Tag: 20. Januar 2020

Hannelore Cayre | Die Alte

Hannelore Cayre | Die Alte

Meine Betrüger von Eltern liebten das Geld instinktiv. […] Geld ist alles; das Kondensat von allem,was sich kaufen lässt in einer Welt, in der alles zum Verkauf steht. Es ist die Antwort auf alle Fragen. Es ist die Sprache vor Babel, die alle Menschen verbindet. (Auszug Seite 9)

Patience Portefeux ist eine Frau in den Fünfzigern, komplizierte Kindheit, früh verwitwet, zwei Töchter groß gezogen, immer schwer gearbeitet, lebt zwar nicht von der Hand in den Mund, aber muss sich ganz schön anstrengen, zumal das Pflegeheim für ihre ungeliebte Mutter ganz schön teuer ist. Sie arbeitet als Arabisch-Übersetzerin und Dolmetscherin für verschiedene Polizeieinheiten. Dabei hört sie vor allem Telefonate von eher minderbemittelten Drogendealern ab.

Nun ergibt sich für Patience eine einmalige Chance. Eine hochwertige Lieferung Haschisch wurde von einem Drogenlieferanten kurz vor einer Polizeisperre versteckt. Der Lieferant wird wenig später im Gefängnis ermordet. Patience ist dank ihrer Hintergrundinfos die einzige, die den ungefähren Standort des Verstecks kennt. Und sie packt die Gelegenheit beim Schopfe und steigt als Die Alte ins Geschäft ein.

Ziemlich beängstigend eigentlich, wenn man’s bedenkt, dass die Übersetzer, von denen die nationale Sicherheit abhängt, ausgrechnet jene, die live übersetzen, wenn Keller- und Garagen-Islamisten ihre Verschwörungen aushecken, illegalisierte Arbeiter ohne Sozialversicherung und Altersrente sind. Mal ehrlich, es gibt bessere Methoden der Korruptionsprävention, oder?
Ich jedenfalls, die ich korrupt bin, finde das schlichtweg zum Gruseln. (Seite 31)

Hannelore Cayre ist nebenbei Autorin, Schauspielerin und Regisseurin. Hauptberuflich ist sie allerdings Strafverteidigerin und mit dem Milieu vertraut, aus dem sie erzählt. Ihre Autorinnenkollegin Dominique Manotti schildert in einer Anmerkung zu diesem Roman, dass die beschriebene Situation ziemlich realistisch sei. Spätestens seit der Regierungszeit von Sarkozy hätten die Sicherheitskräfte in Frankreich aus Angst vor Islamisten viele Arabischstämmige aus ihren Diensten entfernt oder vernachlässigt. Mit der Konsequenz, dass man sich Privatleuten bei Dolmetscherdiensten und Übersetzungen von Kriminellen oder Gefährdern bedienen müsse. Hannelore Cayre treibt dies nun auf die Spitze und lässt eine dieser privaten Übersetzer und Übersetzerinnen den Spieß umdrehen und den egoistischen Antrieb im Rahmen des herrschenden Kapitalismus (im Drogenbusiness und auch sonstwo) freien Lauf. Aber völlig abwegig kommt dem Leser das eher nicht vor. Man schmunzelt, ob der Konsequenz und Abgebrühtheit der Patience Portefeux, aber es schüttelt einen um der Verhältnisse, die sie schildert.

Der Plot dreht sich um Drogenhandel und Geldwäsche, aber vielmehr nimmt sich die Autorin die Zeit, die Ich-Erzählerin Patience zu beleuchten, ihre Vergangenheit, ihre Lebensumstände. Diese sind nicht so zerrüttet, als dass Patience kein Ausweg als die Kriminalität bliebe. Dennoch erscheint der Schritt konsequent und der Leser kann den ausgestreckten Mittelfinger nachvollziehen, den die Hauptfigur der Gesellschaft entgegenstreckt. Hannelore Cayre schreibt dies mit viel Schwung, Ironie, bösem Witz, kompromisslos und gespickt mit einer Vielzahl an bitterbösen Zitaten. Insgesamt eine kurzweilige Lektüre mit viel Bedenkenswertem in und zwischen den Zeilen. Die Alte wurde nach einigen französischen Auszeichnungen im Jahr 2019 auch mit dem Deutschen Krimi Preis in der Kategorie International ausgezeichnet.

Rassisten aller Couleur, seid gewiss, dass die erste und letzte Person, die euch mit dem Löffel füttert und euren Intimbereich wäscht, eine Frau ist, die ihr verachtet! (Seite 57)

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Die Alte | Erschienen am 16. September 2019 im Argument Verlag
ISBN 987-3-86754-240-1
208 Seiten | 18.- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe