Kategorie: Gunnar Wolters

Alan Parks | Die April-Toten (Band 4)

Alan Parks | Die April-Toten (Band 4)

Im Jahr 2017 startete der ehemalige Creative Director eines Musiklabels, Alan Parks, sein ambitioniertes Projekt einer Krimireihe mit Schauplatz Glasgow in den 1970ern. 12 Bände sind geplant, für jeden Monat einer. Schon Band 1 „Bloody January“ wurde von Kritik und Lesern sehr gelobt (auch von uns). Bereits ein Jahr nach der Veröffentlichung des Originals began Heyne Hardcore mit der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung und kam bis zu Band 3 „Bobby March Forever“. Danach war der immer für außergewöhnliche Genreliteratur bekannte Verlag innerhalb des Großkonzerns Penguin Randomhouse Geschichte. Und die Reihe in deutscher Übersetzung erstmal vakant, im Original veröffentlicht Parks fleißig weitere Bände. Doch zum Glück nahm sich jetzt der Polar Verlag dieser Reihe an, die hervorragende Übersetzerin Conny Lösch ist weiterhin dabei und so heißt es: Vorhang auf für Harry McCoys Glasgow, Band 4.

„Ich bin an dieses Bett gefesselt, durchs Fenster sehe ich Glasgow, eine Stadt, die ich nie wirklich gemocht habe. Hier gibt es pro Kopf mehr Säufer als sonst irgendwo. Überall die Kathedralen der Papisten. Die Stadt suhlt sich in ihrem eigenen Dreck, die Menschen rutschen auf Knien, halten die Hand auf, haben ihr kulturelles Erbe billig an die Engländer verscherbelt.“ (Auszug S.373)

Willkommen in Glasgow 1974. Im Gegensatz zu den hippen Metropole heute damals eine Stadt im Niedergang, voller Arbeitslosigkeit, Armut, Alkohol und Kriminalität. Detective Harry McCoy wird zu einem ungewöhnlichen Tatort gerufen. In einem schäbigen Haus mit Sozialwohnungen ist eine Bombe losgegangen, offenbar während der Herstellung, und hat den Bomberleger selbst getötet. Bei Bomben wird man auch in Schottland hellhörig, spitzt sich doch der Konflikt im benachbarten Nordirland gerade richtig zu. Doch eine Verbindung zu den Troubles lässt sich nicht herstellen, auch nicht, als in der Glasgow Cathedrale eine weitere Bombe hochgeht, ohne jemanden zu verletzen. Doch irgendjemand zündet in Glasgow Bomben und McCoy sucht verzweifelt einen Ansatzpunkt. Ein zweiter Fall ergibt sich aus einer privaten Begegnung in einem Pub: Der Amerikaner Andrew Stewart, ehemaliger Navy-Officer, spricht McCoy an und bittet ihn um Hilfe bei der Suche nach seinem Sohn Donny. Dieser ist in der amerikanischen U-Boot-Basis stationiert und seit Tagen spurlos verschwunden. Zunächst widerwillig willigt McCoy ein, Donny zu suchen. Doch je mehr er über dessen Verschwinden erfährt, desto mehr mehren sich Hinweise auf ein Verbrechen und einen Zusammenhang zu Bombenserie.

Währenddessen hat McCoy aber noch andere Sorgen. Sein Jugendfreund aus gemeinsamen harten Tagen in einem Kinderheim, Stevie Cooper, ist – wie aus den Vorgängerbänden wohlbekannt – ein einflussreicher und gnadenloser Gangsterboss in Glasgow. Er hat eine Fehde im Gangstermilieu angezettelt und wird kurz nach Entlassung aus einer kurzen Haftstrafe öffentlich mit einem Messer attackiert. Am frühen Morgen wird der Angreifer dann ermordet aufgefunden und natürlich ist Cooper Hauptverdächtiger. Doch er hat – dank McCoy – ein Alibi.

Sie sah ihn durch den Türspalt an. Nahm einen tiefen Zug von ihrer Capstan und blies ihm den Rauch ins Gesicht. „Du hältst dich wohl für ´ne große Nummer, McCoy. Du denkst, du bist ein großer Bulle, aber du bist genauso einer wie wir alle, wir leben alle auf dem Rücken von Stevie Cooper und tanzen nach seiner Pfeife. Der einzige Unterschied ist, dass du´s nicht zugeben willst.“ (Auszug S.124)

Diese Verbindung zwischen dem Bullen und dem Gangsterboss macht auch den großen Reiz dieser Reihe aus. Harry McCoy ist ein rechtschaffender Polizist mit intaktem Moralverständnis. Natürlich ist er mit den Dienstvorschriften manchmal aufs Kriegsfuss und schlägt über die Stränge, doch die nicht geringe Anzahl an käuflichen Kollegen sind ihm ein Graus. Seine Verbindung zu Cooper ist allerdings seine große Archillesferse, sein Chef weiß, was er an McCoy hat und sieht über die Verbindung hinweg. Doch diese ist und bleibt grenzwertig, denn Cooper reizt die Verbindung gerne aus und stellt McCoy auf die Probe. Er ist ein knallharter und brutaler Gangster. Wer nicht für ihn ist, ist gegen ihn. Es knallt zwischen beiden, doch die Bande zwischen beiden ist tief.

Der Plot verwebt geschickt verschiedene Handlungsstränge und Thematiken. Es geht um schottischen Nationalismus, Hippies, Militaristen, fahrendes Volk, Bandenkriminalität, den Nordirlandkonflikt und die Präsenz amerikanischer Atom-U-Boote in Schottland sowie ein besonders dunkles Thema, das sich erst zuletzt offenbart. Dabei bleibt der Erzähler die ganze Zeit bei der Perspektive der Hauptfigur McCoy, vermag es aber auch den weiteren Figuren und vor allem auch Glasgow und Umgebung Leben einzuhauchen. Musikalisch ist im April 1974 vor allem Abbas „Waterloo“ allgegenwärtig, sehr zum Verdruss McCoys.

Alan Parks macht mit seiner Reihe eigentlich nahtlos weiter, wo er aufgehört hat. Ein hartgesottener Bulle in den düsteren Straßen Glasgows, staubtrockene Dialoge, ein straffer, temporeicher Stil, immer wieder auch mit schwarzem Humor garniert – alles Zutaten für eine kurzweilige Lektüre. Insgesamt eine wirklich gelungene Fortsetzung. Gratulation und Dank an den Polar Verlag für die Übernahme der Reihe.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Die April-Toten | Erschienen am 16.09.2024 im Polar Verlag
ISBN 978-3-910918-06-1
444 Seiten | 26,- €
Originaltitel: The April Dead | Übersetzung aus dem schottischen Englisch von Conny Lösch
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu Band 1 „Blutiger Januar“

Frank Goyke | Saat der Wut

Frank Goyke | Saat der Wut

Auf dem Parkfriedhof in Berlin-Marzahn wird die Leiche von Marija Subotić aufgefunden. Die junge Frau war Romni und betätigte sich politisch und aktivitisch. Sowohl die Gedenksteine auf dem Friedhof als auch die Gedenkstätte in Andenken an ein ehemaliges „Zigeunerlager“ als KZ-Außenstätte vor dem Friedhof sind mit Hakenkreuzen verschmiert. Für das Kripo-Team um Jasper Ackermann ein ernst zu nehmender Ermittlungsansatz, doch nicht der einzige, denn als Aktivistin hat die Tote sich einige Personen zum Gegner gemacht.

„Ich habe mich näher mit der Geschädigten befasst und festgestellt, dass von ihr 23 Anzeigen gegen unbekannt bei der Berliner Polizei vorliegen“, sagte Täschner […] „23 Anzeigen wegen Volksverhetzung, Beleidigung, übler Nachrede oder Verleumdung und auch Straftaten nach §241 StGB.“
„Bedrohungen also auch.“ Ackermann beugte sich vor. „Was für Drohungen?“
„Morddrohungen, aber auch Drohungen mit Taten, die gegen die sexuelle Selbstbestimmung gerichtet sind. Eine Kostprobe gefällig?“ (Auszug S. 67)

Marija Subotić war sehr aktiv als Antifaschistin und als Aktivistin für die Rechte von Sinti und Roma, hat auch zur Geschichte des Porajmos, des Genozids an den Sinti und Roma während der NS-Zeit, recherchiert und Material dokumentiert. Dafür wurde sie an vielen Stellen angefeindet. Zudem hat sie sich auch mit der eigenen Familiengeschichte beschäftigt, ist dafür nach Serbien gereist und hat dort Unerwartetes recherchiert. Letztlich war sie auch Teil von parteiinternen Auseinandersetzung bei der Partei „Die Linke“. Somit gibt es einen extrem breiten Ermittlungsansatz für die ermittenden Beamten.

Frank Goyke, seit über dreißig Jahren als Krimiautor aktiv, aktuell betreibt er übrigens gemeinsam mit Buchhändlerin Cornelia Hüppe auch einen Krimi-Podcast („Mit Knarre, Koks und kalter Platte“), setzt in diesem Roman großen Wert auf eine akkurate Beschreibung der Ermittlungsarbeit. Jasper Ackermann und seine Kollegen müssen eine Vielzahl von Indizien durchforsten, so einige Zeugen befragen und intensive Recherchen machen. Dennoch gelingt es dem Autor, einen gewissen Spannungsbogen in diesem klassischen Whodunnit zu erhalten.

Die gesellschaftspolitische Komponente ist sicherlich das Interessanteste an diesem Krimi. Das zentrale Thema, der Genozid an den Sinti und Roma und die heutige Situation dieser Minderheiten, ist ansprechend wiedergegeben. Noch Luft nach oben hat für mich das Ermittlerteam, die Unterschiedlichkeit der Figuren wirkten etwas gewollt und auch die Dialoge fühlten sich manchmal etwas verkrampft an. Und die Auflösung am Ende war für mich zu risikolos, ohne hier zu spoilern, da hatte ich auf eine brisantere Lösung gehofft. Alles in allem aber ein solider, gesellschaftlich-politisch relevanter Krimi.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Saat der Wut | Erschienen am 31.08.2023 im Jaron Verlag
ISBN 978-3-89773-892-8
224 Seiten | 15,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Vor 65 Jahren: Ross Macdonald | Der Fall Galton

Vor 65 Jahren: Ross Macdonald | Der Fall Galton

Er trat gewissermaßen in die Fußstapfen der großen zwei (Chandler und Hammett) der klassischen amerikanischen Hardboiled Novel und wurde zu einem der erfolgreichsten Autoren des Genres: Ross Macdonald, geboren 1915 als Kenneth Millar in Kalifornien (lebte aber ab Kindheit und Jugend bis Anfang der 1940er in Kanada). Seinen Künstlernamen wählte er, um sich von seiner ebenfalls im Krimigenre sehr erfolgreichen Ehefrau Margaret Millar abzugrenzen. Während er als Lehrer arbeitete und seinen Militärdienst ableistete, war sie schon früher als Autorin aktiv (und erfolgreich) als ihr Mann. Zwischen den Eheleuten kam es in den Jahren zu großer schriftstellerischer Konkurrenz bis hin zu häuslicher Gewalt. Leidtragende war ihre gemeinsame Tochter Linda (geboren 1939), die nicht nur die häuslichen Streitigkeiten ihrer Eltern erdulden musste, sondern auch mal mehr, mal weniger offensichtlich in den Figuren der Romane ihrer Eltern auftauchte (hier der sehr interessante Essay von Frank Göhre im Crimemag zu diesem Thema). Linda Millar starb 1970 an einer Medikamentenüberdosis, vermutlich ein Suizid, wenngleich nie vollständig geklärt. Kenneth Millar starb 1983, seine Frau elf Jahre später.

1949 erscheint mit „Moving Targets“ (dt.: Das wandernde Ziel / Reiche sterben auch nicht anders) der erste Roman mit Ross Macdonalds Privatermittler Lew Archer. Bis 1976 („The Blue Hammer“) erscheinen 18 Romane. Archer gehört zwar zur klassischen Schule der amerikanischen „hardboiled detectives“ mit den bekannten Größen Sam Spade und Philip Marlowe, doch ihm Gegensatz zu seinen eher zynischen Kollegen ist er empathischer und reflektierter. Oft angesiedelt im wohlhabenden bürgerlichen Milieu Kaliforniens der 1950er und 1960er drehen sich die Fälle regelmäßig um problematische familiäre Verhältnisse, um verdrängte, tief vergrabene Geheimnisse, die aber zwangsläufig irgendwann wieder ans Tageslicht treten. Archer dringt tief in diese Lebenslügen ein und ist aber stets daran interessiert, die Verwerfungen, die sich ergeben haben, zu kitten.

„Erzählen Sie mir etwas über sich selbst. Warum verbringt ein Mann ihrer Art sein Leben mit einer Arbeit, wie Sie sie tun? Verdienen Sie damit viel Geld?“
„Genug, um davon zu leben. Ich tue sie aber nicht des Geldes wegen, ich tue sie, weil sie mir gefällt.“
„Ist es nicht eine schmutzige Arbeit, Mr. Archer?“
„Das hängt davon ab, wer sie tut, wie bei Ärzten und allen anderen. Ich versuche sie sauberzuhalten. (S. 86-87)

„Der Fall Galton“ ist von 1959 und der achte Band der Reihe. Lew Archer wird vom Anwalt Gordon Sable im Namen von Maria Galton, Witwe eines Ölmillionärs, eingestellt. Er soll ihren Sohn Anthony zu finden, der vor zwanzig Jahren im Streit das Haus verlassen hatte und mit seiner schwangeren Frau verschwand. Es geht ums Erbe, Maria Galton möchte sich vor ihrem Tode mit ihrem Sohn versöhnen.
Archer verfolgt einen Hinweis in die Nähe von San Francisco und findet heraus, dass bei Bauarbeiten unter dem ehemaligen Wohnhaus von Anthony Galton eine Leiche ohne Schädel gefunden wurde – der ehemalige Hausherr? Als dann noch der Diener von Anwalt Sable ermordet wird und ein junger Mann auftaucht, der sich als Sohn von Anthony Galton ausgibt, wird es zunehmend komplex.

Ich fragte mich, ob wir ihm einen Gefallen taten. Im Haushalt der Galtons konnte man das Geld aus einem unerschöpflichen Reservoir wie Wasser aus der Leitung zapfen. Aber Geld bekam man nie umsonst. Wie für jede andere Ware mußte man dafür bezahlen. (S. 150)

Die Komplexität der Geschichte ist nicht untypisch für Ross Macdonald und erinnert an klassische griechische Tragödien. Dabei besticht der Autor durch die psychologische Tiefe der Figuren, die sprachliche Eleganz des Textes und der Dialoge sowie die lässig-hartnäckige, aber nie zynische Hauptfigur. Für Fans des Genres ist Ross Macdonald auf jeden Fall immer zu empfehlen. „Der Fall Galton“ hat inzwischen 65 Jahre auf dem Buckel, doch man kann ihn immer noch gut lesen (obwohl sich in heutigen Zeiten Verwandtschaftsverhältnisse natürlich leichter klären lassen).

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Der Fall Galton | Erstmals erschienen 1959
Die gelesene Ausgabe erschien 1976 im Diogenes Verlag
Originaltitel: The Galton Case | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Egon Lothar Wensk
Die aktuelle Ausgabe erschien 2016 als E-Book im Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-60768-0
288 Seiten | 7,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Megan Abbott | Wage es nur!

Megan Abbott | Wage es nur!

Es gibt kaum etwas Amerikanischeres als Cheerleader. Athletische, gutaussehende Mädchen und junge Frauen, die in knappen Kostümen das jeweilige Sportteam supporten, die Zuschauer animieren und akrobatische Kunststücke vollführen. Dass so manches breite Lächeln dabei eher aufgesetzt ist und dieses Hobby aus harter Arbeit und vielen Entbehrungen besteht – das konnte selbst der absolute Laie vermuten. Zu welcher Dynamik aber ein Cheerleader-Team fähig ist, das lotet Megan Abbott in ihrem neuesten Noir „Wage es nur“ hinlänglich aus.

Die Geschichte wird als Ich-Erzählerin von Addy Hanlon erzählt, 16 Jahre alt. Sie ist Teil ihres High School Cheerleader Teams. Anfangs war es nur ein Zeitvertreib, wie sie selbst erklärt, um die Zeit totzuschlagen, bis endlich etwas passiert. Doch inzwischen lebt sie fürs Cheerleaden, lässt sich völlig davon vereinahmen. Ihre beste Freundin ist Beth Cassidy, das Top Girl, die Anführerin des Teams und diejenige, die sagt, wo es in ihrer Freundschaft lang geht. Zu Beginn der neuen Saison kommt nun eine neue Trainerin zum Team: Colette French. Zunächst etwas unnahbar und hart, lässt sie das Team aber auch an sich heran und verbringt auch außerhalb der Sporthalle Zeit mit ihnen. Coach Colette merkt aber bald, dass sie die Mädels nur dann vollständig hinter sich bringen und auf ein neues Level bringen kann, wenn sie die bestehenden Hierarchien aufbricht.

Weil Coach Beth als das erkennt, was sie ist, und weiß, dass sie sie stürzen muss.
Und Tacy?
Eine Schachfigur. (S.56)

Das Amt der Kapitänin wird abgeschafft, ein neues Top Girl (das bei den Figuren ganz oben steht) aufgebaut. Zudem bemüht sich Colette sehr um Addy, die sich allzu gerne darauf einlässt und die Lebenserfahrung ihrer Coachin förmlich aufsaugen will. Das lässt das Alphatier Beth natürlich nicht auf sich sitzen. Beth ist die geborene Intrigantin, sie sät Zwietracht und spinnt im Hintergrund die Fäden. Und sie weiß genau, welche Knöpfe sie drücken muss. Als Addy und sie Colette bei einem Seitensprung überraschen, ist der Angriffspunkt gefunden.
Der Roman beginnt damit, dass Colette Addy eines Nachts um Hilfe bittet. Offensichtlich ist jemand zu Tode gekommen. Die Szene wird dann in der Mitte des Romans wieder aufgegriffen. Bis zuletzt wird im Folgenden um die Umstände gerungen und wer welche Verantwortung dafür trägt, dass es so weit gekommen ist.

„Wenn man von außen schaut“, sagt sie, und ihr Mund steht erschrocken offen, „sieht es aus, als wolltet ihr euch gegenseitig umbringen, und auch euch selbst umbringen.“ (S.273)

Megan Abbott schreibt aus der Sicht von Abby und findet einen überzeugenden Ton einer Heranwachsenden, die die Schwelle zum Erwachsenwerden so langsam überschreitet und dementsprechend noch von Unsicherheit geprägt ist. Die Geschehnisse zwischen den Cheerleader-Mädchen sind geprägt von Zickenkrieg, Dominanzgehabe, Eifersucht und Manipulation. Das Cheerleadern und die Auftritte katapultieren die Mädchen auf eine andere Ebene, dafür hungern sie und ertragen Schmerzen. Sie bereiten sich akribisch vor, ihre Schminke, ihr Glitzer, ihre Kostüme sind eine Art Rüstung für ihren eigenen Gladiatorenkampf. Abbott schildert diese Atmosphäre im Locker Room eindringlich und prägnant (auch die Übersetzung durch Karen Gerwig sei an dieser Stelle gewürdigt) und dringt tief in die Psyche der Mädchen ein – ohne dass man als Leser diese Hormondurchflutung vollständig nachvollziehen könnte. Doch das diese Atmosphäre toxisch ist und auf eine Katastrophe hinausläuft, ist sofort klar. Insgesamt ein etwas anderer Noir, anregend und bedrohlich, der beweist, dass das Dunkle auch in Pompons daherkommen kann.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Wage es nur | Erschienen am 30.04.2024 bei Pulp Master
ISBN 978-3-946-58218-2
342 Seiten | 16,- €
Originaltitel: Dare me | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Karen Gerwig
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Rezensions-Doppel Christoffer Carlsson | Was ans Licht kommt & Wenn die Nacht endet (Band 2 & 3)

Rezensions-Doppel Christoffer Carlsson | Was ans Licht kommt & Wenn die Nacht endet (Band 2 & 3)

Der schwedische Autor Christoffer Carlsson ist der neue Shootingstar der renommierten schwedischen Krimiszene. Geboren in Halmstad an der schwedischen Westküste, eine Landschaft auf die er später in seiner aktuellen Romanreihe zurückkommt. Er ist studierter Kriminologe, widmete sich aber schnell nach seinem Studium der (Kriminal)-Literatur. Direkt sein Krimidebüt „Der Turm der toten Seelen“ wurde 2013 mit dem schwedischen Krimipreis ausgezeichnet, weitere Auszeichnungen folgten. Carlsson wurde mir mehrfach empfohlen, zuletzt der zweite Roman der „Halland“-Reihe „Was ans Licht kommt“. Kurz danach hatte ich Gelegenheit, auch den dritten Band „Wenn die Nacht endet“ zu lesen, somit gibt es an dieser Stelle eine Doppelrezension.

Was ans Licht kommt

Die Geschichte wird in mehreren Zeitebenen von einem Ich-Erzähler erzählt, einem Schriftsteller, der in einer kleinen Lebenskrise sich wieder nach Halland in die alte Heimat begibt, um dort einen True-Crime-Roman zu verfassen. Er wählt die Geschichte des Mordfalls Stina Franzén aus und die Obsession des örtlichen Polizeibeamten Sven Jörgensson, den Mörder zu finden. Der Mordfall ereignet sich am späten Abend bzw. in der Nacht des 28. Februar 1986. Für alle Schweden ein JFK-Moment, denn an diesem Abend wird Ministerpräsident Olof Palme von einem Attentäter erschossen. Der Palme-Mord überschattet den Fall in der Provinz. Der zuständige Beamte Jörgensson erhält einen anonymen Anruf vom Täter, in dem dieser weitere Taten ankündigt. Tatsächlich verschwindet kurz darauf wieder eine junge Frau, Frida Östmark. Doch sie bleibt verschwunden, wie auch lange der Täter. Sven Jörgensson wird schließlich krank über der Suche und vererbt seine Obsession schließlich an seinen Sohn Vidar, ebenfalls Polizist.

Durch diese Notizen sah Vidar seinen Vater in einem deutlicheren Licht, als er in jemals auf der anderen Seite des Küchentischs, am anderen Ende des Sofas oder neben sich im Auto gesehen hatte. Manche Verbrechen weichen nicht vom Fleck, ehe sie aufgeklärt sind. Und scheitert man, wird es einen für alle Zeiten prägen.
Was hier oben geschehen war, hatte seinen Vater regelrecht aufgezehrt. (Auszug Seite 308)

Das große Motiv des Romans ist das Scheitern, den Opfern durch Aufklärung eines Kriminalfalls Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, das vergebliche Mühen nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Sühne. Das Ganze bereitet Carlsson unglaublich präzise auf, in dem er die Geschichte von Vater und Sohn Jörgensson erzählt, die alles tun, um Gerechtigkeit herzustellen und doch dabei scheitern. Der Vater bezahlt es sogar mit Krankheit und Tod. Dabei schwelt neben den Fällen im ländlichen Halland immer der große Palme-Fall im Hintergrund, der das Vertrauen der schwedischen Bevölkerung in Polizei und Justiz fundamental erschüttert hat.

Christoffer Carlsson bedient sich dabei einer sehr klugen Gesamtkomposition mit einer cleveren Rahmenhandlung, in der der Autor als Ich-Erzähler letztlich selbst zum Ermittler wird und am Ende eine weitere Pointe dem Roman hinzufügt. Ein herausragender Kriminalroman, der sehr versiert und mit leiser Sohle Hintergründe, gesellschaftliche Stimmungen und die Psychologie der Figuren offenlegt.

Wenn die Nacht endet

Vidar Jörgensson begegnet uns auch im dritten Halland-Roman, wenn auch erst recht spät in der Geschichte. Diese beginnt im Dezember 1999, kurz vor der Jahrtausendwende. Die Jugend Hallands bereitet sich auf große Festivitäten vor, die ältere Bevölkerung ist teilweise leicht hysterisch, hebt in Sorge vor dem Millenniumscrash das Ersparte von der Bank ab. In einer Nacht in den Weihnachtstagen kommt es im Dorf Skavböke zu einer tragischen Nacht: Nach einer Party wird der 18jährige Mikael Söderström erschlagen aufgefunden, gleichzeitig wurde das Ersparte einer Bauernfamilie geraubt. Das Dorf ist erschüttert, der Verdacht liegt nahe, dass der Täter einer der weiteren Jugendlichen ist. Ins Visier gerät ein ungleiches Freundespaar: Killian Persson und Sander Eriksson. Weitere tragische Ereignisse erschüttern in den nächsten Wochen im wahrsten Sinne des Dorf. Doch erst zwanzig Jahre später kommt die Wahrheit über die Ereignisse von damals als Licht.

Als man aufwuchs, waren die Wege und Pfade so selbstverständlich wie die Menschen, die alten Steinmauern und die Häuser. Die Welt ringsum war schon immer da gewesen, und so würde es immer bleiben. […] Es gab kein Ende, und es war unmöglich, dass etwas oder jemand eines Tages nicht mehr existieren, nicht mehr da sein sollte.
Dann holte der Tod Mikael, und alles veränderte sich. (Auszug E-Book Pos. 886)

Auch dieser Roman zeugt von der enormen Fähigkeit Carlssons, in die Psychologie seiner Figuren einzutauchen. Das Buch erzählt von der Jugend und dem (manchmal abrupten) Erwachsenwerden, von Freundschaft, Verrat, Schuld und Vergebung. Und wieder schwingt im Hintergrund auch eine gesellschaftliche Komponente mit. Für meinen Geschmack war dieser Roman manchmal eine Spur zu langsam erzählt. Zudem bringt Jörgensson hier einige Wendungen bzw. Zufälle, die mir einen Tick too much waren. Dennoch wiederum ein guter Roman des schwedischen Autors und auch in der Form des Regionalkrimis eine wohltuende Alternative zum schematisch gewordenen Nordic Noir.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Was ans Licht kommt | Die aktuelle Taschenbuchausgabe erschien am 12.09.2023 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-86648-701-7
492 Seiten | 14,- €
Originaltitel: Brinn mig en sol | Übersetzung aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Wertung: 4,5 von 5

Wenn die Nacht endet | Erscheinen am 14.05.2024 im Kindler Verlag
ISBN: 978-3-463-00061-9
464 Seiten | 24,- €
Originaltitel: Levande och döda | Übersetzung aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Wertung: 3,5 von 5

Weiterlesen: Kurts Rezensionen der Leo-Junker-Reihe von Christoffer Carlsson