Garry Disher | Stunde der Flut

Garry Disher | Stunde der Flut

Januar 2020: Charlie Deravin ist frisch gebackenener Vater und noch nicht lange bei der Polizei, ist in die Fußstapfen seines Vaters Rhys getreten. Doch die Stimmung in der Familie Deravin ist getrübt, die Eltern haben sich getrennt, der Vater hat eine Geliebte. Das alte, bescheidene Familienhaus in Menlo Beach steht zum Verkauf, Charlie holt noch ein paar Surfbretter ab, will seinem Vater lieber nicht begegnen. Seine Mutter Rose hat etwas Neues angemietet, aber Probleme mit dem seltsamen Untermieter Shane Lambert, den Charlie und sein Bruder Liam dann vor die Tür setzen. Eine gute Woche später ist Charlie wieder in Menlo Beach. Billy Saul, ein neunjähriger Junge ist aus einem Jugendlager verschwunden. Die Polizei startet eine großangelegte Suchaktion, man findet schließlich einige Sachen des Jungen am Strand. Mitten in der Aktion wird Charlie abkommandiert, Kollegen befragen ihn zu seiner Mutter. Man hat ihren Wagen am Straßenrand verlassen aufgefunden. Fahrertür offen, Wertsachen verstreut, Blut am Autoschlüssel. Sowohl Rose Deravin als auch Billy bleiben verschwunden.

Zwanzig Jahre später immer noch. Die Ungewissheit hat an allen Personen genagt, schnell wurde damals Charlies Vater zum Hauptverdächtigen. Doch der Verdacht konnte nie durch Beweise erhärtet werden. Für viele, auch für Charlies Bruder Liam, bleibt der Vater der vermeintliche Täter, doch Charlie will dies nicht glauben. Überhaupt konnte damals ziemlich wenig herausgefunden werden. Ebenfalls verdächtig war der Untermieter, doch zum Tatzeitpunkt war er offenbar in Polizeigewahrsam, inzwischen ist er auch nicht mehr auffindbar. Charlie hat während all der Zeit versucht, noch irgendwas zu ermitteln, daran ist schließlich auch seine Ehe zerbrochen.

Ende 2019 wird Charlie vom Dienst suspendiert, weil er einen Vorgesetzten attackiert hatte. Bei einem Vergewaltigungsprozess wird das Opfer plötzlich Ziel von Verleumdungen, der Täter, ein Sporttalent, in Schutz genommen, die Geschworenen beeinflusst, die Polizei bleibt auf der Suche nach weiteren Zeugen tatenlos. Charlie lernt eine Geschworene kennen, die sich gegen die Beeinflussung zur Wehr setzt. Beide werden ein Paar und Charlie verteidigt sie auch vor Kollegen. Aufgrund der Suspendierung ergibt sich für Charlie aber auch wieder mal genug Zeit, um die Nachforschungen zu seiner Mutter wieder aufzunehmen. Und tatsächlich, nach zwanzig Jahren kommt Bewegung in den Fall.

Der Job und all die Fehler, die er darin gemacht hatte. Man würde ihn wieder einsetzen, vielleicht zur Verkehrspolizei irgendwo draußen im Buschland verdonnern. Oder rausschmeißen. Oder er kündigte. Im Augenblick leckte er sich nur die Wunden und wartete ab. Und er suchte nach Shane Lambert, seit zwanzig Jahren. Der Faden, an dem noch keiner gezogen hatte. All die Spuren, die im Sande verlaufen waren…. (Auszug S.45)

Garry Disher ist ein unermüdlicher Autor, inzwischen hat der Australier schon die 70 überschritten, dennoch veröffentlicht er mehr oder weniger jährlich einen neuen Roman. Lange Zeit jonglierte Disher mit zwei Reihen parallel, Hal Challis als Polizist und Wyatt als Berufsverbrecher. Dann veröffentlichte er „Bitter Sweet Road“ mit Constable Hirschhausen, eigentlich als Stand Alone gedacht, nun gibt es davon auch schon drei Bände. „The Way It Is Now“, so der Originaltitel, ist erstmal auch nur ein Einzelstück, doch bei Disher kann man nie wissen. Zentraler Protagonist ist ebenfalls ein Polizist, wenngleich ein suspendierter. Charlie Deravin ist ein ruhiger, eher melancholischer Typ. Als Polizist sehr engagiert, fast schon zu sehr, im Gespräch mit einer Therapeutin wird deutlich: Der Typ steht kurz vorm Burnout. Nun könnte Charlie sich nach der Suspendierung sammeln, das Glück einer frischen Beziehungen genießen, doch was tut er: Er gräbt wieder in der Vergangenheit herum. Das Verschwinden seiner Mutter ist der große dunkle Punkt in seiner Familie, zumal sein Vater den Verdacht, damit etwas zu tun gehabt zu haben, nie los wurde.

Die Figur Charlie Deravin steht stellvertretend für die große Klasse des Autors Garry Disher. Seine Figuren leben und atmen förmlich, sind keine zusammengeschusterten Abziehbilder, sondern dieser Charlie könnte, so wie er ist, am Strand von Menlo Beach stehen. Disher beschreibt seine Figuren glaubhaft, ihre Beziehungen untereinander, ihre Träume und Abgründe. Dabei bleibt er in der Gegenwart verankert, in der australischen Gesellschaft, bringt Covid-19, Buschbrände, Verfehlungen der australischen Polizei wie selbstverständlich in die Geschichte ein.

Das fasziniert mich immer aufs Neue bei Garry Disher. Und sein traumwandlerisches Gespür für den Plot. Auch hier gibt es wieder verschiedene Stränge, die er zielsicher am Ende zusammenführt. Diesmal in einem wahren Showdown. Insofern gibt es bei „Stunde der Flut“ keine Überraschungen – Garry Disher bleibt der Goldstandard der Kriminalliteratur.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Stunde der Flut | Erschienen am 11.07.2022 im Unionsverlag
ISBN 978-3-293-00584-6
334 Seiten | 22,- €
Originaltitel: The Way It Is Now | Übersetzung aus dem Englischen von Peter Torberg
Bibliografische Angaben & Leseprobe

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