David Peace | GB84

David Peace | GB84

Alles passiert heute hier. Die Streikenden haben die Polizisten auf dem Zechengelände in der Falle. Die Polizei hat Hilfe angefordert. Die Kolonne mit der Verstärkung ist unterwegs –
In zwei Reihen rast sie mit hundertvierzig Sachen die Straße entlang. Die Streikenden am Straßenrand bewerfen die Wagen mit Steinen, vom ersten bis zum letzten –
Rums. Rums. Rums. Rums –
Brocken um Brocken. Ziegel um Ziegel. Stein um Stein –
Auf jedes Einzelne der sechzig Fahrzeuge. Ein Pferdetransporter gerät auf den Bürgersteig und trifft frontal einen Kumpel –
Sie lassen ihn in seiner Donkeyjacke sterbend liegen –
Die Polizisten lachen, johlen, schlagen auf ihre Schilde. Der Mechaniker steht vor einem Pub und schaut in die Gesichter. Männer rennen in jede beliebige Richtung davon. Polizisten stürmen hinter ihnen her. Rettungswagen, brennende Barrikaden –
Polizeitransporter mit Maschengittern und Kuhfängern brettern gegen die Barrikaden –
Die Lust ist voller Qualm und Qualen. Die Morgendämmerung lässt auf sich warten – (Auszug Seite 349)

Großbritannien im März 1984: Kaum hat Ian McGregor, der Vorsitzende des National Coal Board (NCB), die Schließung unrentabler Zechen und die Privatisierung der übrigen angekündigt, beginnt die einflussreiche Bergbaugewerkschaft National Union of Mineworkers (NUM) mit den Gegenmaßnahmen. Ohne Urabstimmung wird vom Gewerkschaftsführer Arthur Scargill ein landesweiter Streik ausgerufen. Die Gewerkschaft ist zuversichtlich, schließlich hatten sie bereits 1974 den konservativen Premierminister Edward Heath durch ihren Streik aus dem Amt gedrängt. Doch diesmal regiert ein anderer Regierungschef in Downing Street No.10: Die eiserne Lady Margaret Thatcher. Es beginnt ein harter Kampf, der sich ständig zuspitzt und in dem alle Register gezogen werden: Betrug, Korruption, Verrat, Gewalt, Bespitzelung und auch Mord.

Der britische Bergarbeiterstreik 1984/85 stellt bis heute eine der politischen Zäsuren Großbritanniens dar. Der Streik dauerte knapp 53 Wochen und wurde begleitet von zahlreichen gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den Streikenden. Obwohl sich Premierministerin Thatcher offiziell zurückhielt, war klar, dass sie insgeheim die Fäden zog. Ihr erklärtes Ziel war der Machtverlust der traditionell starken britischen Gewerkschaften. Ein Kompromiss zu den Zechenschließungen und Privatisierungen war nicht vorgesehen und hätte Thatchers Vision des Neoliberalismus gefährdet. Auf der anderen Seite stand „King Arthur“ Scargill, der Vorsitzende der NUM, ein selbstbewusster und exzentrischer Mann, am Marxismus orientiert, ebenso kompromisslos bereit, um die Arbeitsplätze zu kämpfen. Auf der Strecke bleiben bei diesem Arbeitskampf das Selbstbewusstsein der britischen Arbeiterklasse, der gesellschaftliche Zusammenhalt und der Glaube an den demokratischen Rechtsstaat.

Autor David Peace hat hieraus den auf Tatsachen beruhenden fiktionalen Roman GB84 geschrieben, in dem nur die wichtigsten Personen mit Klarnamen vorkommen. Der Leser begleitet mehrere Personen durch die Streikwochen: Gewerkschaftsgeschäftsführer Terry Winters, der die Gelder verwaltet und vom Rest der Gewerkschaft nur geduldet wird, David Johnson, der Mann für die schmutzigen Arbeiten, vom Geheimdienst zwangsrekrutiert, Stephen Sweet, Strippenzieher der Premierministerin und von Peace konsequent „der Jude“ genannt, Neil Fontaine, Sweets Fahrer und Handlanger, der auch eigene Ziele verfolgt, und Malcolm Morris, Abhörspezialist.

Ich war gewarnt. Zweimal bislang hatte ich Romane von David Peace gelesen: 1974 aus dem „Red Riding Quartet“ und die Trainer-Biografie The Damned United. Beides rohe, wütende, derbe, aber auch sehr intensive Romane. Und der Autor, ein Verehrer James Ellroys, bleibt seinem Stil treu. Kurze Sätze, Aufzählungen, fragmentarische Einschübe. Zudem erklärt Peace äußerst wenig, geht direkt in medias res. Das ist äußerst fordernd für den Leser, schafft aber gleichzeitig eine ungeheure Intensität. Besonders zur Geltung kommt diese zu Beginn der Kapitel, wo Peace immer auf einer Seite (in verdammt kleiner Schriftgröße) die beiden Streikenden Pete und Martin eine Art Tagebuch führen lässt. Die beiden starten voller Euphorie in den Streik, werden regelmäßig als Streikposten eingesetzt, erleiden harte Entbehrungen, lassen sich regelmäßig von der Polizei verprügeln, um am Ende völlig desillusioniert mit leeren Händen dazustehen.

Tag 264. Wieder mal Sonntag. Ein verdammter Sonntag. Ich kann nicht im Haus bleiben. Ich gehe ins Hotel. Ich habe gerade genug für ein halbes Pint. Zu Fuß hin und zurück, das wird den Großteil des Tages dauern. Frischluft hilft mir beim Schlafen. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalten kann. Wirklich nicht. Ich weiß, es gibt welche, die hielten das für das Beste, was jemals in ihrem Leben passiert ist. In den ersten paar Monaten zumindest. […] Ich frage mich, was sie jetzt darüber denken. Nach neun Monaten. Neun verdammten Monaten – Neun Monate Toast zum Frühstück, Suppe zu Mittag, Spaghetti zum Abendbrot. Neun Monate lang keine neuen Sachen für die Kinder. Neun Monate nur Almosen und die abgelegten Sachen von anderen. Neun Monate, in denen ihre Frauen versuchten, mit dem wenigen auszukommen und alles zusammenzuhalten. Neun Monate, in denen alles langsam auseinanderfiel. Neun Monate, in denen sie jedes nur erdenkliche Fernsehprogramm gesehen haben. Neun Monate, in denen sie von nichts anderem gesprochen haben. Neun Monate Streit und Streit und Streit und Streit. Neun Monate, in denen sie zu Bett gegangen sind, auf dem Rücken gelegen, die Decke angestarrt haben, sich wünschten, tot zu sein. (Seite 394)

Leider hat der Roman für mich einen großen Kritikpunkt: Er ist einfach deutlich zu lang. David Peace hat das Buch in 53 Kapitel unterteilt, für jede Streikwoche eins. Und diese Kapitel wollen gefüllt werden. So wird es besonders zu Buchmitte, wenn das x-te Gewerkschaftstreffen stattgefunden hat und „der Jude“ zum x-ten Mal irgendwelche Streikbrecher schmiert, doch arg langatmig. Ich behaupte mal kühn, hätte dieser Streik in Frankreich stattgefunden, Dominique Manotti hätte nur knapp die Hälfte der Seiten gebraucht, um einen nicht minder intensiven und anklagenden Roman zu schreiben (zugegeben in einem anderem Stil).

Alles in allem ein sehr intensiver und wütender politischer Roman, der hohe Anforderungen an den Leser stellt und leider aus meiner Sicht erhebliche Längen aufweist.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

 

GB84

GB84 | Erschienen als Taschenbuch am 13. Juli 2015 bei Heyne Hardcore
ISBN 978-3-453-67530-8
544 Seiten | 12,99 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

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