Tag: 15. April 2022

Jennifer Clement | Gebete für die Vermissten

Jennifer Clement | Gebete für die Vermissten

Jetzt machen wir dich hässlich, sagte meine Mutter. Sie pfiff durch die Zähne … Sie roch nach Bier. Im Spiegel sah ich, wie sie mir mit dem Stück Kohle übers Gesicht fuhr. Das Leben ist böse, flüsterte sie … Vielleicht muss ich dir die Zähne ausschlagen, sagte meine Mutter. (Auszug Seite 9)

Guerrero ist eine von Gewalt gebeutelte Provinz im Südwesten von Mexico. Bekannt ist die Urlaubsmetropole Acapulco an der Pazifikküste liegend. In den dünn besiedelten Bergen, wo vor allem Indigene leben, lassen die Kartelle Mohn anbauen und durch diese Gebiete wird das Kokain dann aus Südamerika transportiert.

In den kleinen Bergdörfern besitzen Drogenhändler die Macht und terrorisieren diesen Landstrich. Ein Menschenleben ist hier nichts wert, besonders nicht das der Mädchen. Für die junge Ladydi Garcia Martinez ist das der bittere Alltag. Sie erzählt uns von ihrem Leben in dieser trostlosen Gegend, in dem mittlerweile fast nur noch Frauen leben. Die Männer, die nicht auf die Seite der Drogendealer wechseln, verlassen ihre Familien um in Acapulco Arbeit zu finden. Oder sie fliehen über die Grenze in die USA. Die es schaffen, schicken einen Teil ihres Lohnes zu ihren Frauen aber die meisten Männer kehren nicht zurück. So ist es die Aufgabe der Frauen, ihre Kinder zu beschützen. Und das Gefährlichste sind nicht die giftigen Skorpione, Klapperschlangen, Leguane oder Erdbeben, auch nicht die Militärs, die wahllos Gift aus Hubschraubern über das Gelände versprühen. Eigentlich um die Mohnfelder der Narcos zu zerstören, oft wurden die Piloten aber auch bestochen und sprühen ihre Pestizide über die Hütten der Bauern. Das Schlimmste sind die Entführungen durch die Menschenhändler. Die kleinen Mädchen werden von ihren Müttern in Jungensachen gekleidet und als Teenager absichtlich hässlich gemacht, die Haare kurz geschnitten, die Zähne mit Filzstift geschwärzt. Sobald am Horizont die schweren Escalades mit schwarz getönten Scheiben auftauchen, verstecken sich die Mädchen in selbstgegrabenen Erdlöchern. Doch meistens sind die Frauen der Willkür der Drogenmafia machtlos ausgeliefert, von den bisher verschleppten Mädchen fehlt jede Spur, nur eine taucht nach einem Jahr psychisch und physisch angeschlagen wieder auf.

Eine vermisste Frau ist nur ein Blatt, das der Regen in die Gosse treibt. (Auszug Seite 68)

Für Ladydi scheint sich ein Ausweg aus dem Elend zu eröffnen, als sie einen Job als Kindermädchen in Acapulco antritt. Ihr Cousin Mike hat ihr die Stelle vermittelt und bringt sie auf das luxuriöse Anwesen einer reichen Familie. Die Besitzer tauchen aber monatelang nicht auf. Ladydi hat eine gute Zeit und verliebt sich in den Gärtner. Bis zu dem Tag, als die Polizei die Villa stürmt und ein gewaltiges Waffenlager vorfindet. Für Ladydi beginnt ein Alptraum, denn aufgrund der Machenschaften ihres Cousins, der für die Zetas arbeitet, wird sie verhaftet und findet sich in Drogenschmuggel und einen üblen Doppelmord verwickelt. Obwohl noch minderjährig kommt sie ins Frauengefängnis in Mexiko-City. Auch hier gerät sie wieder in eine reine Frauenwelt, in der jede Inhaftierte grauenhafte Geschichten zum Besten geben kann.

Die Autorin, die in Mexiko-City aufwuchs hat für diesen Roman mehr als 10 Jahre lang in Guerrero recherchiert, Hunderte Interviews mit vom Drogenkrieg betroffenen Mädchen und Frauen geführt, um dann alles mit viel Herzblut in eine fiktive Story zu verpacken. Herausgekommen ist ein intimer Blick auf den trostlosen Alltag der armen Bevölkerung inmitten der Mohnfelder. Ohne zu bewerten berichtet sie in neutraler Sprache hautnah aus der Perspektive einer betroffenen Heranwachsenden. Ladydi lässt uns teilhaben an ihrer trostlosen Jugend und erzählt von ihrer Halbschwester Maria mit der Hasenscharte, von Paula, dem schönsten Mädchen von Mexiko, von Estefani, deren Mutter an Aids stirbt, von Ruth, dem Müllbaby, die einen Schönheitssalon betreibt und ihrer alkoholsüchtigen Mutter Rita.
Jennifer Clement findet eine feine Balance zwischen Sachlichkeit und Emotion, erzählt in einem unterkühlten, fast unpersönlichen Ton, völlig ungeschminkt mit vielen poetischen und bildreichen Metaphern und das komplette Fehlen der wörtlichen Rede. Trotz der Not und widriger Umstände gibt es auch immer wieder Zeichen der Wärme und der Freundschaft, auch blitzt immer wieder das grotesk-komische in dieser Welt der Armut und Gewalt auf und sorgt für hellere Momente. So heißt die Protagonistin tatsächlich nach Lady Di, aber nicht aufgrund deren Schönheit, sondern weil sie für ihre Mutter die Heilige der Betrogenen ist.

Der Stoff wird sehr knapp auf 200 Seiten gefasst, ist mehr Novelle als Roman. Das war auch so ein bisschen mein Problem. Es gibt so viele komplexe Nebenfiguren, aber keine der Charaktere ist tief oder mehrdimensional angelegt. Auch wenn jede ihre eigene Geschichte hat, die bestimmt oft ergreifend und berührend scheint, ist gar kein Platz für tiefgehende Charakterzeichnungen. Sie wirken mehr wie standardisierte Stellvertreter und als wolle die Autorin alles unterbringen, was sie während ihrer Recherchen herausgefunden hat. Auch wenn dahinter viel Realität steckt und alles der traurigen Wahrheit entspricht, drohen bei der Vielzahl der alltäglichen Grausamkeiten diese zur Routine zu werden und die unerträglichen Ereignisse konnten mich gar nicht mehr erschüttern. Trotzdem zerbricht Ladydi nicht an ihrem Schicksal, sie kennt auch keine andere Welt und sie erfährt auch immer wieder die große Solidarität der Frauen.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Gebete für die Vermissten | Das Taschenbuch erschien am 06. Dezember 2015 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-5184-6640-7
228 Seiten | 8,99 Euro
Originaltitel: Prayers for the Stolen (Übersetzung von Nicolai von Schweder-Schreiner)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

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