“ besser bekannt unter dem Titel Wenn die Gondeln Trauer tragen mit Donald Sutherland und Julie Christie inszeniert. Ihre Romane und Erzählungen zeichnen sich meistens durch psychologische Spannung aus, gehen oft ins Mystische und beinhalten auch immer ein bisschen Drama. 1969 wurde sie von der Queen zur „Dame“ ernannt.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Die Vögel | Das Hörbuch erschien am 18. Juni 2018 bei Audoba im Vitaphon Verlag
ISBN 978-3-942210-49-2
1 Audio CD | 14.95 Euro
Laufzeit: 100 Minuten
Bibliografische Angaben & Hörprobe

Weiterlesen: Zur Hörbuch-Reihe „Verfilmt von Alfred Hitchcock“ von Jens Wawrczeck bei Vitaphon bzw. Audoba

Reinhören: Bei hr2 Kultur gab es einen knapp 9-minütigen Beitrag zu diesem Hörbuch.

Auch bei uns: Andy hat aus der selben Reihe bereits das Hörbuch Spellbound besprochen.

Mick Herron | Slow Horses

Mick Herron | Slow Horses

River hatte die Zielperson fast erreicht – er war eine halbe Sekunde entfernt. Aber er war nicht annähernd nahe genug. Die Zielperson zog an einer Schnur am Gürtel. Und das war’s. (Auszug Seite 22)

Fiasko am Londoner King’s Cross Bahnhof

Ohne große Einleitung finden wir uns mitten in einer missglückten Observierung wieder. Am Londoner Hauptbahnhof verfolgt der junge MI5-Agent River Cartwright aufgrund einer Verwechslung die falsche Zielperson.

Die Handlung nimmt Fahrt auf, denn es gilt einen Terroranschlag zu verhindern. Dabei gelingt es dem Autor glänzend, die Hektik und Dramatik dieses Szenarios wiederzugeben. Mit einem flotten, knackigen aber auch bildhaften Schreibstil dreht er gekonnt an der Spannungsschraube bis zum nervenzerreißenden Cliffhanger.

Nach diesem furiosen Start geht es erst mal ruhiger weiter. River Cartwright landet nach dem total missglückten Einsatz im Slough House, einem alten runtergekommenen Gebäude in London. Dieses dient als Auffangbecken für aus verschiedenen Gründen in Ungnade gefallene Agenten. Diese werden von allen nur despektierlich Slow Horses genannt. Eine bunt zusammengewürfelte Truppe von Versagern, abgeschoben vom Hauptquartier im Regent’s Park, die man einfach nicht los wird. Sie werden mit sinnlosen Aufgaben betraut, in der Hoffnung, dass sie aus lauter Frust von selbst kündigen.

Mick Herron nimmt sich viel Zeit für die Einführung seiner Figuren, was ja auch Sinn macht, denn es handelt sich um den Auftaktband einer Reihe, von der in Großbritannien bereits vier weitere Bände erschienen sind. Sein Blick auf die Charaktere ist dabei immer sachlich und distanziert. Außer vielleicht auf River Cartwright, von dem man die meisten Hintergrundinformationen erfährt.

Die lahmen Gäule

Da ist zum Beispiel Min Harper, der eine CD-ROM mit Geheimdienstinformationen im Zug liegen gelassen hat. Oder der sozial inkompetente Computer-Nerd Roderick Ho, der andere Menschen für überflüssig hält. Catherine Standish ist der gute Geist von Slough House, eine 48-jährige trockene Alkoholikerin und ehemalige Privatsekretärin eines hohen Tiers beim MI5, etwa wie Miss Moneypenny. Nur vom korpulenten und ungepflegten Teamleiter selbst weiß niemand die Gründe seiner Abservierung. Dem rätselhaften Jackson Lamb, vor langer Zeit einer Legende im Dienst ihrer Majestät, jetzt nur noch verbittert und faul, scheint es Spaß zu machen, andere Menschen zu verletzen und zu brüskieren. Er wirkt distanziert, was der Autor noch verstärkt, indem wir nur erfahren, was Lamb sagt und tut, aber nie was er denkt.

Die Truppe mag sich untereinander nicht und kommuniziert nur das Nötigste. Sie wirken wie erstarrt in ihren sinnlosen Tätigkeiten und manche hoffen auf Rehabilitierung. Andere wiederum sind völlig desillusioniert und wissen, dass die Rückkehr zum Hauptquartier noch niemandem gelungen ist. Besonders für den ehrgeizigen River erscheinen die Arbeiten besonders frustrierend, und so macht er sich ziemlich lustlos daran, den stinkenden Müll eines Journalisten zu durchsuchen. Dabei kann er noch froh sein, nicht entlassen worden zu sein. Und das auch nur wegen seines Großvaters David Cartwright, genannt OB für Old Bastard, der bis zu seiner Pensionierung eine große Nummer beim britischen Geheimdienst war.

Das ändert sich, als ein Video ins Netz gestellt wird, dass ganz London in Atem hält. Ein junger Mann pakistanischer Herkunft wurde entführt und die Entführer wollen ihn innerhalb zwei Tagen köpfen und diese Hinrichtung live im Netz zeigen. In einem weiteren Erzählstrang verfolgen wir, wie der entführte 19-jährige Hassan um sein Leben bangt. Bei den drei Entführern handelt es sich um nicht besonders clevere, britische Nationalisten. Um mit seiner Todesangst klar zu kommen, nennt Hassan sie in Gedanken Larry, Moe und Curly nach der Komikertruppe The Three Stooges. Wären es zwei, würde er sie Dick und Doof nennen.

Lambs Stimme wurde flach und ausdruckslos. Der Junge auf dem Monitor, die Kapuze über seinem Kopf. Die Zeitung in seiner Hand – es hätte ein Bildschirmschoner sein können. Er sagte: „Dachten Sie etwa, das Rote Telefon würde läuten und Lady Di alle Mann an Deck rufen? Nein, wir werden uns das im Fernsehen ansehen, wie alle anderen auch. Und wir werden nichts unternehmen. Das ist etwas für die großen Jungs, und Sie alle hier dürfen nicht mit den großen Jungs spielen. Oder haben Sie das vergessen?“ (Seite 144)

Londoner Regeln

Es stellt sich heraus, dass der britische Geheimdienst seine schmutzigen Hände mit im Spiel hat und der entführte Junge nur das Werkzeug in einem wirklich niederträchtigen Plan darstellt. Ganz langsam wachen die lahmen Gäule auf, die ja mal ausgebildete Agenten mit Karriereaussichten waren. Die Protagonisten besinnen sich auf ihre Fähigkeiten, gewinnen alte Stärken zurück und wachsen über sich hinaus. Catherine Standish übernimmt die Rolle der Anführerin und brennt auf einmal wieder mit voller Wattzahl. Und es zeigt sich, dass das überhebliche Scheusal Jackson Lamb zur Furie wird, wenn es darum gilt, seine Agenten zu beschützen, die zu Sündenböcken gemacht werden sollen. Aber nicht jeder aus Lambs Team wird es bis zum Ende hin schaffen.

Ab diesem Punkt überschlagen sich die Ereignisse und die Spannungskurve geht durch schnell wechselnde Perspektiven, die manchmal nur eine Seite dauern, und vielen unglaublichen, überraschenden Wendungen deutlich nach oben. Beim Duell mit der Vizedirektorin des MI5, der coolen, opportunen Diana Taverner, genannt Lady Di und dem abgebrühtem Schlitzohr Jackson Lamb brilliert Mick Herron mit großartigen pointierten Dialogen. Jetzt gelten Londoner Regeln, die besagen: Im Ernstfall rettet jeder seine eigene Haut.

Ich weiß nicht, ob die Darstellung der Spionage-Arbeit, im Besonderen die des britischen Geheimdienstes, besonders realistisch dargestellt wurde, aber ich wäre auf jeden Fall bei einem weiteren Band der in England mehrfach ausgezeichneten Serie dabei.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Slow Horses | Erschienen am 1. September 2018 bei Diogenes
ISBN 978-3-257-86-333-8
480 Seiten | 24.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen unseres .17specials Ein langes Wochenende mit… Spionageromanen.

Carlo Lucarelli | Italienische Intrige

Carlo Lucarelli | Italienische Intrige

Ein Agententhriller aus Bologna

Die Eingangsszene zeigt zwei höchst unterschiedliche Männer auf einer rasanten Autofahrt durch das Schneegestöber im eiskalten Januar 1954. Giannino, ein junger Mann von 22 Jahren, fährt die Aurelia, während sein Beifahrer, den er „Herr Ingenieur“ nennt, seinen Gedanken nachhängt. Er ruft sich die Worte seines Vorgesetzten in Erinnerung. Commendatore D’Umberto hat ihn einen Trüffelhund genannt, wo er doch solche mit dem Herz eines Bastards brauche. Er fragt sich, warum Crescas Frau nicht gleich umgebracht wurde. Und er spürt etwas zwischen Angst und Wut, wenn er an Claudia denkt. Und Begehren.

Ab dem zweiten Kapitel wird erzählt, was bis zu jener schicksalhaften Autofahrt geschah, wer Professor Cresca und seine Frau sind und wer Claudia. Und was Giannino und Ingenieur Morandi miteinander zu tun haben. Sie treffen sich zu Beginn des Romans zum ersten Mal, der frühere Kommissar De Luca ist aus Rom angereist um im Auftrag des Geheimdienstchefs D’Umberto den Mord an Stefania Mantovani aufzuklären, der Witwe des Professors Mario Cresca, der vor zwei Monaten bei einem Autounfall ums Leben kam. Er ist also kein Ingenieur, aber über seinen Partner Giannino weiß er auch nichts, nicht einmal ob das sein Vor- oder Nachname ist, oder sein richtiger oder ein falscher. Geheimagenten eben.

Als erstes nehmen die beiden den Tatort unter die Lupe, eine Absteige in einem alten Haus am Kanal, eine Mansarde hatte der Professor sich zu einem Liebesnest eingerichtet. Hier traf er sich mit Frauen, spielte seine Jazzplatten, feierte mit Musikern, es wurde getrunken und gespielt und wohl auch Drogen konsumiert, wie eine Nachbarin bezeugt. Jetzt herrscht hier ein heilloses Durcheinander, die Platten des Professors liegen verstreut am Boden, überall sind Blutspuren, es hat offensichtlich ein Kampf stattgefunden. Davon zeugen auch die Verletzungen des Opfers Stefania Cresca. Letztlich aber starb sie durch ertränken in der Badewanne. De Luca lässt einige Beweise sichern, auch blutige Spuren von nackten Frauenfüßen, vor allem aber ein Farbband aus einer alten Remington und einen Papierfetzen, der von einem Kuvert mit dem Absender Mario Cresca abgerissen wurde. Die Beamten der Einsatzpolizei hatten offenbar nicht sehr sorgfältig gearbeitet.

Die Nachbarin, von De Luca befragt, berichtet, dass sie die Witwe Cresca nur einmal gesehen habe, als diese sie bat, ihre Wäsche zu waschen, da sie doch in der Wäscherei arbeite. Sie habe gar nicht gewusst, dass der Professor verheiratet war, sie habe angenommen, „Facetta Nera“, das „Schwarze Gesichtchen“ sei seine Freundin. Die junge Frau aus Abessinien habe sie häufig ein- und ausgehen sehen. Als sie die Bettbezüge, Laken und Handtücher zurückgeben wollte, habe sie durch die offene Tür das Tohuwabohu entdeckt, ihr Mann habe dann die Tote entdeckt und die Polizei gerufen. Der kleine Sohn der beiden allerdings hat etwas beobachtet, als er durch den Spalt der Gemeinschaftstoilette spähte. „Teufelsfratze“ nennt er den Mann, der aus der Mansarde kam, und den er recht genau gezeichnet hat, mit einem großen, schwerfälligen Körper, einem schiefen Auge, das tiefer liegt als das andere, mit spärlichen, blonden Haaren. Ist er der Mörder?

De Luca versucht, aus dem Gesehenen, dem Gehörten und Gefundenen einen Tathergang zu konstruieren, auf dem Farbband sind deutliche Anschläge zu erkennen, er entziffert die Buchstaben „DOTT. PIRRO ORES“. Wer ist dieser Doktor? Giannino findet heraus, dass Stefania Cresca in kurzer Zeit sechsmal mit der Apotheke Scaglianti telefoniert hat. Besteht da ein Zusammenhang? Auf der Beerdigung der Ermordeten wollen sie mehr erfahren. Es stellt sich heraus, dass die Witwe des Professors nicht besonders beliebt war, unsympathisch, ungebildet, rasend eifersüchtig. Mario Cresca hingegen hatte einen untadeligen Ruf, war überall angesehen und geachtet. Der leidenschaftliche Jazzfan hatte nach Reisen in die USA eine Band zusammengestellt, deren Mitglieder aus aktuellen und ehemaligen Studenten besteht, Alma Mater. Hier spielt Aldino Scaglianti Saxophon, nach dem Tod des Profesors hatte er sich seiner Witwe angenähert. Bei den beiden Agenten klingelt etwas, sie machen sich auf zu einem Auftritt der Band.
Die spielt mehr schlecht als recht, wie Musikliebhaber und -kenner Giannino feststellt, aber die Sängerin der Kapelle ist eine Offenbarung. Sie hat eine großartige Stimme und eine unglaubliche Ausstrahlung, ist jung, hübsch und hat dunkle Haut. Facetta Nera, die Abessinierin, heißt Claudia und De Luca verliebt sich in die Schöne aus Asmara, die mit zweieinhalb Jahren nach Italien kam. Sie ist Claudia und Franca, Italienerin und Afrikanerin, singt Jazz und Bologneser Lieder, sie ist hin- und hergerissen. Franca heißt sie, wenn sie im Orchester Paride Canè ihres Vaters italienische Schlager und Folklore zum Besten gibt, traditionelle Lieder und aktuelle Gassenhauer. Sie glaubt nicht, dass der Tod ihres Freundes Mario ein Unfall war. Sie schildert den Professor für Physik als faszinierenden, außergewöhnlichen Menschen, als Genie, außerdem sei er sensibel und witzig gewesen. De Luca nimmt sich vor, die Umstände seines Todes näher zu untersuchen, auch er glaubt nicht an einen Unfall.

De Luca trifft sich mit einem alten Kollegen, der die ersten Untersuchungen am Ort des Geschehens durchgeführt hat, kommt Merkwürdiges zutage: Professor Cresca ist eindeutig als Unfallverursacher festgestellt worden, er ist bei einem Überholmanöver mit seinem Spider Coupé unter einen schweren Dodge geraten, auch sein kleiner Neffe auf der Rückbank war sofort tot. Der Fahrer des Dodge will allerdings später bei den Ermittlern etwas loswerden, dazu kommt es nur nicht, weil er bei einem mysteriösen Sturz in den Aufzugschacht stirbt. Und ein kleiner Junge im Wagen hinter dem Professor erinnert sich an das Gesicht eines Motorradfahrer, der ebenfalls beteiligt war. Er hatte eine Teufelsfratze!

Als De Luca seinem Vorgesetzten seinen Verdacht vorträgt, winkt der ab. Der Dienst sei an einer Aufklärung nicht interessiert, es gehe lediglich um den Mord an Signora Cresca. Das Verhalten seines Chefs gibt De Luca zu denken, und plötzlich misstraut er auch seinem Partner. Er ist mit fast vierzig Jahren annähernd doppelt so alt wie Giannino und verfügt über eine entsprechende Erfahrung durch seine Arbeit bei der Staatspolizei, dann als Kommissar der Einsatzpolizei „bester Detektiv Italiens“ und später als Direktor der Sitte in Bologna. Entsprechend gut kennt er auch die Stadt und die Menschen der Emiglia Romagna. Daher lässt er keinen Zweifel daran, wer bei dieser Untersuchung der Chef ist und wer Assistent. Es wird so gemacht, wie es ihm passt, in seinem Tempo, nach seinen Maßgaben, auch wenn es sein erster Einsatz für den Geheimdienst ist.

Man hat ihn überraschend in die Pflicht genommen, wohl auch, weil er gerade verfügbar ist. Während der Besetzung Italiens durch das Deutsche Reich und unter dem wieder eingesetzten Benito Mussolini hatte er weiter als Polizist gearbeitet. Er war, wie er sagt, kein Faschist oder er war einer wie alle anderen, aber vor allem einfach nur Polizist. Aber nun wartet auf ihn ein Prozess zur Klärung seiner Nazi-Vergangenheit und bis zu dessen Beginn ist er seit fünf Jahren beurlaubt. Er leidet deshalb an Schlaflosigkeit und Essstörungen. De Luca ist wortkarg und verschlossen, ja unnahbar, dabei tritt er dominant, beherrschend auf, und er ist unerschütterlich, wenn es gilt, seine Ziele zu verfolgen. Er will unbedingt wissen, was es mit den Morden an Professor Cresca und seiner Frau auf sich hat, und er will herausfinden, welche Rolle sein neuer Arbeitgeber in diesem undurchsichtigem Fall spielt. Er ahnt bereits, dass es bei all diesen kriminellen Vorgängen um schmutzige Geschäfte auf politischer Ebene geht. Dabei misstraut in diesen Kreisen jeder jedem, und am Ende bleiben fast alle auf der Strecke, denn es stellt sich schließlich heraus, dass mehrere Beteiligte auf unterschiedlichen Seiten buchstäblich über Leichen gehen.

Bis De Luca die Zusammenhänge klar sind, gibt es für ihn und Giannino einiges zu ermitteln und aufzudecken, wobei sie nicht immer die richtigen Schlüsse ziehen. Das Miteinander und zuweilen auch Gegeneinander des erfahrenen Polizisten, verbittert, häufig gereizt und grantig auf der einen Seite und des unbekümmerten, enthusiastischen, lebenslustigen jungen Agenten auf der anderen hat Charme und trägt nicht unerheblich zum hohen Unterhaltungswert der Story bei, die allein schon aufgrund des örtlichen und mehr noch zeitlichen Hintergrunds Interesse weckt. Der zweite Weltkrieg liegt nicht lange zurück und der kalte Krieg hat begonnen. Lucarelli hatte einen famosen Einfall, um uns das Lebensgefühl und die besonderen Umstände dieser spannenden Epoche nahe zu bringen. Mehrmals untermalt er seine Geschichte mit Inhaltsangaben verschiedener Magazine und Illustrierten, die ein sehr interessantes Schlaglicht auf die Zeit werfen und auf das, was die Öffentlichkeit damals interessierte und bewegte.

Bologna ist zu jener Zeit trotz der Kriegsschäden offenbar eine sehr schöne Stadt, die Lucarelli auch entsprechend in Szene setzt. Das Straßenbild wird bestimmt durch die schönen alten Automobile der Nachkriegszeit, fast ausschließlich italienische Modelle, an denen Lucarelli offenbar Gefallen findet, häufig und oft ausführlich beschreibt er die Fahrzeuge. So tragen die Lancias und Fiats und Alfa Romeos, die Topolinos und Giuliettas dazu bei, die Stimmung jener Jahre einzufangen, wie auch die leiblichen Genüsse, denen vor allem Giannino sich mit Vorliebe widmet, einschließlich ungezählter Caffè und Cappuccini. Hinzu kommen musikalische Belege für die frühen fünfziger Jahren, viele Zitate der zeitgenössischen italienischen leichten Muse rund um die Stars des wichtigen Sanremo-Festivals vermitteln dem Leser das besondere Gefühl jener Zeit, die ja auch eine Epoche des Aufbaus und des Aufbruchs ist.

Mehr noch als von der stimmigen Atmosphäre, der realistischen Wiedergabe jener oft auch düsteren Jahre, dem zwielichtigen Milieu der unterschiedlichen Geheimdienste und ihrer Agenten, die bei ihrem schmutzigen Geschäft gezeigt werden, lebt der Roman von seinen starken und sehr lebendigen Figuren, die Lucarelli äußerst präzise und plakativ ausgeführt hat und die beim Leser unwillkürlich Emotionen hervorrufen. Und natürlich von der Spannung, die durchgängig von Beginn an bis zum letzten Kapitel anhält. Nur selten wird der geradlinig vorangetriebene, gut strukturierte Plot unterbrochen von Einlassungen zum Innenleben De Lucas, etwa dann wenn ihm Zweifel an seinem Tun kommen oder wenn er unsicher ist, was seine Gefühle für Claudia betrifft. Wie es sich für einen Roman gehört, der in Bella Italia spielt, gibt es aber auch heitere Momente, optimistische, lebensbejahende Augenblicke, die Leichtigkeit vermitteln und Zuversicht verbreiten. Auch das kann Lucarelli hervorragend. An dieser Stelle ein großes Lob der Übersetzerin Karin Fleischanderl, die den wunderbar ungezwungenen und doch packenden, modernen Stil des Autors perfekt trifft und den mal unbeschwerten, mal lakonischen Ton des Originals kongenial wiedergibt.
Mit der Reihe um Kommissar De Luca ist ihm ein großer Wurf gelungen, die Krimis aus Bologna gehören zweifellos zum Besten, was das Genre zur Zeit nicht nur in Italien bietet.

 

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

Italienische Intrige | Erschienen am 21. August 2018 im Folio Verlag
ISBN 978-3-85256-753-2
224 Seiten | 18.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Volker Klüpfel & Michael Kobr | Kluftinger Bd. 10

Volker Klüpfel & Michael Kobr | Kluftinger Bd. 10

Einen Kluftinger-Krimi im wahrsten Sinne des Wortes kredenzen uns die beiden Autoren Volker Klüpfel und Michael Kobr zum Jubläum: zum zehnten Mal ermittelt der Allgäuer Kommissar auf seine unnachahmliche Art, diesmal sogar in eigener Sache.

Kommissar Kluftinger aus Altusried im Allgäu hat mittlerweile reichhaltige Erfahrungen in der Ermittlungsarbeit vorzuweisen. So scharfsinnig er seine Fälle löst , so tollpatschig ist er oft, technischen Neuerungen nicht gerade aufgeschlossen gegenüber und immer bereit, in so manches Fettnäpfchen zu treten. Gegen die gut gemeinten Bevormundungen seiner Eltern und seiner Frau kommt er nicht wirklich an, obwohl er mittlerweile stolzer Opa ist. Sein spezieller „Freund“ ist der stets allwissende und sich einmischende Dr. Langhammer (in diesem Buch auch noch Besitzer eines aufdringlichen Hundes), den er immer wieder versucht, außen vorzulassen – was ihm allerdings auch nicht gelingt. In Kluftiger erfahren wir sogar seinen bisher unbekannten vollen Vornamen. In seiner Freizeit spielt er die große Trommel in der örtlichen Musikkapelle und wirkt bei einem Laienspieltheater mit. Eine besondere Vorliebe hat er für die Kässpatzen seiner Frau Erika und seinen uralten VW Passat.

Kluftinger wird beim alljährlichen Friedhofsrundgang mit seiner Familie zu Allerheiligen auf eine immer größer werdende Menschenansammlung aufmerksam; eine sich aus der Menge lösende Frau stößt bei seinem Anblick einen spitzen Schrei aus. Natürlich will er nun wissen, was da los ist. Als er es endlich bis zu dem frisch angelegten Grab geschafft hat, wird ihm ganz anders: auf dem Holzkreuz steht sein eigener Name. Ist das nun ein dummer Streich oder hat es jemand auf ihn abgesehen?

Eine erste Spur tut sich auf, als er einen Anruf von Heinz Rösler erhält, einem ehemals legendären Seriendieb, der ihm bei der Aufklärung bei einem seiner spektakulärsten Fälle, einem Kunstraub, geholfen hatte. Rösler teilt ihm mit, dass der an diesem Kunstraub beteiligte Albert Mang, genannt der Schutzpatron, wieder in der der Nähe ist und eventuell hinter der Sache stecken könnte. Als Kluftinger von Dr. Langhammer (natürlich) darauf aufmerksam gemacht wird, dass es sich bei dem Spruch auf dem Kreuz um ein Zitat von Albertus Magnus handelt, ist Kluftiger sich ziemlich sicher, dass Rösler ihn auf die richtige Spur gebracht hat. Dazu passt auch, dass in einem Museum oberhalb des Kochelsees ein wertvolles Gemälde, das den Friedhof (!) von Kochel darstellt, trotz hochmoderner Sicherheitsvorkehrungen gestohlen wurde.

Kurz darauf taucht in der Zeitung eine Todesanzeige mit seinem Namen und dem Spruch „We’ll fly you to the promised land“ auf, ein Spruch, der ihn an ein Ereignis in seiner Jugend erinnert, ein dunkles Kapitel, dass er bisher erfolgreich verdrängt hatte.

Die anderen fünf erhoben sich, bildeten einen Kreis, und jeder streckte die rechte Hand so in die Mitte, dass sie sich alle über der Glut trafen. Ich schwöre, über die Sache heute abend mit niemandem außer der Clique zu sprechen, egal, was kommt. Für immer und ewig. Auf Leben und Tod“, sagte Hotte eindringlich, und alle sprachen die Worte murmelnd nach. (Seite 151)

Das damals erlebte war wohl für Kluftinger auch mit einer der Gründe, später in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und ebenfalls Polizist zu werden. Im weiteren Verlauf der Handlung taucht noch ein weiterer Hinweis des Täters auf: in der Kirche findet seine Mutter beim Rosenkranzgebet Sterbebildchen, darauf ein ca. dreißig Jahre altes Foto von Kluftinger.

Das Bild sah aus, als habe man es von einem anderen kopiert. Er stutzte. War das nicht das Portrait, das er beim Fotografen hatte machen lassen, für seinen ersten Dienstausweis als Steifenpolizist? Es war auch einmal in einer Zeitung veröffentlicht worden, damals, bei seinem ersten großen Fall am Funkensonntag. Dieser grauenvollen Geschichte, in die er nur durch Zufall hineingeraten war und die doch so viel verändert hatte. (Seite 279)

Kluftinger hat es somit gleich mit Spuren zu drei alten Fällen zu tun, die einen eventuellen Täter veranlassen könnten, ihm nach dem Leben zu trachten.

In Kluftinger, dem mittlerweile zehnten dieser Reihe, geben die Autoren auch Einblick in die Jugendzeit von Kommissar Kluftinger, sowohl in negative (mit seiner alten Clique) als auch in positive Ereignisse; sehr schön der mit Augenzwinkern geschilderte erste Besuch seiner damaligen Freundin Erika (seiner jetzigen Ehefrau) bei seinen Eltern, aber auch die erste Begegnung mit seinem späteren, damals noch jugendlichen, Intimfeind Dr. Langhammer. Man erfährt auch, wie Kluftinger durch seine Mitarbeit in einem spektakulären Mordfall vom einfachen Steifenpolizisten zum Kripobeamten wird und dass er einstmals die Bewerbung eines mittlerweile auch berühmten Kommissars (ein wunderbarer Seitenhieb der Autoren, gemeint ist der Garmisch-Partenkirchener Kommissar Jennerwein, Alpenkrimilesern wahrscheinlich ebenfalls bestens bekannt) als neuer Mitarbeiter für sein Team abgelehnt hat. Auch die bisher bekannten Sticheleien unter den Kollegen sind wieder dabei, allerdings muss sich Eugen Strobl bei den Autoren irgendwie unbeliebt gemacht haben. Der kommt diesmal ziemlich schlecht weg, andererseits spielt er aber auch eine bedeutende Rolle, als es für Kluftinger gefährlich wird.

Was den Plot besonders auszeichnet, ist die Verknüpfung von bisherigen Fällen des Kommissars, sowohl von uns Lesern bisher unbekannten Mordfällen als auch dem aus Band sechs (Schutzpatron) bekannten Kunstraub. Mit dieser genialen Idee, die Kluftingers neuen Fall zwischen Vergangenheit und Gegenwart ansiedelt und nicht nur den Kommissar, sondern auch uns Leser immer wieder von einer augenscheinlich sicheren Spur abbringt, haben die Autoren etwas besonderes für den Jubiläumsfall geschaffen.

Die auch in der Vergangenheit unterschiedlichen Handlungsstränge sind in einem sich stetig steigernden Spannungsbogen verknüpft. Aber auch der aus den bisherigen Romanen bekannte Humor kommt nicht zu kurz. Etwas, was mir immer sehr gut gefällt, weil er Kluftinger auch sehr sympathisch macht: ein gewiefter Kommissar mit Fehlern und Schwächen, die er nicht so gerne zugibt (zum Beispiel die Schwierigkeiten des Enkelhütens, denen er versucht, mit technischen Möglichkeiten Herr zu werden), ihn aber sehr menschlich rüberkommen lassen.

Fazit: Alles in allem ein sehr gelungener Roman, Lesevergnügen pur. Für mich mit einer der besten der Reihe und auf jeden Fall empfehlenswert. Ob der Schlussabsatz bereits auf den nächsten Fall hinweist? Ich bin gespannt!

Volker Klüpfel, Jahrgang 1971, stammt wie der Kommissar aus Altusried und lebt mit seiner Familie im Allgäu, studierte in Bamberg Politikwissenschaft und Geschichte. Nach einer Tätigkeit bei einer Zeitung in den USA, der Augsburger Allgemeinen und beim Bayrischen Rundfunk entschied er sich jedoch endgültig für die Schriftstellerei.
Michael Kobr, Jahrgang 1973, geboren in Kempten/Allgäu, lebt mit seiner Familie im Unterallgäu, studierte in Erlangen Germanistik und Romanistik und arbeitete zunächst als Realschullehrer, diese Tätigkeit gab er (zum Glück) zugunsten der Schriftstellerei auf.

Die bisherigen Bücher brachten ihnen bereits mehrfach Auszeichnungen ein; mittlerweile halten sie an unterschiedlichsten Orten stets gut besuchte Lesungen mit schauspielerischem Einsatz, vor kurzem lieferten sie sich sogar in SAT 1 ein Krimi-Duell mit einem tatsächlichen Ermittler, das sie – wenn auch knapp – gewannen. Man darf auf Weiteres gespannt sein.

 

Rezension und Foto von Monika Röhrig.

Kluftinger | Erschienen 27. April 2018 bei Ullstein
ISBN 978-3-550-08179-8
480 Seiten | 22.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

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