Zygmunt Miloszewski | Warschauer Verstrickungen
Er schaute ihm in die Augen und hielt dem Blick stand. Der Staatsanwalt hatte ein junges Gesicht, aber von einer jugendlichen Attraktivität konnte man nicht sprechen, eher von einer zurückhaltend männlichen. Der Sanftheit seiner Gesichtszüge widersprachen die leicht gerunzelten Brauen und die unangenehm kühlen grauen Augen. Das war nicht das Gesicht eines Mannes, der oft lacht. In wenigen Wochen wurden er sechsunddreißig, aber viele hätten ihn für jünger gehalten, wären da nicht die dichten weißen Haare gewesen. Der Kontrast mit den schwarzen Augenbrauen verlieh ihm etwas Strenges, leicht Beunruhigendes. Er war perfekt monochrom, nur schwarz, grau und weiß. Keine Farbe verdarb die Komposition. Schließlich wandte der Staatsanwalt seinen Blick langsam ab, ohne auch nur einmal mit der Wimper gezuckt zu haben. Dieser Beamte, dachte er, macht keine Kompromisse. (Auszug Seite 258-259)
Staatsanwalt Teodor Szacki wird an seinem freien Sonntag zu einem ungewöhnlichen Tatort gerufen: In den Räumlichkeiten eines ehemaligen Klostergebäudes liegt ein Teilnehmer einer Therapiegruppe ermordet, mit einem Grillspieß, der durchs Auge ins Gehirn gestoßen wurde. Höchstverdächtig sind die drei weiteren Teilnehmer und der Therapeut. Die Gruppe hat an einer durchaus umstrittenen Therapieform teilgenommen, der sogenannten Familienaufstellung. Teodor Szacki hat alle Hände voll zu tun, die Konstellationen zu entwirren und gerät letztlich auch an einen alten Mordfall aus dem Jahr 1987.
Warschauer Verstrickungen ist der erste Band um den Warschauer Staatsanwalt Teodor Szacki. Autor Zygmunt Miłoszewski veröffentlichte den Kriminalroman im Jahr 2007 und gewann damit den Polnischen Krimipreis „Nagroda Wielkiego Kalibru“. Erstaunlich, dass der Roman erst jetzt auf Deutsch erscheint, nachdem er bereits erfolgreich in der englischen und französischen Übersetzung veröffentlicht wurde. Der Originaltitel „Uwikłanie“ bedeutet auf Deutsch ebenfalls so viel wie Verstrickung, Verwicklung. Warum auf dem deutschen Cover eine blutige Nadel (noch nicht mal eine Stricknadel) prangt, bleibt mir allerdings rätselhaft.
Ein interessanter Bestandteil des Romans ist die psychologische Therapieform der Familienaufstellung. Dabei übernehmen die übrigen Therapieteilnehmer stellvertretend die Rolle der Familienmitglieder des Patienten und mit Hilfe eines Rollenspiels werden die Muster der Familienkonstellation wahrnehmbar.
Ebenfalls eine Rolle spielt ein alter Mordfall, der, wie Szacki ermittelt, offenbar auf das Konto des „Służba Bezpieczeństwa (SB)“ geht. Der SB, der polnische Sicherheitsdienst, das Pendant zur DDR-Staatssicherheit, war im kommunistischen Polen für die Einschüchterung und auch die Ermordung zahlreicher Oppositioneller verantwortlich. Ein Kapitel, das heutzutage immer noch nicht vollständig aufgearbeitet ist. Zahlreiche Verantwortliche, so wird im Roman angedeutet, sind nie zur Rechenschaft gezogen worden und haben im demokratischen Polen noch bedeutende Posten eingenommen. Im Roman spricht ein Informant Szackis von der einflussreichen Organisation „OdeSBa“, eine Anspielung an Frederick Forsyths Klassiker „Die Akte Odessa“.
Trotz allem ist aber die Hauptfigur das Herzstück des Romans. Der beflissene Staatsanwalt Teodor Szacki übernimmt die Ermittlungen (diese Rolle ist in Polen anders als in Deutschland) in diesem Fall und muss zeitgleich noch weitere Fälle zum Abschluss bringen. Er ist ein biederer, unterbezahlter und durch seine Arbeit zunehmend zynisch gewordener Beamter und Familienvater. Er ist Mitte 30, die Haare ergraut und er steckt mitten in der Mid-Life-Crisis. Zu Beginn des Romans wird eine neue junge Journalistin bei ihm beruflich vorstellig, die zunehmend seine Fantasien weckt. Er beginnt sich mit ihr zu verabreden und steuert langsam aber sicher auf eine Affäre zu. Der Autor verwendet viel Raum des Buches auf die inneren Konflikte seines Protagonisten, der zwischen seinem Verantwortungsbewusstsein und dem Verlangen nach (sexueller) Abwechslung schwankt und mit sich hadert. Ich habe zunehmend amüsiert das Herumlavieren von Szacki verfolgt.
Ich darf es nicht tun, dachte er, nein, ich darf es nicht tun. Ich bin fünfunddreißig, fast sechsunddreißig. Ich darf nicht im Hauptlesesaal der Stadtbücherei zur Toilette gehen und mir dort einen runterholen.
Aber er tat es. (Auszug Seite 269)
Alles in allem ein durchaus gelungener polnischer Kriminalroman mit psychologischen und politischen Komponenten. Das Tempo ist manchmal schleppend und vom politischen Hintergrund hätte ich gern noch mehr gelesen, aber insbesondere die (möglicherweise etwas zu dominierende) Hauptfigur ist Autor Zygmunt Miłoszewski wirklich hervorragend gelungen.
Rezension und Foto von Gunnar Wolters.
Warschauer Verstrickungen | Erschienen am 13. Juli 2015 im Berlin Verlag
ISBN 978-3-8270-7796-7
448 Seiten | 9,99 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe
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