Tag: 1. November 2021

Chris Whitaker | Von hier bis zum Anfang

Chris Whitaker | Von hier bis zum Anfang

Sie marschierten durch den Wald wie eine Armee, angeführt von Polizisten, Taschenlampenlicht überall, der Ozean hinter den Bäumen war noch ein ganzes Stück entfernt, aber das Mädchen konnte nicht schwimmen. (Auszug Seite 7)

Cape Heaven, eine fiktive, kleine Küstenstadt in Kalifornien, wird überschattet von einem tragischen Unglück, welches vor 30 Jahren stattfand. Damals verschwand ein kleines Mädchen und das erste Kapitel blickt auf das vergangene, tragische Geschehen zurück, denn die kleine Sissy Radley konnte nur noch tot geborgen werden. Gleich die ersten Sätze schüren eine bedrückende Atmosphäre und der empathische und tiefgründige Erzählstil hat mich total mitgerissen. Die Suche nach dem vermissten Kind durch das ganze Dorf in Form einer menschlichen Kette darzustellen, ist sehr bildgewaltig.

30 Jahre später sind die Auswirkungen immer noch zu spüren. Star Radley hat nicht nur im Teenageralter ihre kleine Schwester verloren, des Weiteren hat es ihr den Boden unter den Füßen weggezogen, dass ihr damaliger Jugendfreund, der 15-jährige Vincent King als Täter für 30 Jahre hinter Gitter kam. Mittlerweile ist die schöne Star alleinerziehende Mutter von zwei Kindern und sucht Vergessen in Drogen und Alkohol. Zwischen ihren depressiven Phasen tritt sie gelegentlich als Sängerin in einer heruntergekommenen Kneipe auf, zieht stets die falschen Männer an, während es die Aufgabe ihrer Tochter Duchess ist, die dysfunktionale Familie zusammenzuhalten. Die Dreizehnjährige muss sich um sich selbst, ihre Mutter und um den kleinen Bruder Robin kümmern, wobei ihre aufopferungsvolle Fürsorge im Besonderen dem Fünfjährigen gilt.

Ein unzumutbarer Zustand und nur der gutmütige Chief Walker, Polizist des Ortes und Teil der damaligen Freundschaftsclique hat zwischendurch ein Auge auf die Familie und kümmert sich nach seinen Möglichkeiten. Er ist auch der einzige, der seinen ehemaligen Freund Vincent King regelmäßig im Gefängnis besucht und sich um ihn bemüht und hilft, als der jetzt nach 30 Jahren entlassen wird und nach Cape Heaven zurückkehrt.

Haftentlassung nach 30 Jahren
Die Haftentlassung Kings schürt zusätzliches Konfliktpotenzial und setzt sich überschlagene Ereignisse in Gang. Es kommt zu einigen Tötungsdelikten, aber es ist schwierig, die Geschehnisse in Worte zu fassen, ohne zu viel zu spoilern. Denn für mich waren es grade die vielen überraschenden Wendungen sowie die Verkettung der verschiedenen Kriminalfälle, die mich an die Seiten fesselten und einen Sog entwickelten, dem ich mich nicht entziehen konnte. Insbesondere das Leben der beiden Kinder wird komplett auf den Kopf gestellt und es geht nur noch rasant bergab. Die unverhofften Schicksalsschläge erschüttern nicht nur die Figuren, sondern gehen auch der sensiblen Leserin ans Herz.

Die Ereignisse in der Vergangenheit werden nach und nach enthüllt und mit den unterschiedlichen Biografien verwoben, so dass eine permanente Spannung und emotionale Wucht entsteht. Whitakers intensiver Schreibstil, die stimmungsvollen Naturbeschreibungen, wie er die unterschiedlichen Figuren der Kleinstadt mit ihren Brüchen zum Leben erweckt, das alles hat mich durchaus an Stephen King erinnert. Die tief ausgeleuchteten Charaktere sind ein großer Pluspunkt, sie wirken authentisch, man meint sie zu kennen und fiebert mit ihnen mit.

Outlaw und Prinz
Im Mittelpunkt steht die zornige, ständig rebellierende Duchess. Sie musste schon viel zu früh erwachsen werden und geht keinem Streit oder Prügelei aus dem Weg. Mit ihrem viel zu großen Cowboyhut hat sie sich einen harten Panzer zugelegt und begreift sich als Nachfahre der Outlaws, denn die zeigten keine Schwäche und fürchteten sich vor niemandem. Ihren kleinen ängstlichen Bruder sieht sie als Prinz, den es zu beschützen gilt. Ein weiterer wichtiger Protagonist ist der loyale Chief Walker, der verzweifelt versucht, die alten und neuen Ereignisse aufzuklären. Der übergewichtige Sheriff versucht die Ordnung in Cape Heaven aufrechtzuhalten und stellt sich immer in den Hintergrund. Seine Umwelt hält ihn für einen Alkoholiker, doch den krankheitsbedingten Grund für seine ständig zitternden Hände will er niemandem verraten, aus Angst, seinen Job zu verlieren. Dann Hal, der stoische, schroffe Großvater auf seiner Ranch in Montana, zudem Duchess nur vorsichtig Nähe aufbaut. Es tauchen noch viele weitere interessante Charaktere auf, die alle auf ihre Weise die Geschichte lebendig machen.

Das permanente Scheitern ist schwer zu ertragen und zum Schluss ist zwar kein Happy-End in Sicht, aber zumindest kann man ein kleines Licht am Ende des Tunnels sehen. „Von hier bis zum Anfang“ ist Kriminalroman, Western, bewegendes Familiendrama und eine beeindruckende Coming-of-Age-Geschichte mit einer großartigen Heldin. Großes Kino über Schuld und Vergebung und mein Highlight des Jahres!

Zuerst mal hatte mich das wunderschön gestaltete Cover angesprochen, dass auf eine Geschichte im ländlichen Amerika hinweist, und tatsächlich spielt die Handlung nicht nur in Kalifornien, sondern ein ganzer Erzählstrang auch in Montana.

Überraschenderweise ist Chris Whitaker Brite und lebt mit seiner Familie in Herfordshire, wählt als Setting für seine Romane aber gerne amerikanische Kleinstädte. Er war 10 Jahre in der Finanzbranche tätig, bevor er sich dem Schreiben zuwandte. Seine Romane gewannen zahlreiche Preise. „Von hier bis zum Anfang“ wurde vom Guardian zum Buch des Jahres gekürt.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Von hier bis zum Anfang | Erschienen am 01. Juli 2021 im Piper Verlag
ISBN 978-3-492-07129-1
448 Seiten | 22.- Euro
Originaltitel: We begin at the end (Übersetzung aus dem Englischen von Conny Lösch)
Bibliografische Angaben & Leseprobe