Ferdinand von Schirach | Terror: Ein Theaterbesuch
Vorsitzender: „Guten Tag, meine Damen und Herren. Ich freue mich, dass sie pünktlich kommen konnten. […] Bevor wir anfangen, möchte ich Sie bitten, alles zu vergessen, was sie über diesen Fall gelesen oder gehört haben. Wirklich alles. Nur Sie sind dazu berufen, hier zu urteilen, Sie sind die Schöffen, die Laienrichter, die heute über den Angeklagten Lars Koch zu Gericht sitzen. Das Gericht stattet Sie mit der Macht aus, über das Schicksal eines Menschen zu entscheiden. Bitte nehmen Sie diese Verantwortung ernst. […] Urteilen Sie also ruhig und gelassen. Und vor allem: Denken Sie daran, dass vor Ihnen ein Mensch sitzt; er hat die gleichen Träume wie Sie, die gleichen Bedürfnisse, er strebt, wie Sie, nach Glück. Bleiben Sie deshalb bei Ihrem Urteil selbst Menschen.“ (Auszug aus dem Buch, Seiten 7-9)
Autor und Strafverteidiger Ferdinand von Schirach zählt seit dem Erscheinen seines ersten Kurzgeschichtenbandes Verbrechen im Jahr 2009 zu den erfolgreichsten deutschen Schriftstellern. Insbesondere sein Roman Der Fall Collini wurde auch international ein Bestseller. Von Schirach nutzt seine Erfahrung als Jurist, um in seinen Werken an der Grenze zwischen Kriminalliteratur und Belletristik große moralische Fragen von Recht und Gerechtigkeit, Verbrechen, Schuld, Sühne und Strafe aufzuwerfen. Im Jahre 2014 veröffentlichte von Schirach eine Sammlung von Essays, die er im „Spiegel“ veröffentlicht hatte, unter dem Titel Die Würde ist antastbar. Diese Thematik hat er nun wieder aufgegriffen und in dem Theaterstück Terror verarbeitet. Das Drama wird laut Wikipedia in der Spielzeit 2015/16 an 27 deutschsprachigen Bühnen aufgeführt.
Das Schauspiel basiert auf folgendem Fall: Ein Terrorist bringt eine Passagiermaschine auf dem Weg von Berlin nach München kurz nach dem Start in seine Gewalt und kündigt an, die mit 164 Passagieren und Besatzungsmitgliedern besetzte Maschine im mit 70.000 Zuschauern besetzten Fußballstadion Allianz Arena zum Absturz zu bringen. Danach bricht jeglicher Kontakt zum Flugzeug ab. Das Lage- und Führungszentrum der Luftwaffe schickt zwei Kampfjets zur Maschine, doch Abdrängungsversuche und Warnschüsse haben keinen Erfolg. Ein Befehl zum Abschuss der Maschine wird ausdrücklich nicht erteilt. Wenige Minuten vor Erreichen des Stadions schießt Lars Koch, einer der beiden Kampfpiloten, die Maschine ab. Alle Insassen kommen ums Leben. Nun ist Lars Koch angeklagt wegen Mordes in 164 Fällen.
Der Autor hat das Stück als Gerichtskammerspiel konzipiert mit lediglich sechs Sprechrollen, den vorsitzenden Richter, die Staatsanwältin, den Verteidiger, den Angeklagten und zwei Zeugen. Das Stück ist bewusst reduziert auf die Fragestellungen, die sich die Demokratie in Zeiten des Terrors stellen muss: „Welche Rolle spielt die Moral in unserem Rechtssystem?“ „Gibt es so etwas wie einen übergesetzlichen Notstand?“ Und schließlich: „Ist die Würde des Menschen antastbar?“ Das Besondere des Stücks: Das Publikum entscheidet am Ende in einer Abstimmung über Freispruch oder Verurteilung.
Die Tat wird vom Anklagten nicht bestritten. Die Frage, die sich das Publikum als Schöffen zu stellen hat: Durfte Lars Koch die Maschine abschießen? Den Tod von 164 Menschen in Kauf nehmen, um 70.000 zu retten? Die Verteidigung bejaht die Frage, stellt den Abschuss als große moralische Entscheidung für das kleinere Übel dar. Der Angeklagte argumentiert, dass die Passagiere eine Sache in den Händen eines Terroristen waren und daher zugunsten der größeren Zahl der Stadionbesucher geopfert werden durften. Demgegenüber steht die Position der Staatsanwaltschaft. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, niemals darf ein Leben gegen ein anderes abgewogen werden, auch nicht im Verhältnis. „Niemals darf eine ‚moralisch richtige‘ Einstellung über die Verfassung gestellt werden“ (Seite 119). In der Verhandlung kommen weitere reale ähnlich gelagerte Fälle oder juristische Fallkonstruktionen zur Sprache. Interessant ist außerdem die Geschichte des Luftsicherheitsgesetzes, das im Stück ebenfalls behandelt wird. Der Bundestag verabschiedete dieses Gesetz am 11. Januar 2005 unter dem Eindruck des 11.September und des Irrflugs eines Sportfliegers durchs Frankfurter Bankenviertel. Im § 14 Abs. III wurde dabei der Abschuss einer Passagiermaschine als ultima ratio zur Vermeidung einer noch größeren Zahl von Opfern geregelt. Ein Jahr später wurde dieser Paragraph vom Bundesverfassungsgericht als Verstoß gegen Artikel 1 GG und Artikel 2 Abs.2 S.1 GG (Recht auf Leben) für nichtig erklärt. Der damalige Bundesverteidigungsminister Jung widersprach dem Urteil und erklärte, dass er unter Berufung auf einen übergesetzlichen Notstand den Abschussbefehl geben werde und dass die Luftwaffe auch nur diejenigen Piloten in diesen Situationen einsetzen werde, die bereit wären, diesen Befehl auch mit dem Wissen um die Entscheidung des Verfassungsgerichts auszuführen.
Ich hatte die Gelegenheit, das Stück am Gründonnerstag in der Inszenierung des Theaters Bielefeld zu sehen. Das Bühnenbild war bewusst reduziert. Vor der Bühne links der Tisch der Staatsanwältin, in der Mitte vor der Bühne mit dem Rücken zum Publikum der Richtertisch, rechts saßen der Verteidiger und der Angeklagte. Auf der Bühne (vollständig in weiß gehalten) stand lediglich der Zeugenstand, das Bühnenbild war nach hinten hin zulaufend, am Ende ein Streifen Projektionsfläche, auf der neben Hintergrundbildern (vorwiegend der Himmel, vorbeifliegende Flugzeuge) die Gesichter des Angeklagten und eine Zeugin während der Befragung vergrößert projiziert wurden.
Obwohl das Stück sicherlich nicht den Augenmerk auf die Figuren und ihre Rollen, sondern mehr auf die hintergründigen Fragen legt, hat man in der Inszenierung versucht, die Rollen nuanciert zu besetzen. Thomas Wolff spielt den Vorsitzenden als jovialen elder statesman, Carmen Priego die Staatsanwältin als eher unterkühlte Hüterin des Grundgesetzes. Als Verteidiger tritt Georg Böhm juppiehaft auf und versucht, den Eindruck zu erwecken, die Staatsanwaltschaft wolle seinen Mandanten nur aufgrund eines Rechtsprinzips (auch wenn es Verfassungsrang habe) verurteilen, man müsse in solchen Fällen jedoch den Einzelfall betrachten. Jan Sabo spielt den Angeklagten Lars Koch zunächst zurückhaltend, geht aber im Laufe der Befragung der Staatsanwältin aus sich heraus und macht seine Motivation und Logik klar. Ein hochintelligenter Mann am Rande der Arroganz, der für sich beansprucht, die letztendliche Entscheidung fällen zu dürfen. Ein Verhalten, das mich in meiner Entscheidung durchaus negativ beeinflusst hat. Der Zeuge und Luftwaffenoffizier Lauterbach wird von Stefan Imholz als nervöser Techno-/Bürokrat gespielt, der im Wesentlichen den Ablauf des Geschehens darstellt und bestätigt, dass es keinen Schießbefehl gegeben hat. Er gerät im Laufe seiner Aussage aber zusehend ins Schwimmen, als ihn die Staatsanwältin fragt, ob er auch die Maschine abgeschossen hätte und warum es keinen Räumungsbefehl für die Allianz Arena gab. Schließlich die Zeugin und Nebenklägerin Meiser, die emotional und ergreifend von der SMS erzählt, die ihr Mann aus der entführten Maschine schrieb: „Wir versuchen, ins Cockpit zu kommen. Habe bitte keine Angst, wir schaffen das. Ich liebe Dich.“ (Seite 102)
Das Stück wird nach den Plädoyers von einer Pause unterbrochen. Die Zuschauer werden nun aufgefordert, sich über die Verhandlung Gedanken zu machen und zu einer Entscheidung zu kommen. Die Pause wird dann auch intensiv genutzt, es wird in kleinen und größeren Gruppen diskutiert. Schließlich ertönt der Gong und die Zuschauer werden entsprechend ihres Votums gebeten, die vorderen Türen in den Saal bei dem Urteil „schuldig“ und die hinteren bei „nicht schuldig“ zu benutzen. Ich entscheide mich für „schuldig“, meine Frau wählt „nicht schuldig“. Mitarbeiter des Theaters zählen die Eintretenden, nach kurzem Warten wird das Ergebnis verkündet. Am Gründonnerstag waren es über 400 für einen Freispruch, nur etwa 150 hätten den Angeklagten verurteilt. Ein eindeutiges Ergebnis. Der Vorsitzende verliest das Urteil, danach ist das Stück beendet. Doch die Diskussionen über das Gesehene gehen bei den Zuschauern noch länger weiter.
So eindeutig wie am Gründonnerstag ist das Votum jedoch nicht immer. Auf einer Internetseite werden die Voten gesammelt. Bislang ist das Verhältnis knapp 60 zu 40 für den Freispruch, in den meisten Vorstellungen gab es Freisprüche, lediglich am Staatsschauspiel Dresden überwiegen die Verurteilungen. Wer die Möglichkeit hat, sich das Stück mal anzusehen, ich kann es nur empfehlen. Wann hat man schon mal die Gelegenheit, sich so intensiv und auf populäre Art juristisch mit dem wichtigsten Artikel unseres Grundgesetzes auseinanderzusetzen?
Text und Fotos von Gunnar Wolters.
Terror | Erschienen am 7. Dezember 2015 bei Piper
ISBN 978-3-492-05696-0
176 Seiten | 16,- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe
Die besuchte Theatervorführung fand am 23. April 2016 im Stadttheater Bielefeld statt.