Tag: 28. April 2022

Patrick McGuinness | Den Wölfen zum Fraß

Patrick McGuinness | Den Wölfen zum Fraß

Ich muss lachen, merke dann aber, dass diese Erklärung gar nicht so schlecht ist. Man nimmt sexuelle Scham und sexuelle Frustration, packt darauf Reichtum, Hierarchie und seelische wie körperliche Gewalt, serviert das Ganze dann in einem großen Glas namens Anspruch und erhält… nun ja, exakt das, was wir haben. (Auszug E-Book Pos. 3541)

In einem Gestrüpp, einer wilden Müllkippe, in einer Stadt im Südosten Englands wird kurz vor Weihnachten die Leiche einer jungen Frau, Zalie Dyer, gefunden. Ein Nachbar von ihr, Mr. Wolphram wird von der Polizei befragt, hatte kurz vor ihrem Verschwinden mit der Toten Kontakt, hat kein Alibi und macht sich für die Polizei verdächtig. Wolphram wird erstmal festgenommen.

Die beiden leitenden Polizeibeamten Gary und Alexander vernehmen den Verdächtigen. Für Gary ist Wolphram extrem verdächtig. Ein pensionierter Lehrer einer Privatschule, Junggeselle, Einzelgänger, kultiviert und selbstsicher im Verhör – so jemand hat doch etwas zu verbergen. Bei Alexander, auch Ander genannt, stehen die Dinge anders. Er kennt Wolphram, war er doch vor 25 Jahren dessen Schüler im Chapleton College. Noch gibt er diese Information nicht preis. Aber obwohl er zugeben muss, dass Wolphram ein kauziger Typ ist, kann er ihn nach seinen Erfahrungen aus der Schulzeit nicht mit einem Mord in Verbindung bringen.

Jede Gefühlsregung untergräbt, korrigiert, durchmischt er mit etwas anderem. Aber mit was? Mit etwas Emotionslosem. Weiß er zu viel, um Gefühle zu haben oder kennt er sie so genau, dass er sie gar nicht mehr empfindet? (Auszug E-Book Pos. 135)

Das Problem von Gary und Ander ist der große Druck von außen, den Fall möglichst schnell aufzuklären. Wolphram ist für die Öffentlichkeit ein perfekter Täter. Schnell haben die Medien Wind von dessen Festnahme bekommen und schlachten die Story nun brutal aus. Wolphram wird buchstäblich „den Wölfen zum Fraß vorgeworfen“. Er war damals schon ein etwas verschrobener Lehrer, der aber Interesse an seinen Schülern zeigte, sie etwa zu Arthouse-Filmabenden zu sich nach Hause einlud. Ehemalige Schüler berichten aber nun von angeblichen Anzüglichkeiten, die Schule distanziert sich öffentlich von ihm. Die Medien bezahlen gutes Geld für weitere Exklusivstorys. Doch je mehr sich die Yellow Press auf Wolphram einschießt, desto mehr wachsen die Zweifel nicht nur bei Ander, sondern auch bei seinem Kollegen Gary. Sie finden bei Wolphram zu wenig weitere Indizien auf die Tat, zudem kann Ander nach anfänglicher Lethargie herausstellen, dass Wolphram zu den anständigen Lehrern der Schule gehörte.

Als Kriminalroman ist dieses Buch sehr ungewöhnlich. Zwar wird die Geschichte aus der Ich-Perspektive von Ander erzählt, aber der Fokus liegt nur zum Teil auf den Ermittlungen, die erst spät in Gang kommen. Sehr viel Raum nehmen die Empfindungen von Ander ein und vor allem seine Erinnerungen an seine Schulzeit in den 1980ern. Damals war er, im Ausland aufgewachsen, ein Außenseiter, noch mehr aber sein damaliger Freund Daniel. Erlebnisse von Mobbing durch die Mitschüler, psychischem Druck und unterschwelliger sexueller Nötigung durch die Lehrer. Im direkten Zusammenhang damit steht auch die Klassenfrage, die in Großbritannien wohl immer noch akut ist. Das elitäre Schulsystem zementiert dieses Klassensystem zudem, Aufsteiger zwischen den Systemen werden gemobbt. Spannenderweise hat der Autor den Clash der Gesellschaftsschichten auch bei den beiden Polizisten integriert. Gary ist der vorlaute, prollige, proletarische Typ, mit einem leicht bedrohlichem Gehabe. Ein rechtschaffender Polizist, der sich hochgearbeitet hat, der aber auch ein wenig seine Vorurteile pflegt, gerade gegenüber „denen da oben“. Ich-Erzähler Ander ist auf der anderen Seite einer von „denen da oben“, hat sich nach guter Ausbildung etwas überraschend für die Polizei entschieden. Er ist ein eher grüblerischer, melancholischer Typ. Auf der Arbeit sehr methodisch, wird er von Gary „Prof“ genannt. Es geht zwischen beiden sehr spöttisch zu, dennoch funktioniert die Zusammenarbeit. Außerdem steht natürlich die mediale Ausschlachtung des Falls im Mittelpunkt. Die brutale, empathielose Zurschaustellung von Mordopfer und vermeintlichem Täter bis hin zum geförderten Denunziantentum wird hier deutlich dargestellt.

„Den Wölfen zum Fraß“ ist der zweite Roman des Autors Patrick McGuinness, Literaturwissenschaftler in Oxford, der auch viel Lyrik publiziert. McGuinness verarbeitet in seinem Roman einen realen Fall. Am 25.12.2010 wurde die 25jährige Joanna Yeates tot in der Nähe von Bristol aufgefunden, schnell unter Verdacht geriet Christoffer Jefferies, Yeates‘ Vermieter und ein ehemalige Lehrer von McGuinness. Jefferies wurde von zahlreichen Medien aufgrund seines Habitus schnell als Täter diffamiert und vorverurteilt. Später stellte sich heraus, dass Jefferies unschuldig war. Der Vorgang führte zu einer großen Mediendebatte in Großbritannien.

Der vorliegende Roman ist ein ungewöhnlich zusammengestellter Kriminalroman, der vor allem Medienkritik und auch Gesellschaftskritik in sich vereint. Mit der Konstellation der beiden unterschiedlichen Ermittlerfiguren gelingt dem Autor ein guter Kniff. Hier und da verliert sich für meinen Geschmack der Roman etwas in der Melancholie und Reflexion des Ich-Erzählers, aber insgesamt ist dieser Roman anregend, sprachgewand und eine interessante Variation im Genre.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Den Wölfen zum Fraß | Erschienen am 16.03.2022 bei Oktaven im Verlag Freies Geistesleben
ISBN 978-3-7725-3028-9
422 Seiten | 29,90 €
als E-Book: ISBN 978-3-7725-3028-9 | 24,99 €
Originaltitel: Throw me to the wolves (Übersetzung aus dem Englischen von Dieter Fuchs)
Bibliografische Angaben & Leseprobe