Marc-Oliver Bischoff | Die Sippe
Freyr sieht in die untergehende Sonne. Er kann es eigentlich nicht riskieren, den Jungen am Leben zu lassen. Kinder sind ein Sicherheitsrisiko. Sie plappern. Und es lässt sich nicht verhindern, dass sie das Dorf von Zeit zu Zeit verlassen. Dann sickern Informationen durch. Er stellt den blonden Jungen auf die Füße und dreht ihn herum. Sieht ihm tief in die Augen. „Schwöre, dass du es für dich behältst.“ „Ich schwöre, Freyr.“ „Auf Dein Leben.“ „ Auf mein Leben.“ (Auszug Seite 11)
Wo ist Sara?
Katharina Hofmann arbeitet als Krankenschwester in Hamburg. Nach einem Theaterbesuch wird sie brutal überfallen und entgeht nur knapp einer Vergewaltigung. Als sie dann auch noch in eine brenzlige Situation in einer U-Bahn gerät, bricht sie zusammen und wird für einige Wochen krankgeschrieben. Zur gleichen Zeit verschwindet ihre Schwester Sara nach einem mysteriösen Telefonanruf spurlos.
Katharina macht sich in großer Sorge auf den Weg nach Rostock, wo ihre Schwester als Gerichtsvollzieherin tätig ist. Auf der Arbeit hat Sara sich krank gemeldet und in ihrer Wohnung findet Katharina einen Hinweis auf ihren letzten beruflichen Einsatz, der sie nach Grantzow führte. Von der Polizei allein gelassen, reist Katharina in das kleine Dorf in Mecklenburg-Vorpommern und gibt sich dort erst mal als Touristin aus.
Die perfekte Idylle
In dem blitzsauberen Dorf scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Katharina entdeckt frisch restaurierte Höfe und gepflegte Werkstätten, wie eine Schmiede und eine Papiermanufaktur und auf alt getrimmte Schilder und Wegweiser. Verblüfft sieht sie Schulkinder, die alle brav in Reih und Glied aus der Schule kommen. Sie staunt über die altmodischen Kleider der Kinder und die langen Zöpfe der Mädchen. Katharina, die nach einer Autopanne feststeckt, beschließt, erst mal in Grantzow zu bleiben, wird aber nachts bei der Rückkehr ins Dorf von bewaffneten Wachposten kontrolliert. Ansonsten sind die Menschen sehr hilfsbereit, aber keiner will Sara gesehen haben. Katharina weiß nicht, was sie von den Dorfbewohnern denken soll. Handelt es sich um harmlose, traditionelle Ökobauern und Selbstversorger mit etwas altmodischer Attitüde, die einfach alternative Lebensweisen propagieren? Oder doch Neonazis, die in Sekten ähnlichen Strukturen leben und zu Gewalt gegen Andersdenkende bereit sind?
Bis auf einige Abschnitte sehen wir alles durch Katharinas Augen und man spürt ihr Unbehagen und die Situation wird immer bedrohlicher und spitzt sich zu. Denn die Dorfbewohner versuchen mit allen möglichen Mitteln, die junge Frau als neues Mitglied auf die Seite der Sippe zu ziehen. Verschiedene Andeutungen und sprachliche Ausrutscher irritieren Katharina, besonders als sie fassungslos bei einer Sonnenwendfeier den Hitlergruß sieht. Dem Leser wird die gefährliche Lage immer bewusster, je mehr man von den Menschen verachtenden und Demokratie feindlichen Ideologien der Bewohner erfährt.
Katharina weiß nicht, dass das Dorf bereits seit längerem von staatlicher Stelle beobachtet wird. Das Landeskriminalamt hat einen Horchposten im Wald und sogar einen V-Mann ins Dorf eingeschleust. Trotzdem ist es noch nicht gelungen, eine Verbindung zwischen dem Dorf und radikalen Neonazis zu belegen, auch weil hier zwei Zuständigkeiten gegeneinander arbeiten.
Katharina kommt ihr heimlicher Verdacht, bei der Sippe handle es sich möglicherweise um Neonazis, plötzlich ein bisschen kindisch und ungerecht vor. Hier sieht es doch viel eher aus wie auf einem Mittelaltermarkt als bei einem NPD-Aufmarsch. Und dass in dieser Gegend Deutschlands bei öffentlichen Veranstaltungen, bei denen es billiges Bier und kostenloses Essen gibt, der eine oder andere stramme Deutsche erscheint und aus seiner Gesinnung keinen Hehl macht, lässt sich wahrscheinlich nicht verhindern. Dafür die Schuld bei Gerd und Hiske und ihrem Stamm zu suchen, wäre unfair. (Seite 173)
Man ahnt, dass ihre Schwester Sara etwas gesehen hat, was sie nicht hätte sehen dürfen. Erst beim Showdown begreift man das ganze Ausmaß der grauenvollen Vorgänge.
Rechtsextreme Ökobewegung
Marc-Oliver Bischoff rückt in seinem gut recherchierten Kriminalroman Die Sippe eine rechtsextreme Ökobewegung, die sogenannten „völkischen Siedler“ in den Fokus. Die wertkonservativen Mitglieder dieser Sekte erkennen wie die Reichsbürger unseren Staat nicht an und glauben an ein Deutschland in den Grenzen von 1937. Nach ihrer Vorstellung halten die Alliierten unser Land bis heute besetzt. Die Umsetzung des Themas ist gut gelungen und der Autor packt so ziemlich jeden Aspekt rechter Lebenswelten in seine Handlung. Über die Sonnenwendfeier mit Hitlergruß, germanische Kulte und Symbole, Großfamilien, gebärfreudige Frauen bis zu Waffendepots im Wald kommt alles vor.
Trotz einiger Logiklücken konnte ich das Buch kaum aus der Hand legen. Die subtile Spannung und Dramatik baut sich langsam auf, auch wenn der Plot an der einen oder anderen Stelle etwas konstruiert wirkt. Bischoff arbeitet mit Plakativen, hier die böse Großstadt Hamburg, da das idyllische Bilderbuchdorf. Das Figurenpersonal agiert durchweg glaubhaft. Auch wenn ich die Charakterisierung Katharinas teilweise etwas unbefriedigend fand. Der Leser erfährt alles durch ihre Perspektive, deshalb ist sie natürlich die Ahnungslose, auch wenn ihre Naivität manchmal schwer zu ertragen war.
Bischoff schreibt gradlinig und schnörkellos und setzt sich auch kritisch mit der Rolle des Landeskriminalamtes und dem Einsatz von Informanten in die rechte Szene auseinander.
Die Realität
Ein Roman, der mich noch lange nach dem Lesen beschäftigt hat, da die brandaktuelle Geschichte erschreckenderweise von der Realität eingeholt wurde. Wie perfide, dass auf dem Land, in abgelegenen Gegenden, in denen sich die Menschen vom Staat allein gelassen fühlen, Grundstücke gekauft werden und unter dem Deckmantel des biologischen Landbaus eine Gemeinschaft mit rassistisch-antisemitischer Weltanschauung und eigenen Strukturen zelebriert wird.
Das Buch endet mit einem Nachwort der Amadeu Antonio Stiftung, die 2014 eine Studie über „Völkische Siedler in ländlichem Raum“ erstellte. Hier wird der Leser über die historische Entwicklung der Siedlerbewegung und ihr heutiges Werken informiert. Ein interessanter Aspekt ist zum Beispiel, dass die Bewegung der völkischen Siedler schon älter ist als der Nationalsozialismus.
Marc-Oliver Bischoff wurde 1967 in Lemgo geboren und arbeitet heute in Ludwigsburg als Technologieberater. Erst mit 41 entdeckte er durch seinen Blog „Lauf, Du Sau“ das Schreiben für sich, aus dem später ein Buch entstand. Für seinen ersten Kriminalroman Tödliche Fortsetzung wurde er mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet.
Rezension und Foto von Andy Ruhr.
Die Sippe | Erschienen am 25. Oktober 2016 im Grafit Verlag
ISBN 978-3-89425-478-0
317 Seiten | 12.- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe