Autor: Nora

Liza Cody | Die Schnellimbissdetektivin

Liza Cody | Die Schnellimbissdetektivin

Beschatte ich einen verlogenen, treulosen Saftsack für eine verunsicherte, tränenblinde Klientin, oder arbeite ich für eine, die seit Ewigkeiten weiß, dass ihre Ehe eine rottende Leiche ist, aber den verlogenen, treulosen Saftsack drankriegen will, um das Haus und den Löwenanteil des gemeinschaftlichen Eigentums zu behalten? (Auszug Seite 5)

Hannah Abram ist fürs Stillsitzen nicht gemacht. Schlecht für die ehemalige Polizistin der Metropolitan Police, die sich neben ihrer Tätigkeit in einer Imbissbude mit kleinen privaten Ermittlungen durchschlägt. Und da gehören öde Überwachungsstunden bei der Beschattung untreuer Ehemänner eben dazu. Es sind kleine, für die Polizei zu belanglose Fälle, die Hannah lösen muss. Da gibt es den Kleingarten-Verein, dem das Biogemüse geklaut wird, für einen attraktiven Gentleman sucht sie die weggelaufene Ehefrau und für einen jungen Mann mit Zwangsstörungen macht sie sich auf die Suche nach seiner Stiefschwester, die in dubiose Machenschaften verwickelt zu sein scheint. Und dann ist da noch der Straßenjunge BZee, den sie heimlich durchfüttert und ihn weggelaufene Hunde und geklaute Fahrräder wiederfinden lässt, wobei wiederfinden ein dehnbarer Begriff ist.

Als ein höflicher Senior sie in einem Waschsalon anspricht, weil ihm nächtlich Müll vor die Tür gekippt wird, nimmt Hannah den Auftrag an und gerät beim nächtlichen Observieren seiner Wohnung in das Visier einer eifersüchtigen Nebenbuhlerin. Der alte Herr hat ihr einiges verschwiegen, unter anderem, dass er ein bekannter Rockstar war und die hartnäckige Verehrerin beginnt, Hannah zu stalken und öffentlich vor der Imbissbude wüst zu beschimpfen. Kurz darauf wird die ältere Dame ermordet im Volkspark nahe der Imbissbude aufgefunden. Für die Aufklärung ist die Polizistin Chloe Mwezi zuständig und hat es als weibliche Vorgesetzte bei der MET ebenso schwer wie einst Hannah. Auch sie hatte unter Sexismus ihrer männlichen Kollegen zu leiden und war wegen einer Wutatacke gegen ihren Chef in Ungnade gefallen.
Die Endzwanzigerin lebt nun in einer kleinen Dachkammer bei zwei strengen, veganen Lehrerinnen (Rauchen, Trinken, Fleisch und Männer verboten) und kämpft sich mühsam von Miete zu Miete. Im Sandwich Shack am Volkspark schuftet sie hart für einen Hungerlohn und darf ab und zu das Büro hinter der Küche für ihren Detektiv-Job benutzen. Ihr Chef Digby ist ein „erzbigotter Ausbeuter“ und menschenverachtender Egomane. Dabei brauchen die beiden einander, Hannah den Job und Digby sie als zuverlässige Kraft. Digby wird sehr überspitzt dargestellt, aber die Wortgefechte der beiden gehören zu den Höhepunkten der Lektüre.

Normalerweise treffe ich Klienten außerhalb der Arbeitszeit im Büro hinter der Küche. Aber ich kann mit Digby nicht über Bürozeiten verhandeln, nachdem ich seine Nase und seine Hämorrhoiden im selben Satz verwurstet habe. (Auszug Seite 8 und 9)

Die Schnellimbiss-Detektivin Hannah Abraham ist clever und profitiert von ihren Erfahrungen als Ermittlerin, auch wenn es ihr manchmal an Menschenkenntnis fehlt und sie sich von charmanten Klienten einwickeln lässt. Auf ihre Mitmenschen wirkt die Ich-Erzählerin manchmal schroff, spröde und auch unfreundlich, hat aber das Herz auf dem rechten Fleck. Sie macht sich viele Gedanken um BZee, der noch ein Kind ist, jedoch in die Kleinkriminalität abzurutschen droht. Er braucht eindeutig Fürsorge, Hannah kann sich aber nicht dazu durchringen, ihn den Gerichten zu überlassen. Von ihrem Exfreund wird sie immer noch terrorisiert. Nach und nach erfährt man weitere Gründe für ihre Wut, die sie gerne an ihre Kunden und besonders an Digby rauslässt.

Liza Cody, geboren 1944 in London erzählt von den Nöten und Sorgen der kleinen Leute. Und dabei unterhält sie ganz großartig mit trockenem, schwarzem Humor und schiebt fast beiläufig und ohne viel Theatralik sozialkritische Themen ein. Sie beschreibt London nach Brexit und Covid als eine Metropole, die unter Klimaproblemen leidet, in die Wohlfahrtsläden die Geschäftsstraßen beherrschen und die Heldin spürt, dass Armut und Mangel sie umkreist. Dabei geht es immer um die unteren Klassen und Figuren am Rande der Gesellschaft, auf die die britische Autorin mit viel Empathie guckt. Und im Besonderen auf Frauen, die von Männern schikaniert werden. Die vielen authentischen Charaktere, unterschiedlichen Fälle sowie der schräge Plot ergeben einen wilden Ritt, nichtsdestotrotz ist ein amüsanter, unterhaltsamer und nie oberflächlicher Kriminalroman entstanden. Dass sich der Kriminalroman so flüssig weglesen lässt, ist sicher auch ein Verdienst der stimmigen Übersetzung durch Iris Konopik.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Die Schnellimbissdetektivin | Erschienen am 27. Mai 2024 bei Ariadne im Argument Verlag
ISBN 978-3-867-54275-3
352 Seiten | 18.- Euro
Originaltitel: The Short-Order Detective | Übersetzung: Iris Konopik
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Romanen von Liza Cody auf Kaliber.17

Rezensions-Doppel Christoffer Carlsson | Was ans Licht kommt & Wenn die Nacht endet (Band 2 & 3)

Rezensions-Doppel Christoffer Carlsson | Was ans Licht kommt & Wenn die Nacht endet (Band 2 & 3)

Der schwedische Autor Christoffer Carlsson ist der neue Shootingstar der renommierten schwedischen Krimiszene. Geboren in Halmstad an der schwedischen Westküste, eine Landschaft auf die er später in seiner aktuellen Romanreihe zurückkommt. Er ist studierter Kriminologe, widmete sich aber schnell nach seinem Studium der (Kriminal)-Literatur. Direkt sein Krimidebüt „Der Turm der toten Seelen“ wurde 2013 mit dem schwedischen Krimipreis ausgezeichnet, weitere Auszeichnungen folgten. Carlsson wurde mir mehrfach empfohlen, zuletzt der zweite Roman der „Halland“-Reihe „Was ans Licht kommt“. Kurz danach hatte ich Gelegenheit, auch den dritten Band „Wenn die Nacht endet“ zu lesen, somit gibt es an dieser Stelle eine Doppelrezension.

Was ans Licht kommt

Die Geschichte wird in mehreren Zeitebenen von einem Ich-Erzähler erzählt, einem Schriftsteller, der in einer kleinen Lebenskrise sich wieder nach Halland in die alte Heimat begibt, um dort einen True-Crime-Roman zu verfassen. Er wählt die Geschichte des Mordfalls Stina Franzén aus und die Obsession des örtlichen Polizeibeamten Sven Jörgensson, den Mörder zu finden. Der Mordfall ereignet sich am späten Abend bzw. in der Nacht des 28. Februar 1986. Für alle Schweden ein JFK-Moment, denn an diesem Abend wird Ministerpräsident Olof Palme von einem Attentäter erschossen. Der Palme-Mord überschattet den Fall in der Provinz. Der zuständige Beamte Jörgensson erhält einen anonymen Anruf vom Täter, in dem dieser weitere Taten ankündigt. Tatsächlich verschwindet kurz darauf wieder eine junge Frau, Frida Östmark. Doch sie bleibt verschwunden, wie auch lange der Täter. Sven Jörgensson wird schließlich krank über der Suche und vererbt seine Obsession schließlich an seinen Sohn Vidar, ebenfalls Polizist.

Durch diese Notizen sah Vidar seinen Vater in einem deutlicheren Licht, als er in jemals auf der anderen Seite des Küchentischs, am anderen Ende des Sofas oder neben sich im Auto gesehen hatte. Manche Verbrechen weichen nicht vom Fleck, ehe sie aufgeklärt sind. Und scheitert man, wird es einen für alle Zeiten prägen.
Was hier oben geschehen war, hatte seinen Vater regelrecht aufgezehrt. (Auszug Seite 308)

Das große Motiv des Romans ist das Scheitern, den Opfern durch Aufklärung eines Kriminalfalls Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, das vergebliche Mühen nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Sühne. Das Ganze bereitet Carlsson unglaublich präzise auf, in dem er die Geschichte von Vater und Sohn Jörgensson erzählt, die alles tun, um Gerechtigkeit herzustellen und doch dabei scheitern. Der Vater bezahlt es sogar mit Krankheit und Tod. Dabei schwelt neben den Fällen im ländlichen Halland immer der große Palme-Fall im Hintergrund, der das Vertrauen der schwedischen Bevölkerung in Polizei und Justiz fundamental erschüttert hat.

Christoffer Carlsson bedient sich dabei einer sehr klugen Gesamtkomposition mit einer cleveren Rahmenhandlung, in der der Autor als Ich-Erzähler letztlich selbst zum Ermittler wird und am Ende eine weitere Pointe dem Roman hinzufügt. Ein herausragender Kriminalroman, der sehr versiert und mit leiser Sohle Hintergründe, gesellschaftliche Stimmungen und die Psychologie der Figuren offenlegt.

Wenn die Nacht endet

Vidar Jörgensson begegnet uns auch im dritten Halland-Roman, wenn auch erst recht spät in der Geschichte. Diese beginnt im Dezember 1999, kurz vor der Jahrtausendwende. Die Jugend Hallands bereitet sich auf große Festivitäten vor, die ältere Bevölkerung ist teilweise leicht hysterisch, hebt in Sorge vor dem Millenniumscrash das Ersparte von der Bank ab. In einer Nacht in den Weihnachtstagen kommt es im Dorf Skavböke zu einer tragischen Nacht: Nach einer Party wird der 18jährige Mikael Söderström erschlagen aufgefunden, gleichzeitig wurde das Ersparte einer Bauernfamilie geraubt. Das Dorf ist erschüttert, der Verdacht liegt nahe, dass der Täter einer der weiteren Jugendlichen ist. Ins Visier gerät ein ungleiches Freundespaar: Killian Persson und Sander Eriksson. Weitere tragische Ereignisse erschüttern in den nächsten Wochen im wahrsten Sinne des Dorf. Doch erst zwanzig Jahre später kommt die Wahrheit über die Ereignisse von damals als Licht.

Als man aufwuchs, waren die Wege und Pfade so selbstverständlich wie die Menschen, die alten Steinmauern und die Häuser. Die Welt ringsum war schon immer da gewesen, und so würde es immer bleiben. […] Es gab kein Ende, und es war unmöglich, dass etwas oder jemand eines Tages nicht mehr existieren, nicht mehr da sein sollte.
Dann holte der Tod Mikael, und alles veränderte sich. (Auszug E-Book Pos. 886)

Auch dieser Roman zeugt von der enormen Fähigkeit Carlssons, in die Psychologie seiner Figuren einzutauchen. Das Buch erzählt von der Jugend und dem (manchmal abrupten) Erwachsenwerden, von Freundschaft, Verrat, Schuld und Vergebung. Und wieder schwingt im Hintergrund auch eine gesellschaftliche Komponente mit. Für meinen Geschmack war dieser Roman manchmal eine Spur zu langsam erzählt. Zudem bringt Jörgensson hier einige Wendungen bzw. Zufälle, die mir einen Tick too much waren. Dennoch wiederum ein guter Roman des schwedischen Autors und auch in der Form des Regionalkrimis eine wohltuende Alternative zum schematisch gewordenen Nordic Noir.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Was ans Licht kommt | Die aktuelle Taschenbuchausgabe erschien am 12.09.2023 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-86648-701-7
492 Seiten | 14,- €
Originaltitel: Brinn mig en sol | Übersetzung aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Wertung: 4,5 von 5

Wenn die Nacht endet | Erscheinen am 14.05.2024 im Kindler Verlag
ISBN: 978-3-463-00061-9
464 Seiten | 24,- €
Originaltitel: Levande och döda | Übersetzung aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Wertung: 3,5 von 5

Weiterlesen: Kurts Rezensionen der Leo-Junker-Reihe von Christoffer Carlsson

Don Winslow | City In Ruins (Band 3)

Don Winslow | City In Ruins (Band 3)

Danny wird von Paranoia gepackt, er stellt sich ein Fadenkreuz auf seinem Hinterkopf vor, auf seiner Stirn. Angst steigt in ihm auf – oder ist es Instinkt, sein gutes Gespür? Er rutscht tiefer in seinen Sitz, öffnet das Handschuhfach und nimmt seine Sig Sauer 380 heraus. Vielleicht hatte Jimmy recht. Vielleicht hatten sie alle recht. Das ist eine Falle. (Auszug E-Book Pos. 3486)

Im dritten und finalen Band lebt Danny Ryan bereits über 10 Jahre in Las Vegas, hat sich als seriöser Geschäftsmann etabliert, kümmert sich um seinen Sohn Ian und hat seit einiger Zeit eine bisher noch heimliche Liebesbeziehung zu einer Professorin. Beruflich sehr erfolgreich hat er sich ein Casino- und Hotelimperium aufgebaut. Aufgrund seiner früheren Verbindungen zur Mafia, tritt er offiziell nur als Geschäftsführer der Tara-Group auf, die zwei Bauunternehmern aus Missouri gehört. Dabei hat er im Hintergrund die Fäden gezogen und mit seinen Visionen eine neue Ära in Las Vegas eingeläutet. Statt auf das billige Glücksspiel und Automatenzocker setzt Danny zukunftsorientiert auf luxuriösen Hotelbetrieb und sein Hotel „Shores“ wurde ein großer Erfolg.

Mondänes Hotel-Imperium
Ehrgeizig will Danny weiter expandieren, wobei ein altes sanierungsbedürftiges Hotel „Lavinia“ sein Interesse weckt. Sein größter Konkurrent Vern Winegard hat sich bereits mit dem Besitzer Georg Stavros geeinigt. Danny will unbedingt sein Traumhotel „Il Sogno“ bauen, trifft sich mit Stavros, um ihm ein besseres Angebot zu unterbreiten und geht mit der Tara Group an die Börse, um die benötigten Gelder aufzubringen. Diese feindliche Übernahme zerstört die friedliche Koexistenz der Konkurrenten am Strip und setzt eine Spirale der Gewalt los. Alle Versuche, den Konflikt nicht weiter eskalieren zu lassen, scheitern. Danny sieht sich plötzlich wieder mit seiner Vergangenheit konfrontiert, auch weil die FBI-Agentin Reggie Moneta die Tötung ihres Liebhabers, des korrupten FBI-Agenten Philip Jardine noch nicht verwunden hat und einen Rachefeldzug startet. Danny schart seine alten Freunde Jimmy MacNeese sowie die als Messdiener bekannten Sean South und Kevin Coombs um sich und muss wieder um sein Leben und das seiner Familie kämpfen.

Vom blutigen Kampf der Mobster zu Glücksspiel und Politik
Mit „City in Ruins“ beendet Don Winslow nicht nur seine mit „City on Fire“ und „City of Dreams“ begonnene Trilogie sondern auch seine schriftstellerische Karriere, um seine ganze Energie demnächst in den politischen Kampf zu stellen. Wie auch in seinen anderen Romanen hat er sich eine komplexe Handlung mit einem großen Figurentableau ausgedacht. Seine Sprache ist wie immer schnörkellos, knapp und mit dem ihm eigenen Rhythmus. Aufgrund von kurzen Kapiteln, häufigen Schauplatzwechseln sowie szenischem Erzählen fliegt man nur so durch die Seiten und mag das Buch nicht aus der Hand legen. Eindrucksvolle Bilder ziehen die Leserinnen und Leser mitten ins Geschehen. Die Dialoge sind authentisch und oft von einer intensiven Emotionalität geprägt, die die Spannung zusätzlich verstärkt.

Dabei werden auch die in den beiden früheren Bänden begonnenen Geschichten zu Ende gebracht und bringen ein Wiedersehen mit alten Bekannten. Wir erfahren, wie es mit Chris Palumbo weiter ging, der 1988, nachdem er einige mächtige Mafiosi um ihr Geld brachte, untertauchen musste. Oder Peter Moretti Jr., der nach dem Mord an Vinnie Calfo und seiner eigenen Mutter Celia Moretti festgenommen und vor Gericht gestellt wird. Diese beiden Nebenhandlungsstränge wirken allerdings wie losgelöst von dem Hauptplot. Auch einige neue Figuren tauchen auf und verschwinden wieder arg schnell in der Versenkung. Obwohl Winslow dem Leser mit erläuternden Rückblenden hilft, würde ich vor der Lektüre die beiden vorherigen Bände empfehlen.

Der Kreis schließt sich im Epilog, der wieder 2023 in Rhode Island endet, wo alles begann. Ein rundum gelungener, großartiger, letzter Roman eines Ausnahmeschriftstellers, dessen letzte Seiten ich mit einem Tränchen im Auge gelesen habe. Aus Gründen!

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

City in Ruins | Erschienen am 21.05.2024 bei HarperCollins
ISBN 978-3-36500-566-8
448 Seiten | 24,- €
Originaltitel: City in Ruins | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Conny Lösch
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezensionen zu Band 1 und Band 2 der Trilogie

Fred Vargas | Jenseits des Grabes (Band 10)

Fred Vargas | Jenseits des Grabes (Band 10)

Das Schloss Combourg in der Bretagne, in dem der große Schriftsteller François-René de Chateaubriand seine Kindheit verbrachte, ist eine Touristenattraktion, samt Schlossgespenst, denn der seit drei Jahrhunderten tote Graf von Combourg soll zu bestimmten Zeiten erscheinen, manchmal auch nur sein Holzbein alleine mit einer schwarzen Katze.

Vorboten des Todes
Als in dem in der Nähe liegendem malerischem Örtchen Louviec nachts ein Klopfen, angeblich die hinkenden Schritte eines Geistes, vernommen werden, ist die Gemeinde alarmiert. Denn nach einer jahrhundertalten Dorflegende kündigt der Hinkende Unheil an. Und tatsächlich wird am nächsten Tag der Wildhüter des Ortes auf offener Straße mit einem teurem Messer erstochen.

„Ich gehe davon aus, dass jemand die Gelegenheit der Rückkehr des Hinkenden nutzte, um eine persönliche Rechnung mit diesem Gaël zu begleichen. Ich begreife trotzdem nicht, wieso diese Geschichte Sie dermaßen fasziniert.“ „Ich weiß es nicht, Danglard“, brachte Adamsberg es auf seine ewige Formel. (Auszug Seite 13)

Also verschlägt es den Pariser Kommissar Adamsberg und ein Teil seiner Brigade in die Bretagne, wo er sich mit seinem örtlichen Kollegen Matthieu an die Aufklärung macht. Aufgrund letzter Worte, die das Opfer noch stammeln konnte, gerät Josselin de Chateaubriand, ein weit entfernter Nachfahre des großen Vicomte, in den Kreis der Verdächtigen. Dieser lebt ganz bescheiden, aber aufgrund seiner frappierenden Ähnlichkeit mit dem Urahn muss er immer wieder für die lokale Tourismuswerbung herhalten. Es bleibt nicht bei dem einen Opfer und alsbald erschüttert eine Mordserie das Dorf. Kommissar Adamsberg hat wie immer ein Auge für Details, die anderen verborgen bleiben. Alle Leichen hatten frische Flohbisse. Und welche Rolle spielen die zerquetschten Eier, die alle Mordopfer in den Händen halten?

Gutes Essen und bretonischer Met
Hauptquartier für die Beamten ist der Gasthof „Zu den zwei Schilden“, wo der Koch Johan sich neben den Touristen auch noch um das leibliche Wohl seiner Gäste aus Paris kümmert. Selbst als Hilfstruppen von der Gendarmerie mit achtzig Mann anrücken, werden noch gut bestückte Picknickkörbe erstellt. Immer wenn man nicht weiter weiß, wird erst mal in der Gaststätte gegessen, beraten und Wein oder Chouchen, bretonischer Met, getrunken.

„Die Mitglieder ihrer Brigade mögen sich in schützendes Schweigen hüllen, doch von ihren vagen Gefühlen hat man schon Wind bekommen“, bemerkte der Generalsekretär kühl. „Versuchen Sie, sich diesmal nicht davon leiten zu lassen, seien Sie präzise, effizient und schnell. …“ (Auszug Seite 91)

Der letzte Kriminalroman um Jean-Baptiste Adamsberg „Der Zorn der Einsiedlerin“ liegt bereits 6 Jahre zurück. Und schon nach wenigen Seiten war ich wieder gefangen in dem Kosmos mit all den verschrobenen Figuren. Allen voran der eigenwillige Adamsberg, der anstatt auf systematische Ermittlungsarbeit mehr auf Intuition und gute Beobachtungsgabe setzt. Der nachdenkliche Chef nervt sein Team auch schon mal mit seiner unorthodoxen Sicht auf die Dinge, lässt seine Gedanken diesmal auf einem bretonischen Dolmen schweifen. Danglard muss in Paris bleiben, aber mit in der Bretagne sind unter anderem Lieutenant Violette Retancourt, die Göttin der Brigade, die zwar wenig anmutig über übertrieben atemberaubende Kräfte verfügt. Mercadet mit dem krankhaften Schlafbedürfnis, der sich als Informatiker jedoch schnell überall einhacken kann. Vargas Charaktere besitzen abstruse Eigenschaften im Übermaß, stehen aber mit beiden Füßen fest im Leben.

Fazit
Typisch Vargas ist der Krimi eine Mischung aus Whodunit um einen Serienmörder mit zahlreichen Verdächtigen und einem Märchen. Um die gesellschaftliche Situation in Frankreich einzufangen und Sozialkritik zu üben, bedient sich Fred Vargas an dem Stilmittel der Fabel. Sowohl verpackt sie ihre mit unübertroffenen Dialogen gespickte abstruse Handlung immer mit wissenschaftlichen Fakten und jeder Menge glaubhafter Polizeiarbeit, bei der Sonderkommandos eingerichtet, Anfragen gestellt und Hubschrauber geordert werden. Vielleicht nicht ganz so gut wie sein Vorgänger, mit einigen schon vertrauten Mustern, sei es die Vorliebe der französischen Autorin für kleines Getier, Mythologie oder die ausufernden Gastronomiebesuche ein unterhaltsamer, literarischer Roman mit originellen Szenarien und psychologisch überzeugenden Figuren.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Jenseits des Grabes | Erschienen am 08. Mai 2024 im Limes Verlag
ISBN 978-3-8090-2782-9
528 Seiten | 26,00 Euro
Originaltitel: ‎ Sur la dalle | Übersetzung aus dem Französischen von Claudia Marquardt
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu Fred Vargas „Der Zorn der Einsiedlerin“

Lavie Tidhar | Maror

Lavie Tidhar | Maror

Das jüdische Passah-Fest erinnert an den Auszug der Juden aus Ägypten. Das zweite Buch Mose erzählt vom Auszug und die Anweisung des Herrn an die jüdische Gemeinde, sie sollen ein Lamm schlachten und „mit bitteren Kräutern sollen sie es essen“ (Exodus 12:8). Diese bitteren Kräuter als Symbol der Sklaverei in Ägypten werden im Hebräischen als „Maror“ bezeichnet. Mit „Maror“ betitelt Lavie Tidhar auch seinen aktuellen Roman, ein Roman über mehr als dreißig Jahre israelischer Geschichte, allerdings aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel. Und wenn man nach über 600 Seiten diesen Roman zugeklappt hat, dann versteht man auch die Symbolik des Titels mit den bitteren Kräutern.

Sie stand auf, und für einen kurzen Moment war Avi allein. Er hörte Eis im Glas klappern und vergrub sein Gesicht in den Händen.
„Ich hasse dieses Land“, sagte er und weinte. (Auszug S. 85)

Der Roman beginnt zunächst im Jahr 2003. Eine Autobombe in Tel Aviv vor einer Wechselstube. Schnell stellt sich heraus: Es ist wohl keine politischer Anschlag, sondern das Ziel war Rubinstein, eine Unterweltgröße. Der kam allerdings unverletzt davon, stattdessen gab es Toten unter Passanten, unter anderem Schulkinder. Der leitende Polizist Cohen beauftragt den jungen Polizisten Avi, sich der Sache anzunehmen und gibt ihm freie Hand. Und Avi nimmt sich der Sache an, die in der Residenz eines weiteren Unterweltbosses in einem Blutbad enden wird.

Danach springt das Buch zurück ins Jahr 1974 und geht von nun an chronologisch vor. Cohen und Eddie sind zwei junge Polizisten, die zum Fundort einer Frauenleiche am Mittelmeerstrand zwischen Tel Aviv und Haifa gerufen werden. Die beiden dürfen hinterher an den Mordermittlungen teilnehmen. Der Druck ist hoch, die Ermittlungen laufen zäh. Da kommt es der Polizei gelegen, dass ein Zeuge sich wunderbar als Verdächtiger eignet. Die Indizien sind aber zu wenig, es braucht ein Geständnis. Cohen und Eddie begreifen schnell, wie sie sich da einbringen können.

Tidhar erzählt nun episodenhaft. Springt manchmal ein paar Monate, manchmal ein paar Jahre in der Zeit nach vorne. Er führt den Leser von 1974 bis 2008 durch mehr als dreißig Jahre israelischer Geschichte und erzählt diese als Geschichte von Verbrechen, Skandalen, Korruption und Staatsaffären. Als Figur im Hintergrund, die aber dennoch alle Fäden in der Hand hält und diese Episoden zusammenhält, fungiert Cohen. 1974 noch ein Streifenpolizist, aber schon mit allen Wassern gewaschen, hält er in der Folge gute Kontakte zu allen Seiten, Polizei, Politik, Unterwelt, Geheimdienste, steigt nicht allzu hoch in der Hierarchie auf, aber wird der Strippenzieher, der alles in Reine bringt und ausputzt, so schmutzig es auch wird. Ein Patriot, der alles tut, um den Staat Israel zu beschützen und dafür alle Grenzen überschreitet.

Jetzt blickte Rubinstein auf. „Ich werde nicht schlau aus dir“, sagte er. „Was bist du, Polizist oder Gangster?“
Man kann auch beides sein, dachte Benny, sagte es aber nicht laut.
„Ich bin kein Gangster“, erklärte Cohen.
„Was dann?“
„Ich wahre die Ordnung“, sagte Cohen. (Auszug S.226)

Die Geschichte Israels als eine Geschichte der Korruption und des organisierten Verbrechens zu erzählen, ist ein starkes Stück. Aber Tidhar fiktionalisiert nicht nur, sondern verarbeitet reale Ereignisse zu einem Epos über Realpolitik und den berühmten Zweck, der die Mittel heiligt. Er zitiert Staatsgründer Ben Gurion: „Erst wenn wir unseren eigenen hebräischen Dieb, unsere eigene hebräische Hure und unseren eigenen hebräischen Mörder haben, haben wir wahrhaftig einen Staat.“

Manipulierte Polizeiermittlungen, Mord, Raub, skandalöse Grundstücksgeschäfte im besetzten Gebieten, eine Eskalation des Drogenhandels durch Israels Eingreifen in den libanesischen Bürgerkrieg, Iran-Contra-Affäre, Waffenhandel mit (süd-)amerikanischen Drogenbossen und Ausbildung von privaten Söldnern durch israelische Reservisten. Alles tatsächlich passiert. Der Sumpf, den Tidhar hier beschreibt, ist mehr als knöcheltief und dem Leser schwirrt förmlich der Kopf ob der angedeuteten staatlichen Verstrickungen in all diese zwielichtigen Dinge unter dem Deckmantel einer Realpolitik in einem bedrohten Land. Und mittendrin dieser Cohen, der Bibelzitate um sich wirft, was zunehmend als Zynismus durchgeht.

„Ich weiß, es ist nicht leicht gewesen“, sagte Cohen. Er schien zwiegespalten. Als wollte er Nir etwas anvertrauen. „Du findest unsere Arbeit abstoßend. Ich auch. Aber Habgier treibt mich nicht an, Nir, sondern das Bedürfnis nach Stabilität. <Der Habgierige erregt Streit, / wer auf den Herrn vertraut, wird reichlich gelabt<. Buch der Sprüche 28. Manches lässt sich unmöglich verhindern. Krieg. Drogen. Aber man kann sie verwalten. Und das machen wir. Wir halten die Stellung. Wir wahren den Frieden. Verstehst du das?“ (Auszug S.419).

Lavie Tidhar ist eigentlich vor allem als Science Fiction und Fantasy-Autor bekannt. Mit „Maror“ wagt er einen historischen Parforceritt durch die dunklen Seiten Israels. Und dieser gelingt fulminant. In seiner Heimat scheint die Zeit übrigens noch nicht reif für diesen Roman zu sein, eine Übersetzung ins Hebräische gibt es noch nicht.

Neben Cohen als rotem Faden tauchen zahlreiche Figuren ab und wieder auf, ehe sie dann oftmals entsorgt werden. Tidhars Schreibstil ist rasant, eindrücklich, immer wieder dringt er tief in die Personen ein, aus deren Blickwinkel die jeweilige Episode erzählt wird (nur Cohen bleibt der Mann im Hintergrund, auch bei den Erzählern). Das Ganze verdichtet er zu einem epischen Thriller, bei dem nicht nur mir ein Vergleich zu Don Winslows „Tage der Toten“ in den Sinn kam. Dabei lässt der Autor auch eine bemerkenswerte Akribie erkennen, was Schauplätze und Historizität betrifft. Zudem ist das Buch eine popkulturelle Quelle, insbesondere zur israelischen Musikszene. Alles in allem kommt man nicht umhin zu sagen: „Maror“ ist ein echtes Meisterwerk.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Maror | Erschienen am 15.04.2024 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-47397-9
640 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Maror | Übersetzung aus dem Englischen von Conny Lösch
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu „Maror“ beim Kaffeehaussitzer