Bailey Seybolt | Coram House

Bailey Seybolt | Coram House

Seit ich hier bin, habe ich mich als Unbeteiligte gesehen, die von außen auf die Geschichte schaut. Als eine neutrale Reporterin, die nichts mit der Geschichte zu tun hat. Doch das stimmt nicht mehr. Ich kann nicht sagen, wann genau es sich geändert hat. Vielleicht, als ich den Schrei im Wald gehört habe. Vielleicht heute Morgen, als ich Rooneys Leiche gefunden habe. (Auszug Position 4124 von 5095)

Im Mittelpunkt des Thriller-Debüts steht die frisch verwitwete Autorin Alex Kelley, die grade eine schwere Zeit durchlebt. Einst für ihre True-Crimes gefeiert, war sie mit ihrem letzten Roman aufgrund von Recherchefehlern in Misskredit gefallen. Hoffnungsvoll nimmt sie das Angebot an, als Ghostwriterin über die tragischen Ereignisse in einem von Nonnen und Priestern geführtem Waisenhaus namens Coram House im ländlichen Nordosten der USA zu schreiben und sich damit zu rehabilitieren. Es geht um einen vor Jahrzehnten vorgefallenen Missbrauchsskandal, dessen Gerichtsprozess in den 80er Jahren mit einem Vergleich endete. Der ehemalige Chefermittler und mittlerweile pensionierte Rechtsanwalt Alan Stedsan möchte sein Vermächtnis literarisch aufbereiten, besteht aber auf einer Verschwiegenheitsklausel, um sich die absolute Kontrolle über das Endprodukt vorzubehalten.

Alex reist ins winterliche Vermont und schon die ersten Akteneinsichten in alte Zeugenprotokolle deuten auf einen brisanten Fall hin. Generationen von Kindern wurden einer harten Erziehung ausgesetzt, es geht um Missbrauch, Misshandlungen und einem angeblichen Todesfall. Vor allem das Schicksal des damals neunjährigen Tommy, der an einem heißen Tag im Jahr 1968 spurlos verschwand, lässt Alex nicht mehr los. Sie verbeißt sich in den Fall, befragt ehemalige Waisenkinder, bekommt Unterstützung durch die Polizei, doch dann findet sie beim Joggen die Leiche einer Frau im See. Sie ist davon überzeugt, dass der Tod mit der dunklen Vergangenheit Coram Houses zusammenhängt und sie jemandem zu nahegekommen ist.

Coram House ist ein typischer Destination-Thriller, in dem der Schauplatz, das trostlose, inzwischen verlassene Kinderheim die Hauptrolle spielt und die bedrückende Stimmung enorm verstärkt. Das verschneite Vermont mit dem zugefrorenen Lake Champlain in der klirrenden Winterkälte ist treffend eingefangen. Alex als Protagonistin und Ich-Erzählerin ist der allzu bekannte Typ der „kaputten“ Thriller-Protagonistin. Sie reagiert oft überspannt, nervt die Polizei, trifft falsche Entscheidungen, bei denen sie unnötige Risiken eingeht und kreist um sich selbst. Sie trinkt zu viel, hat den zu frühen Tod ihres Mannes noch nicht überwunden und natürlich joggt sie exzessiv. Ihre Besessenheit, Tommys Schicksal zu klären war für mich nicht wirklich nachvollziehbar. Gleichzeitig ist der Rechtsanwalt wenig kooperativ, seine Motivation, das Buch schreiben zu lassen, undurchsichtig.

Spannungstechnisch würde ich es als Slow-Burn bezeichnen, es ist eher mysteriös, teilweise zu dramatisch und pathetisch erzählt. Die Handlung entwickelt sich mit unerwarteten, teilweise konstruierten Wendungen, die in einem unvorhersehbaren, aber nicht abwegigen Ende gipfeln. Unterbrochen wird die gegenwärtige Geschichte immer wieder durch Vernehmungsvideos aus den 80ern, die sich organisch in die Handlung einfügen und einen erschütternden Blick auf die Zustände und Grausamkeiten in dem katholischen Kinderheim geben.

Die Autorin Bailey Seybolt studierte u.a. kreatives Schreiben an der Concordia University und lebt heute mit ihrer Familie in Vermont, nicht weit vom Lake Champlain entfernt. Ihr fiktionaler Debüt-Roman wurde von einer historischen Geschichte inspiriert.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Coram House | Erschienen am 11. September 2025 im dtv Verlag
ISBN 978-3-423-26431-0
384 Seiten | 17,- Euro
Originaltitel: Coram House | Übersetzung aus dem Englischen von Susanne Goga-Klingenberg
Bibliografische Angaben & Leseprobe

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