
Nicolás Ferraro | Ámbar
So vergingen drei Jahren, bis Großmutter Nuria einen Herzinfarkt hatte. An einem Tag war sie da, am nächsten war sie Asche. Und auf einmal hatte Papá mich am Bein und wusste nicht, was er mit mir anfangen sollte.
Er weiß es immer noch nicht. (Auszug S. 19).
Die 15jährige Ámbar lebt bei ihrem Vater Victor, einem Kriminellen. Ohne festen Wohnsitz treiben sie sich im Norden Argentiniens nahe der Grenze zu Paraguay herum. Sie geht nicht mehr zur Schule, schläft selten lange am selben Ort, lernt kaum Gleichaltrige kennen. Ámbar muss sich stattdessen auf die Situation ihres Vaters einlassen, seine Wunden versorgen, seine Tarnung einnehmen.
Zu Beginn kehrt Victor mit einer Schusswunde in den Unterschlumpf zurück, die Ámbar verarztet. Sie fliehen mit dem Wagen, sie muss fahren. Sie halten an einem abgelegenen Ort, Victor schüttet Benzin über eine Leiche im Kofferraum und zündet den Wagen an. Erst danach geht Ámbar auf, dass Giovanni, ein guter Freund und Kompagnon seines Vaters, im Kofferraum lag. Es ist zu irgendeinem Vorfall gekommen, bei dem Giovanni erschossen und sein Vater angeschossen wurde. Victor begibt sich nun auf einen Rachefeldzug und Ámbar ist gezwungen, ihn zu begleiten.
Papá trägt seine Narben wie Orden. Nichts erzählt seine Geschichte besser als sein Körper. Víctor Mondragón ist ein Mann, den man in Blindenschrift besser versteht, als wenn man mit ihm redet. Aber eigentlich versteht man ihn in keiner Sprache. (Auszug S. 9)
Ámbar erzählt diese, ihre Geschichte als Ich-Erzählerin. Eine 15jährige am Rande der Gesellschaft, der Vater schon immer kriminell, die Mutter verließ die Familie früh. Sie wuchs bei der Großmutter, seitdem sie vor ein paar Jahren starb, schleppt ihr Vater sie nun mit sich herum. Sie hat sich inzwischen an dieses Leben gewöhnt, kommt mit wenig aus. Zu Beginn ist ein Tattoo ihr größter Wunsch, hierfür spart sie heimlich Geld, denn ihr Vater würde ihr das nicht erlauben. Sie gerät oft mit ihm aneinander, sehnt sich gleichzeitig nach Zusammenhalt und will ihrem Vater vertrauen. Doch Victor Mondragón ist ein undurchsichtiger Mann, weiht seine heranwachsende Tochter in nicht allzu viele Dinge ein und doch baut er zunehmend als Unterstützung auf sie. Mehr und mehr wird Ámbar unsicher, was sie wirklich will und inwieweit ihr Vater ihr Vertrauen rechtfertigt.
Papá stellt sich neben mich und gibt mir ein Zeichen, rauszugehen. Den ersten Elfmeter schießt Boca. Ich habe die Schnauze voll von Boca. Von River. Von Rata Blanca, davon, dass sie sich alle für so schlau und mich für ein dummes kleines Mädchen halten. Ich drücke ab. Splitter des Fernsehers verteilen sich im Raum, zusammen mit Stille.
Jetzt endlich sehen mich alle an.
Ich stoße ein Brüllen aus, und in diesem Brüllen bin ich weder Mann noch Frau noch Tochter.
Ich bin ein Jaguar. (Auszug S.170)
Der argentinische Autor Nicolás Ferraro ist bislang noch nicht ins Deutsche übersetzt worden. Mit „Ámbar“ gewann er 2023 den Premio Hammett als höchste Auszeichnung der spanischsprachigen Kriminalliteratur, die englische Übersetzung „My favourite scar“ war im letzten Jahr für den Edgar Award nominiert. Der Roman wahrt mit einer ungewöhnlichen Perspektive einer heranwachsenden Gangstertochter auf und dem Autor gelingt es, diese Sichtweise konsequent und durchaus realistisch durchzuhalten. An einigen Stellen verhält sich Ámbar wie eine normale 15jährige, an anderen erscheint sie abgebrüht und bereits in der Erwachsenenwelt angekommen. Weitestgehend überzeugend ist auch die Entwicklung die Ámbar durchmacht und die in einem überraschenden Ende mündet. Insgesamt ist dieser lesenswerte Roman eine ungewöhnliche Coming-of-age-Charakterstudie in Thrillerform, in der der Autor immer wieder harte, brutale Spitzen setzt, um die Umstände nicht zu verklären.
Foto und Rezension von Gunnar Wolters.
Ámbar | Erschienen am 05.02.2025 im Pendragon Verlag
ISBN 987-3-86532-901-1
314 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Ámbar | Übersetzung aus dem argentinischen Spanisch von Kirsten Brandt
Bibliografische Angaben & Leseprobe