Harry Bingham | Fiona Wo die Toten leben Bd. 5
Ihr Kleid fasse ich nicht an, aber ich schnuppere daran. Es riecht sauber, sieht auch so aus. Manche Menschen koten sich ein oder urinieren vor dem Tod, doch Carlotta hat alles sauber hinterlassen. Sie ist so eine. Adrett und reinlich. (Auszug Seite 31)
Eher zufällig gerät Detective Sergeant Fiona Griffiths von der Kripo South Wales an ihren aktuellen Fall. Auf einem kleinen Friedhof eines entlegenen Dorfes wird ein weiblicher Leichnam gefunden. Ohne Zeichen von Gewaltanwendung wurde die junge Frau in einem historischen Totenhaus mit einer Bibel aufgebahrt. DS Griffiths, die sich grade dort in der Provinz aufhält, wird zur Unterstützung der ortsansässigen Polizei eingesetzt. Bis zum Eintreffen der Polizeibeamten unter der Leitung von DI Alun Burnett am anderen Morgen, verbringt sie die ganze Nacht mit der Toten und nennt sie Carlotta. Fiona mit ihrer Affinität zu Leichen ist von der schönen jungen Frau, die in einem weißen Kleid und frisch gewaschenem Haar zurechtgemacht ist, geradezu entzückt.
Es gibt keinen Fall!
Die Identifizierung gestaltet sich schwierig, da niemand die schöne Unbekannte zu kennen scheint und es auch keine Vermisstenmeldung gibt. Schnell und für Fiona fast ein bisschen enttäuschend steht fest, dass Carlotta eines natürlichen Todes und zwar an Herzversagen verstarb. Ermittlungen sind nicht erforderlich und eigentlich gibt es gar keinen Fall. Doch Fiona bleibt hartnäckig dabei, die Umstände aufzuklären, auch da die von ihr initiierte Sonderermittlungsgruppe „Operation April“ grade etwas auf der Stelle tritt. Eine Spur führt alsbald in ein in der Nähe gelegenes Schweigekloster, in dem sich die junge Frau kurz vor ihrem Tod aufgehalten hat. Fiona vermutet, dass Carlotta sich einiger teuren Schönheitsoperation unterzogen haben muss und aufgrund dieses Hinweises lässt sich tatsächlich die Familie aufspüren.
Weiter findet die junge Polizistin einen Zusammenhang zu einem seit Jahren ungeklärtem Vermisstenfall aus der Gegend. Sie kümmert sich sehr warmherzig um den depressiven Vater der verschwundenen Einheimischen und versucht sogar sein Leben wieder in die Spur zu bringen. Einfach für den Fall, dass die verschollene Tochter eines Tages wieder auftauchen sollte.
Riesige Höhlensysteme in Wales
Diese Spur zwingt Fiona zu Grabungsarbeiten und sie überzeugt auch Burnett von ihrer Idee, mit dem sie inzwischen ein richtig gutes Team bildet. Im weiteren Verlauf machen sich die beiden Polizisten in Taucheranzügen und mit unzuverlässigen Stirnlampen bewaffnet mutig in ein riesiges Höhlensystem inklusive vieler niedriger Kammern, fast unpassierbarer Tunnel und einem unterirdischen See auf. Der Autor schöpft hier aus einem Vorrat an persönlichen Erfahrungen, wie er in einem Nachwort erzählt. Und das merkt man auch. Ausgesprochen versiert wie hier die Kälte, Dunkelheit und damit verbundene Einsamkeit beschrieben und dadurch eine unheimliche Atmosphäre eingefangen wird. Bei katastrophalen Sichtverhältnissen kämpfen unsere Helden hier ums Überleben und diese Passagen waren so unglaublich klaustrophobisch, dass ich die niedrige Höhlendecke beim Lesen ständig über mir spürte.
Auf dem Planeten „Normal“
Auch Fionas fünfter Fall wird wieder aus ihrer Perspektive im Präsens geschildert und so ist man ihrer Gefühls- und Gedankenwelt immer sehr nah. Während im ersten Band das Rätsel um ihr seltsames Sozialverhalten im Mittelpunkt stand und vom Autor Stück für Stück enthüllt wurde, weiß man jetzt, dass Fiona als Jugendliche an einer psychischen Störung litt. Bei dem unheilbaren Cotard-Syndrom leiden die Betroffenen unter der Wahnvorstellung, nicht mehr am Leben zu sein. Nach einer langjährigen Therapie hat die kleine, zierliche Polizistin gelernt, damit zu leben und imitiert das „normale“ Verhalten im Sinne der gesellschaftlichen Konventionen. Die Krankheit verleiht ihr aber auch eine besondere Intuition und hilft ihr oft sogar, die richtigen Schlüsse zu ziehen, da sie einfach auch mal um die Ecke denkt. Ihre Verbundenheit zu Toten ist sicher sehr unkonventionell, gibt aber der Reihe einen besonderen, morbiden Touch. Mit Fiona, der eigensinnigen, empathischen Polizistin, die am liebsten Pfefferminztee trinkt und sich beim Kiffen entspannt, hat Harry Bingham einen komplexen Charakter erschaffen. Als eigene Schwäche gibt sie an einer Stelle zu:
Zorn und Hochmut.
Und, wie ich hinzufügen muss, Unaufrichtigkeit.
Ich bin keine ehrliche Person. Ich lüge und vertusche und täusche vor. Ich belüge meine Vorgesetzten und Freunde und gebe vor, jemand zu sein, der ich nicht bin. Und das alles mit Vorsatz und in böswilliger Absicht. Ohne Scham oder Reue.
Man kann mir nicht trauen. (Seite 516)
Als Gegenpart in diesem Band funktioniert die gutmütige, intelligente Figur des stinknormalen DI Alun Burnett sehr gut. Fionas Suche nach ihrer ungeklärten Vergangenheit wird nur gestreift und hätte für mich noch detaillierter ausfallen können. Als Zweijährige wurde sie ausgesetzt und hatte das Glück, an liebevolle Pflegeeltern zu geraten, auch wenn ihr Ziehvater ein König der Unterwelt war.
Harry Bingham schreibt spannend, intelligent und mit viel Sprachwitz. Der Polizeialltag wird detailliert und auch sehr stimmig beschrieben, ob es die Verhöre sind oder auch die Beschreibungen des düsteren Treibens im Kloster. Mit der Auflösung hätte ich so nie gerechnet, trotz des Humors hat Fiona es wieder mit einem richtig bösen Fall zu tun.
Rezension und Foto von Andy Ruhr.
Fiona: Wo die Toten leben | Erschienen am 26. März 2019 bei Rowohlt
ISBN 978-3-499-27510-4
544 Seiten | 10.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Auch bei uns: Die Rezension zu den Band 1 Fiona: Den Toten verpflichtet der Fiona-Reihe von Harry Bringham.