Steffen Kopetzky | Risiko

Steffen Kopetzky | Risiko

Als Stichnote sich noch einmal zu Seiler und den beiden Heeresfunkern umdrehte und sah, wie sie auf dem Meidan standen, dem Entwurf der Welt, wo sich die Karawane gesammelt hatte, wurde er traurig. Die drei winkten und wurden immer kleiner. So war die Welt anscheinend. Man traf sich, und man trennte sich. Dazwischen starben immer wieder einige. Und man selbst war ein Nichts, hinter dem glockenbehängte Kamele herstapften.
Der Sternenhimmel, der bald über ihnen aufstieg, war überwältigend und die Ödnis so vollkommen, dass die Erinnerung an das langsam verfallende Isfahan schnell märchenhaft wurde. Stichnote wusste vage, dass die nächste große Stadt, die sie anstrebten, Herat war und schon in Afghanistan lag, weit über tausend Kilometer östlich. Es schien ihm unvorstellbar, dass sich die Unwirtlichkeit, die sie umgab, noch verschlimmern sollte. (Auszug Seite 535)

Mitten in der heißen Phase des Sommers 1914 liegt der Kleine Kreuzer „SMS Breslau“ in Durazzo in Albanien vor Anker. Der Marinefunker Sebastian Stichnote bändelt mit einer jungen Albanierin an. Doch bald bricht der Erste Weltkieg aus und die „Breslau“ nimmt an den ersten Kriegshandlungen teil, muss sich jedoch bald aufgrund der britischen Übermacht nach Konstantinopel flüchten. Derweil plant man in Berlin einen waghalsigen Coup: Eine geheime deutsch-türkische Expedition von Konstantinopel bis nach Kabul, um Unruhe zu stiften und die britischen Truppen in Asien zu binden. Es wird noch ein Funker gesucht und den findet man in Stichnote. Mit der Bagdadbahn geht es los Richtung Osten, doch bald geht es nur noch als Karawane voran. Immer wieder gibt es Komplikationen und Hindernisse, auch ein britischer Spion hat sich unbemerkt der Expedition angeschlossen. In den Weiten Vorderasiens wird immer deutlicher, dass Stichnote der entscheidende Mann für den Erfolg der Mission werden wird.

Sebastian Stichnote ist ein junger Funkobermaat auf der „Breslau“. Aufgewachsen in München-Giesing hat es ihn zur See gezogen, in die Ausbildung mit der relativ neuen Seefunktechnik. Stichnote ist ein sympathischer und emphatischer junger Mann. Er verfügt über ein großes Verständnis für Technik und ist auch fasziniert von den Möglichkeiten der Funktechnik. Er hat gleichzeitig auch ein gutes Verhältnis zu Tieren, eine Fähigkeit, die ihm im Laufe der Expedition noch zum Vorteil gereicht. Als Soldat ist er zuverlässig und gewissenhaft, Kriegsbegeisterung verspürt er jedoch nicht, viel lieber trifft er sich mit seiner jungen Liebe Arjona. Seine Intelligenz und seine Fähigkeiten in dem strategischen „Großen Spiel“ verschafft ihm Anerkennung bei den Kameraden und lässt ihn in der Marinelaufbahn aufsteigen. Dieses „Große Spiel“, ein Kriegsstrategiespiel der deutschen Offiziere, angelehnt an das heute bekannte „Risiko“, spielt ebenfalls eine zentrale Rolle in diesem Roman. Zum Glück hat der Autor seine Figur nicht völlig unfehlbar kreiert. Stichnote ist an manchen Stellen erstaunlich unsicher, naiv, wird heroinabhängig, ist mehr als einmal auf die Hilfe anderer angewiesen. Doch das alles macht ihn zu einer großartigen Hauptfigur.

Die Dämpfe des Opiums, des letzten Rests von Dr. Moghadems Geschenk, erlösten ihn von all seinen Schmerzen. Noch nie hatte er solchen Frieden erlebt. Das Letzte, was er sah, bevor die Träume ihn endgültig holten, war der Vogel.
Er hatte versäumt, den Taubenkäfig mit dem Tuch wieder abzudecken, und schräg gegenüber, auf den Ästen eines wilden Apfelbaums, hatte sich ein Falke niedergelassen.
Stichnote musste blinzeln, weil es ihm so vorkam, als habe er nie im Leben ein schöneres Lebewesen gesehen als diesen Falken.
Er war weiß wie das Eis am Pol.
Schneeweiß.
Ganz ruhig saß der Falke in der Baumkrone und sah zu den sechs übriggebliebenen Tauben hinunter, die, von seiner Ankunft verstört, wild mit den Flügeln schlugen.
Habt keine Angst, dachte er mehr, als dass er es aussprechen konnte, ihr seid sicher.
Wie er sie doch liebte, seine Tauben.
Aber der Falke war das Schönste.
Der weiße Falke im wilden Apfelbaum. (Seite 617)

Nach eigenen Angaben hat Autor Steffen Kopetzky mehr als zehn Jahre für Risiko recherchiert beziehungsweise daran gearbeitet. Er hat sich dabei von einer tatsächlichen Expedition inspirieren lassen, der Niedermayer-Hertig-Expedition, die Ende 1914 von Konstantinopel aus Richtung Afghanistan aufmachte, um den dortigen Emir auf die Seite der Mittelmächte zu ziehen. Auf dem Weg dorthin sollten die islamischen Völker und Gemeinschaften zum Dschihad gegen die Briten (und Russen) aufgestachelt werden. Ein Dschihad auf Initiative des deutschen Kaisers! Unglaublich, aber wahr. Kopetzky verwendet die historischen Fakten und baut drumherum einen fiktiven Ablauf bis hin zu einem alternativen Ende. Das Buch ist natürlich erstrangig ein opulenter Abenteuerroman, daneben beinhaltet er aber auch eine Liebesgeschichte, einen Spionagethriller und eine Menge Lektionen in Sachen Geopolitik und Orientalistik. Und über allem weht ein Hauch von Karl May („Durch das Land der Skipetaren“, „Von Bagdad nach Stambul“, „Durchs wilde Kurdistan“).

Der Roman ist in einem zwar konventionellen, aber dem Genre angemessenen, stilistisch sauberen Erzählstil geschrieben. Kopetzky versteht es sehr überzeugend, Fakten und Fiktion zu vermischen, sowohl bei der Handlung als auch bei den Personen. So begegnen uns Karl Dönitz, späterer Admiral und letzter Reichspräsident des dritten Reiches, als Leutnant auf der „Breslau“ und Protegé Stichnotes oder in Konstantinopel Alexander Parvus alias Helphand, er organisierte 1917 Lenins Zugreise nach St. Petersburg, oder Lucien Camus, Algerienfranzose und Vater von Albert Camus, beim Angriff der „Breslau“ auf die nordalgerische Stadt Bône. Dazu breitet er in die Handlung eingeflochten ein wahres Panoptikum an Anekdoten, Fakten, Wissenswertem aus. Etwa die Geschichte des Heroins, die Glaubensgemeinschaft der Bahai, die große persische Dichtung „Die Konferenz der Vögel“, das afghanische Reiterspiel Buzkaschi oder Kurd Laßwitz‘ Roman „Auf zwei Planeten“. Und über alldem verliert Kopetzky nicht den Faden, bringt die Geschichte weiter voran, hält die Spannung aufrecht bis zum Schluss.

Und das war es, was Niedermayer an Oppenheims Idee einer Afghnaistan-Expedition reizte – sie nahm sich wie der lebendig gewordene Alptraum englischer Weltpolitik aus. Sie roch nach dem schweißgebadeten Abgründen von Downing Street, folgte einer Logik, die zutiefst britisch war und die Niedermayer mit einem Mal auch genau zu verorten wusste: Oppenheim plante im Kern einen Angriff auf das heartland. Wieso war er nicht gleich daraufgekommen! (Seite 225)

Im Roman wird auch die geopolitische „Heartland“-Theorie angesprochen, die im Jahre 1904 vom britischen Geographen Halford Mackinder aufgestellt wurde. In dieser Theorie hat das sogenannte Herzland in der Mitte des eurasischen Kontinents ein zentrale geopolitische Bedeutung für die ganze Welt. Erstaunlich, dass genau 100 Jahre nach der deutschen Afghanistan-Mission diese Theorie wieder aktuell erscheint. Ebenso erstaunlich ist dieses Buch, dass es erfreulicherweise sogar auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis geschafft hat. Ein wirklich kurzweiliger und begeisternder Abenteuerroman. Einer meiner Favoriten, wenn nicht sogar das Lese-Highlight im diesem Jahr.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

 

Risiko

Risiko | Erschienen am 21. Februar 2015 im Klett-Cotta Verlag
ISBN 978-3-608-93991-0
731 Seiten | 24,95 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Himmelfahrtskommando Hindukusch – Ein Interview mit dem Autor Steffen Kopetzky über seinen Roman Risiko

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