Monat: Februar 2022

Mechtild Borrmann | Wer das Schweigen bricht

Mechtild Borrmann | Wer das Schweigen bricht

Es war einfach eine Dummheit gewesen. Seine ganze Neugierde auf diese Therese Peters war eine sentimentale Albernheit, die er sich jetzt nicht mehr erklären konnte. Unkritisch hatte er es für einen glücklichen Zufall gehalten, auf eine Journalisti zu treffen, und jetzt konnte man sie nicht mehr aufhalten. Er fühlte sich wie ein Verräter. Was würde diese Frau noch alles zutage fördern? Er nahm einen Schluck von dem Cognac. (Auszug S.52)

Robert Lubisch durchforscht den Nachlass seines vor Kurzem verstorbenen Vaters Friedhelm und findet dort den SS-Ausweis eines gewissen Wilhelm Peters sowie das Foto einer jungen Frau. Lubischs Interesse ist geweckt, sein Vater war ein strenger Patriarch und das Verhältnis war eher getrübt. Gibt es ein ungewöhnliches Geheimnis im Leben des so strebsamen Friedhelm Lubisch, der in den Nachkriegsjahren ein Firmenimperium aufgebaut hat? Robert Lubisch folgt einer Spur ins niederrheinische Kranenburg und findet heraus, dass die Frau auf dem Bild Therese Pohl, später Therese Peters war. Im ehemaligen Wohnhaus von Therese wohnt inzwischen die Journalistin Rita Albers, die ein paar Nachforschungen anstellt. Vor Ort will niemand viel sagen, Therese Peters ist irgendwann 1950 aus Kranenburg verschwunden, kurz nachdem ihr Mann vermisst gemeldet wurde. Albers wittert eine spannende Story und kann sogar ermitteln, wo sich Therese heute aufhält. Therese Mende ist inzwischen Erbin eines Modeimperiums und will zu den damaligen Ereignissen eigentlich nichts mehr sagen. Kurz darauf wird Rita Albers erschlagen in ihrer Küche aufgefunden.

Nun ermittelt die Polizei im Mordfall Albers. Verdächtigt wird auch Robert Lubisch, der kurz zuvor mit Albers zusammengekommen war, um sie von weiteren Ermittlungen abzuhalten. Schnell wird klar, dass die Lösung in der Vergangenheit zu finden ist. Nach und nach ergibt sich eine Geschichte von sechs jungen Menschen, die im Sommer 1939 die Schule beenden und deren enge Freundschaft aufgrund verschiedener traumatischer Ereignisse nach und nach zerbricht. Diese Ereignisse von damals werfen einen Schatten bis in die heutige Zeit und Robert Lubisch wird sich wünschen, diese Büchse der Pandora niemals geöffnet zu haben.

„[…] Es gab im Winter 1944/45 keine Zeit für Trauer, und manchmal denke ich, dass das eine der Tragödien dieses Krieges war, vielleicht jedes Krieges ist. Wenn wir keine Zeit zum Trauern haben, verlieren wir eine Dimension unseres Menschseins.“ (Auszug S.195)

Mechtild Borrmann schreibt abwechselnd in den beiden Zeitebenen 1998 und 1939-1950. Dabei wechselt sie sowohl direkt in die Vergangenheit als auch über Erinnerungen der Personen, zumeist Therese Mende. Der Ton ist ruhig, das Tempo eher gemächlich. Die Autorin schreibt klar und stringent, mit wenig Ausschweifungen, doch nie nüchtern. Der Fokus liegt auf den Figuren und ihren Gefühlswelten. Die Erzählperspektive wechselt zwischen verschiedenen Personen. Nach und nach wird diese Tragödie enthüllt und entfaltet so noch präziser ihre erzählerische Kraft. Mit einer nicht erwarteten Wendung ganz zum Schluss wird der Leser nochmals überrascht.

Mechtild Borrmann ist inzwischen Bestsellerautorin, 2011 war sie jedoch noch im Aufbau ihr schriftstellerischen Karriere. Sie hatte zuvor drei beachtete Kriminalromane veröffentlicht, der enorme spätere Erfolg war jedoch noch nicht absehbar. Im Februar 2011 erschien dann ihr dritter Roman im Bielefelder Pendragon Verlag. „Wer das Schweigen bricht“ war dann der endgültige Durchbruch der Autorin und für den Verlag ein Glücksgriff, eine 22.Auflage erreicht man so schnell nicht wieder. Der Roman war aber nicht nur bei den Leser:innen ein voller Erfolg, auch die Kritiker waren begeistert und vergaben für dieses Werk ein Jahr später den Deutschen Krimipreis.

Natürlich spielt die Geschichte im zweiten Weltkrieg und unter dem nationalsozialistischen Regime. Dies beeinflusst und sorgt für eine Katalyse der Ereignisse. Doch im Grunde genommen erzählt Borrmann eine ganz klassische Geschichte von Freundschaft, nicht erwiderter Liebe, Enttäuschung, Eifersucht, Hass und Schuld – und welche Tragweite persönliche, manchmal spontane Entscheidungen entfachen können, auch über Jahrzehnte hinweg. Und über das spätere Schweigen, dass die offenen Gräben zwar füllt, aber die Erinnerung nie ganz verdrängt. Das Ganze transportiert sie sehr geschickt in den beiden Zeitebenen mit glaubwürdigen Figuren, die diesen eher leisen, aber dadurch umso mächtigeren Roman tragen. „Wer das Schweigen bricht“ ist ein herausragender Kriminalroman, den man mehr als zehn Jahre nach Veröffentlichung schon als Klassiker des Genres verorten kann.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Wer das Schweigen bricht | Erschienen am 07. Februar 2011 im Pendragon Verlag
ISBN 978-3-86532-231-9
224 Seiten | 9,95 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Alex Reeve | Das Haus in der Half Moon Street (Band 1)

Alex Reeve | Das Haus in der Half Moon Street (Band 1)

Sein Spezialgebiet waren die Angeschwemmten, Hinabgestoßenen, Exhumierten und Vergifteten Londons, all die armen Teufel, deren Todesursache als verdächtig eingestuft wurde. Er schnitt sie auf und studierte ihre Innereien, und ich nähte sie wieder zu, so gut wie neu oder doch nicht viel schlechter, und schrieb die Befunde für die Polizei auf. (Auszug Seite 7)

Mit „Das Haus in der Half Moon Street“ startet Alex Reeve eine historische Krimiserie im viktorianischen London. 1880 arbeitet der junge, intelligente Leo Stanhope im Leichenschauhaus des Westminster Hospitals als Assistenten des Chirurgen Hurst. Stanhopes Leben gerät aus den Fugen, als eine weibliche Leiche mit eingeschlagenem Schädel auf seinem Tisch landet. Die Tote, die aus der Themse gefischt wurde, ist die Prostituierte Maria Milanes, die in einem Bordell in der Half Moon Street gearbeitet hat. Maria war Leos große Liebe, mit der er ein neues Leben beginnen wollte. Detective Ripley hat Stanhope sofort als Hauptverdächtigen im Visier und steckt ihn für eine Nacht ins Gefängnis. Für Leo eine lebensgefährliche Situation und sofort nach seiner Entlassung macht er sich auf die Suche nach dem wahren Mörder. Auch weil die Aufklärung von einem Prostituiertenmord bei der Polizei keine große Priorität hat. Bei seinen Nachforschungen entdeckt Leo, dass Maria ihm viele Sachen verheimlichte und ihm wird klar, dass er sie kaum kannte. Er macht auf eigene Faust Jagd nach dem Mörder, auch wenn er dabei Gefahr läuft, dass sein eigenes lang gehütetes Geheimnis dabei ans Licht der Öffentlichkeit kommen könnte.

Spoiler
Das Besondere an diesem historischen Krimi ist der Ich-Erzähler Leo Stanhope und ich war etwas unschlüssig, ob ich sein Geheimnis spoilern sollte. Aber dieses wird bereits auf den ersten Seiten gelüftet und ist ein Aspekt, der den Roman, wenn nicht prägt, dann aber doch sehr im Fokus steht. Leo Stanhope ist im Körper einer Frau geboren. Als Tochter eines Landpfarrers, damals noch Charlotte Pritchard, erkannte er schon früh, dass er im falschen Körper lebt und beschloss mit fünfzehn, als Mann aufzutreten und seine Familie Richtung London zu verlassen. Besonders sein engstirniger Vater, Reverend Ivor Pritchard hatte ihm das Leben zur Hölle gemacht. Lediglich mit seiner Schwester Jane hat er mittlerweile noch Kontakt, aber auch sie kann seinen Identitätswechsel nicht akzeptieren und will den Moralvorstellungen der damaligen Zeit geschuldet, nichts mit ihm zu tun haben.

Im 19. Jahrhundert galt Transition als Verbrechen. Transsexuelle führten ein Leben im Verborgenen, wollten sie nicht im Gefängnis oder im Irrenhaus landen, wo sie mit Elektroschocks oder Hirn-Operationen behandelt wurden. Diesem Aspekt wird vom Autor sehr viel Raum gewährt und man spürt sein Bemühen, Leos tägliche Herausforderungen seiner Zeit glaubhaft darzustellen. Das ist ihm auch gut gelungen, dank der Ich-Erzählperspektive bekommt man einen intensiven Eindruck von Leos Gefühls- und Leidenswelt, auch wenn es hin und wieder zu Wiederholungen kommt. Obwohl das Hauptaugenmerk schon auf seinen Schwierigkeiten im Alltagsleben liegt und für einige dramatische Situationen sorgt, fügt es sich doch mühelos in den Hauptplot ein. Mit den Ermittlungen in dem Kriminalfall ist es aber nicht verbunden und dass Leo trans ist, spielt dabei gar keine Rolle.

Das Flair des historischen London sowie die Gerichtsmedizin ziehen mich immer wieder an. Und Reeve nutzt das Potential einer Großstadt im viktorianischen Zeitalter auch perfekt aus und hat gründlich recherchiert, um ein realistisches Setting und Abbild der damaligen Gesellschaft zu erschaffen. Aber wenn es um die typisch düstere Atmosphäre geht, bietet der Roman nur Beliebiges, und ich habe das schon in anderen Lektüren besser gespürt. Andrerseits habe ich die Geschichte wirklich sehr gerne gelesen. Typisch für den Auftaktband einer Reihe nimmt der Autor sich viel Zeit, die Hauptfigur und einige wenige Charaktere ausführlich vorzustellen. Leo wohnt in einem kleinen Zimmer über der Apotheke eines Witwers und seiner altklugen Tochter zur Untermiete, die ums wirtschaftliche Überleben kämpfen. Er führt ein zurückgezogenes Leben, neben seiner Arbeit in der Pathologie und den Besuchen im Bordell trifft er sich einmal in der Woche zum Schachspielen. Frauen haben es in der Zeit nicht leicht, im weiteren Verlauf trifft Stanhope eine Engelmacherin und die Tortenbäckerin Rosie, die nach dem Tod ihres Mannes mit den Kindern alleine zu Recht kommen muss. Der Krimiplot ist nicht rasend spannend, aber flüssig geschrieben, mit einigen falschen Fährten und gibt dem Leser immer wieder Rätsel auf.

Trigger
Dabei wird auch Menschenhandel thematisiert und man sollte sich auf detaillierte Beschreibungen von Gewalt- sowie Missbrauchsdarstellungen einstellen. Besonders Stanhope ist aufgrund seiner Physis den Angriffen oft nicht gewachsen und bekommt das ein oder andere Mal ordentlich auf die Mütze. Der Autor schreckt auch nicht vor einer explizit geschilderten Vergewaltigungsszene zurück, sodass der historische Krimi sicherlich eine Triggerwarnung verdient hätte.

Im Nachwort erläutert der britische Autor seine Intention für die Verwendung einer Transgender-Hauptfigur in seinem Debüt-Roman. Er setzt sich dabei auch mit dem Vorwurf der kulturellen Aneignung auseinander, da er kein Trans-Mann ist. Vielleicht war es auch einfach nur eine schlaue Idee, auf den Mainstream-Zug aufzuspringen, denn Transgender-Themen sind in der Öffentlichkeit aktuell sehr präsent. Die Schwierigkeiten von Leos Leben im 19. Jahrhundert bilden zwar den Angelpunkt der Geschichte und werden feinfühlig dargelegt. Aber im nächsten Band könnte der Autor dann vielleicht dem Krimiplot mehr Raum geben und mehr Sorgfalt in die Ausgestaltung verwenden. Wenn dann die Besonderheit Leos mehr in den Hintergrund rückt und als selbstverständlich hingenommen wird, wäre ich gerne wieder dabei. Für mich ein solider Auftaktband mit einer besonderen, sympathischen Hauptfigur und Luft nach oben.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Das Haus in der Half Moon Street | Erschienen am 02.11.2021 bei Knaur TB
ISBN 978-3-426-52639-2
416 Seiten | 12,99 €
Originaltitel: The House on Half Moon Street (Übersetzung aus dem Englischen von Christine Gaspard)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Mathijs Deen | Der Holländer

Mathijs Deen | Der Holländer

„Und haben Sie Ihren Freund nicht gesucht?“, fragt Hans.
„Oder versucht, ihn zu retten“, ergänzt Jürgen.
Peter schweigt und schaut die beiden abwechselnd an. „Sie sind wohl noch nie im Watt unterwegs gewesen“, sagt er schließlich. „Sie haben offensichtlich keine Ahnung.“ (Auszug E-Book Pos. 413)

Zwei Männer gehen ins Watt, zu einem Rekordversuch vom Festland nach Borkum in einer Tour, der heilige Gral der Wattwanderer. Doch nur einer von beiden kommt in Borkum an und erzählt davon, wie der andere in einem Priel weggerissen wurden, er das Verbindungsseil verlor, der Freund abgetrieben wurde. Doch Peter Lattewitz steht unter Schock, ist offenbar auch etwas verwirrt. Hat es sich genau so abgespielt? Die Leiche seines Wattpartners, Klaus Smyrna, wird jedenfalls ein Stück entfernt auf einer Sandbank in der Ems gefunden und von einem niederländischen Patrouillenboot weggenommen. Erste Ermittlungen widerlegen die Unfallthese nicht. Doch da hat der Fall eine ganz andere Wendung genommen, wird plötzlich zum Politikum.

Der örtliche Chef der niederländischen Marechaussee hat nämlich nicht vor, den Leichnam an die deutsche Bundespolizei zu übergeben. Die deutsch-niederländische Grenze in der Emsmündung ist nicht eindeutig definiert. Seiner Meinung nach wurde die Leiche in den Niederlanden gefunden, daher soll es eine niederländische Ermittlung geben. Das sehen die Deutschen völlig anders und es kommt zum Kompetenzgerangel, leichten Verstimmungen und Provokationen. Derweil sendet die Bundespolizei Liewe Cupido, deutsche Mutter, niederländischer Vater, nach Delfzijl, um dort heimlich erste Ermittlungen aufzunehmen und mit bereitwilligen Kollegen auf der anderen Seite zusammenzuarbeiten. Und je mehr Cupido sich mit diesem Fall befasst, desto mehr Unklarheiten ergeben sich. Eigentlich waren die Wattwanderer ein Trio, doch zufällig bei dieser Tour, die man akribisch vorbereitet hat, war der dritte Mann, Aron Reinhard, in England im Urlaub. Einiges rund um dieses Trio kommt Cupido merkwürdig vor. Waren Lattewitz und Smyrna wirklich alleine im Watt?

Er weiß genau, was er tut, obwohl es unmöglich ist, alle Risiken zu vermeiden. Ein Wattwanderer geht ungebahnte oder vom Meer ausgelöschte Wege. Es ist eine Umgebung voller Unwägbarkeuten, in der die Natur das Sagen hat. (Auszug E-Book Pos. 37)

Eine faszinierende Welt, dieses Watt. Aber auch unheimlich und gefährlich. Und diese Extrem-Wattwanderer sind Extremsportler, die die Grenzen ausreizen und Risiken eingehen. Absolut vergleichbar mit Bergsteigern, die sich akribisch auf eine Tour vorbereiten, Routen vorausplanen und auf die optimalen Wetterbedingungen warten. Das Wattenmeer der Nordsee mit seinen vorgelagerten Inseln birgt einige sehr herausfordende Watttouren und die Strecke vom Festland bei Manslagt (Gemeinde Krummhörn) bis nach Borkum ist mit mehr als 25km definitiv so etwas wie die Besteigung eines 8.000ers. Die Wattfläche nach Borkum läuft nie vollständig trocken, seichte Wasserflächen und mehrere Priele, die nur bei Nipptide und weiteren optimalen Windverhältnissen gerade so für Profis passierbar sind, müssen durchquert werden. Die Lektüre hat mich dazu gebracht, dieses Extrem-Wattwandern mal etwas zu recherchieren. Die Route Borkum-Festland ist wohl tatsächlich wohl nur von einer Handvoll Gruppen bis heute tatsächlich geschafft worden.

Mathijs Deen ist in seiner Heimat ein bekannter Autor und Rundfunkproduzent, mehrere seiner Werke sind auch ins Deutsche übersetzt worden. Mit „Der Holländer“ wagt er sich explizit ins Krimigenre, gleichwohl liegt sein Fokus weniger auf dem eher solider Plot als auf den Figuren. Liewe Cupido als einsamer, eher schweigsamer Ermittler passt in die friesische Landschaft. Die weiteren Figuren werden ebenfalls sorgsam beschrieben. Generell ist die Stimmung melancholisch, es geht um gekränkte Eitelkeit, Einsamkeit und Verlust. Der Roman ist auch direkt mit dem Schauplatz verbunden, das Watt und die Orte drumherum spielen eine zentrale Rolle. Deen vermeidet aber bewusst die Klischees touristischer Regionalkrimis. Ein bisschen schade für den geübten Krimileser ist die Tatsache, dass zumindest ich früh ahnte, in welche Richtung die Auflösung gehen würde. Dennoch insgesamt ein stimmungsvoller und mit interessanten Figuren bestückter Roman von der friesischen Küste.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Der Holländer | Erschienen am 15.02.2022 im Mare Verlag
ISBN 978-3-86648-674-4
272 Seiten | 20,- €
als E-Book: ISBN 978-3-7517-1003-9 | 12,99 €
Originaltitel: De Hollander (Übersetzung aus dem Niederländischen von Andreas Ecke)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

A.K. Turner | Tote schweigen nie (Band 1)

A.K. Turner | Tote schweigen nie (Band 1)

Der Reißverschluss des Leichensacks öffnete sich und gab den Blick auf Cassies ersten Fall dieses Tages frei. Die halb offenen Augen der Frau, von verblüffend leuchtendem Blau, starrten blicklos zu ihr empor. (Auszug Seite 7)

„Tote schweigen nie“ ist der Auftakt einer neuen im Gerichtsmedizin-Milieu verorteten Serie. Die Protagonistin Cassandra Raven arbeitet seit 5 Jahren als Sektionsassistentin im Londoner Institut für Rechtsmedizin. Optisch fällt sie durch ihren Gothic-Look mit schwarz gefärbten Undercut, zahlreichen Tattoos und Gesichtspiercings auf. Dazu passt ihre etwas schroffe Art. Gar nicht mal so innovativ dachte ich beim Lesen des Klappentextes, alles schon mal dagewesen. Ich musste gleich an Abby Sciuto denken, die exzentrische Forensikwissenschaftlerin aus der beliebten Serie Navy CIS. Was mich aber gleich auf den ersten Seiten für die morbide Protagonistin eingenommen hat, ist ihre Leidenschaft und ihr Verantwortungsbewusstsein, mit der sie ihrer Arbeit nachgeht. Sie kümmert sich mit viel Feingefühl um die eingehenden Leichname, sieht sie als Menschen und hat das Gefühl, dass die Toten mit ihr kommunizieren und oft Hinweise auf ihre Todesursache geben. Es ist ihr wichtig, den Toten ihre Würde zu lassen und sie bemüht sich jedes Mal um eine respektvolle Verabschiedung durch die Hinterbliebenen. Eigentlich ist Cassie lediglich dafür zuständig, die Toten für die Obduktion vorzubereiten, aber dank ihrer guten Beobachtungsgabe hat sie schon manchen Pathologen vor groben Fehlern bewahrt.

Cassie hatte schon immer ein spezielles Verhältnis zum Tod. Bereits mit 4 Jahren verlor sie ihre Eltern bei einem Autounfall und wuchs bei ihrer polnischen Großmutter auf. Ihre coole Babcia hat sie immer unterstützt und fand nie was dabei, ihrer Enkelin gefrorene Eichhörnchen zu Studienzwecken zuzustecken. In ihrer Jugend rebellisch und unangepasst kam sie mit Drogen in Berührung und wäre als Junkie auf die schiefe Bahn geraten. Nur ihre engagierte Lehrerin Geraldine Edwards glaubte an sie und bestärkte sie, den Schulabschluss auf der Abendschule nachzuholen.

„Meine Zeit ist noch nicht gekommen.“
Umso schockierter ist Cassie, als Mrs E als Leiche auf ihrem Sektionstisch landet. Die 51-Jährige war erst vor kurzem in den Ruhestand getreten und soll in der Badewanne ertrunken sein. Es finden sich keine Hinweise auf eine unnatürliche Todesursache und eine forensische Obduktion wird daher abgelehnt. Und obwohl nichts auf ein Verbrechen hindeutet, ist Cassie überzeugt, dass ihre ehemals kerngesunde Mentorin, der sie so viel zu verdanken hat, ermordet wurde. Hartnäckig beginnt sie auf eigene Faust Nachforschungen zu stellen.

Unterstützung bekommt sie überraschend von der distanzierten Detective Sergeant Phyllida Flyte, die Cassie wegen einer aus dem Institut spurlos verschwundenen Leiche eines alten Mannes im Verdacht hat. DS Flyte wirkt auf den ersten Blick spröde, reserviert und ist jemand, der sich strikt an die Regeln hält. Damit stellt die Autorin Cassie eine eher reservierte sowie überkorrekte Ermittlerin zur Seite. Die beiden anfangs so konträr wirkenden Charaktere bilden ein sehr spezielles Team, das sich erst notgedrungen zusammenrauft und dann langsam annähert. Dabei stellt sich heraus, dass beide in ihrer Arbeit sehr gewissenhaft sind und moralisch integer handeln.

Die einzelnen Kapitel sind jeweils aus der Sicht einer der Hauptfiguren geschrieben, sodass die Story aus beiden Blickwinkeln erzählt wird. Die verschiedenen Fäden laufen geschickt zusammen und enden mit einem Twist am Ende sowie einer überraschenden Auflösung. Ein Großteil der Handlung spielt in der Leichenhalle und man erfährt in vielen aufschlussreichen Details von der Arbeit in der Pathologie und den Möglichkeiten, Todesursachen aufzudecken. Der Fokus liegt auf gut recherchierten und authentisch dargestellten Fakten zu den Themen Obduktion und Forensik. Die Ermittlungen in dem Kriminalfall sowie Ravens eigenmächtiges Vorgehen, das sie selbst in einige Gefahrensituationen bringt, spielen erst im weiteren Verlauf eine Rolle. Daher ist es eher ein ruhiger Krimi mit einer kontinuierlichen Spannung und moderatem Tempo als ein blutiger Thriller, bei dem die Aufklärung des ungeklärten Todesfalles im Vordergrund steht. Der Schreibstil ist flüssig und die Geschichte glänzt mit schrägen Charakteren.

Fazit
A.K. Turner hat das Rad nicht neu erfunden, aber auf einen weiteren Band mit dem Duo Raven/Flyte würde ich mich freuen, da ich die Dynamik der beiden unterschiedlichen Hauptfiguren interessant fand und hier durchaus noch Entwicklungspotenzial sehe. In diesem Auftaktband hat sich die Autorin viel Zeit genommen, mit den beiden Charakteren und ihrer Arbeit bekannt zu machen. Ich fand die Einblicke interessant und authentisch geschildert, habe aber auch eine Schwäche für Krimis und Thriller, in denen Forensik und Gerichtsmedizin eine Rolle spielen. Ich könnte mir jedoch vorstellen, dass sie in einem zweiten Band mehr Gas geben kann. Cassandras Zwiegespräche mit den Toten sind natürlich schräg, wirken aber nie lächerlich und werden ganz sensibel in der Geschichte verwoben und nicht so plakativ wie auf dem Klappentext beschrieben.

A.K. Turner ist eine englische TV-Produzentin, die Dokumentarfilme und True-Crime-Dokumentationen für den BBC dreht. Die Figur Cassandra Raven entwickelte die Londoner Autorin ursprünglich für eine BBC Radio-Sendung.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Tote schweigen nie | Erschienen am 1.September 2021 bei Droemer
ISBN 978-3-426-2824-9
400 Seiten |16,- Euro
Originaltitel: Body Language (Übersetzung aus dem Englischen von Marie-Luise Bezzenberger)
Bibliografische Angaben und Leseprobe

Attica Locke | Black Water Rising

Attica Locke | Black Water Rising

Die Autorin Attica Locke war in den Staaten bereits eine renommierte Autorin und Drehbuchschreiberin, als ihr Roman „Bluebird, Bluebird“ mit dem Gewinn sowohl des Edgars als auch des Daggers sie nochmal auf eine andere Höhe katapultierte. Der Polar Verlag brachte „Bluebird, Bluebird“ auch in deutscher Übersetzung heraus und brachte sie erstmals auch einem größeren deutschsprachigen Publikum nahe. Nach „Bluebird“ folgte mit „Heaven, My Home“ auch der zweite Roman um den schwarzen Texas Ranger Darren Matthews. Südstaaten-Romane, die sich um Heimat und natürlich um Rassismus drehen. Nun hat der Verlag sich Lockes Debütroman vorgenommen: „Black Water Rising“ erschien 2009 im Original und spielt in Houston des Jahres 1981.

Jay Porter ist ein schwarzer Anwalt mit einer kleinen schäbigen Kanzlei. Er hält sich mit kleinen Zivilklagen und Vergleichen über Wasser. Das Geld ist knapp, trotzdem hat er sich für den Geburtstag seiner schwangeren Frau Bernie etwas einfallen lassen: Eine nächtliche Fahrt auf einem kleinen Kahn mit Skipper über den Bayou durch Houston. Auf dem Rückweg werden die Bootsinsassen Zeugen eines lauten Streits jenseits der Uferböschung, kurz darauf fallen Schüsse und jemand fällt ins Wasser. Porter zögert, springt aber dann doch in den Fluss und zieht eine junge weiße Frau an Bord. Die Frau ist wortkarg, die Porters bringen sie zur nächsten Polizeistation. Jay geht aber wohlweislich nicht mit hinein, denn sein Mißtrauen sitzt aus Erfahrung tief. Später erfährt Jay, dass ein Mann tot aufgefunden wurde. Er bekommt Angst, in die Sache hineingezogen zu wurden, aber er will auch nicht unverbereitet sein, sodass er eigene Nachforschungen unternimmt.

Er überlegt, ob er ohne Jimmys Cousin mit der Polizei reden soll, kann sich aber nicht dazu durchringen.
Er erinnert sich an seinen eigenen Rat: Halt deine verdammte Klappe.
Das steckt tief in ihm drin, ist in seiner DNA gespeichert. Halt den Kopf unten, sprich nur, wenn man dich was fragt. (Auszug S.79)

Jay hat Angst vor der Polizei und dem Staatsapparat – und das nicht ohne Grund. Vor mehr als zehn Jahren war er Teil der Studentenbewegung, organisierte Proteste und Demos. Jay selbst war nicht radikal, aber er bewegte sich in Dunstkreis derer, die glaubten, mit Gewaltlosigkeit nicht weiter zu kommen. Wie die staatliche Gewalt die Bewegung in wahrsten Sinne des Worte zerschlug, hat er selbst miterlebt und am eigenen Leib erfahren. In einem Prozess mit fingierten Beweisen gegen ihn entkam er nur knapp einer Verurteilung. Seitdem ist Jay extrem vorsichtig. Er weiß, dass ein Schwarzer den direkten Kontakt mit der Polizei am besten vermeidet. Aber untätig da sitzen, will er auch nicht. Er will herausfinden, was ihn erwarten könnte. Doch er ist längst im Spiel, die Gegenseite weiß von ihm und macht ihm klar, dass er sich aus allem heraushalten sollte.

Langsam dämmert es Jay. Der wahre Grund, warum seine Waffe abhandengekommen ist. Alles nur, um ihn abzuschrecken. Und gerade er ist darauf reingefallen. Er ist das perfekte Opfer gewesen. Rolly sieht ihn über den Schreibtisch hinweg an. „Wenn du mich fragst… was der ganze Aufwand soll… das ist was Übles, Mann, was richtig Übles. Ich würd die Pfoten davon lassen, Jay.“ (Auszug S.313)

Attica Locke verwebt in diesem Roman zwei zeitliche Ebenen, die um ein zentrales Thema kreisen: Rassismus und die Benachteiligung der Schwarzen. In Rückblicken erinnert sich Jay an die Zeit der Bürgerrechtsbewegung, der Studentenproteste, den SNCC, die Black Panther. Und wie diese Proteste mit aller Härte vom Staat bekämpft und die Aktivisten kriminalisiert wurden – egal, ob sie es waren oder nicht. Jay war damals mit einer weißen Studentin zusammen, Cynthia Maddox, die damals radikaler war als er. Als er inhaftiert wurde, verschwand sie aus seinem Leben. Inzwischen hat Cynthia aber politische Karriere gemacht und ist Bürgermeisterin von Houston. Houston ist eine Stadt der Ölindustrie, die einen steilen Aufstieg gemacht hat. Die Chefs der Ölfirmen sind die heimlichen Herrscher der Stadt. Nun ist auch Houston Anfang der 80er ein Ort mit schwelenden Rassenspannungen, die mehrheitlich schwarzen Hafenarbeiter sind mit ihren Arbeitsbedingungen nicht einverstanden und wollen den Hafen bestreiken. Und auch die Ölindustrie steckt in der Krise, Öl wird heimlich in Milliarden Barrel gehortet, um die Preise hoch zu halten. Ein Streik könnte das Pulverfass zum Explodieren bringen. Jay wird durch seinen Schwiegervater, einen schwarzen Reverend, der als Vertrauensmann der schwarzen Gewerkschaftler fungiert, in den Streik hineingezogen. Jay soll seine alten Kontakte zur Bürgermeisterin nutzen. Und je mehr er mitbekommt, umso mehr dämmert es Jay, dass der Streik, die Ölindustrie und die Schüsse am Bayou miteinander zusammenhängen.

„Black Water Rising“ ist ein komplexer, aber ungemein stark komponierter Roman um den Kampf der schwarzen Amerikaner um Gleichberechtigung. Ein Roman, der 1981 spielt, und dennoch die klaren Parallelen zur Gegenwart hat. Die Autorin Attica Locke beweist sich dabei auch als Chronistin ihrer Heimatstadt Houston. Ihren Protagonisten Jay Porter schickt sie dabei als einsamen Wolf in einen kaum zu gewinnenden Kampf. Wie schon in ihren zuvor auf Deutsch erschienenen Romanen überzeugt die Mischung aus Krimihandlung, die Einbettung historischer Ereignisse und der Blick auf die texanische Gesellschaft.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Black Water Rising | Erschienen am 15.11.2021 im Polar Verlag
ISBN 978-3-948392-40-6
456 Seiten | 25,- €
Originaltitel: Black Water Rising (Übersetzung aus dem Amerikanischen von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezensionen zu „Bluebird, Bluebird“ und „Heaven, My Home“