Kategorie: Thriller

Vor 24 Jahren: 2001 in Crime Fiction (Teil 1)

Vor 24 Jahren: 2001 in Crime Fiction (Teil 1)

Vor zwei Jahren haben uns schon einmal in einem Doppelbeitrag einem Krimijahr gewidmet. Damals war es 1998, nun springen wir drei Jahre weiter auf das Jahr 2001. Inzwischen hatte das Harry Potter-Fieber die ganze Welt erfasst, was sich auch auf die Literatur-Bestsellerlisten auswirkte (und auf die Leinwand, doch dazu später). So tauchten bei den Verkäufen aus dem Krimigenre nur Henning Mankell (mit gleich zwei Wallandern) und der Altmeister Ken Follett (mit „Das zweite Gedächtnis“) ganz vorne auf.

Wenn man einen Trend im Genre ausmachen will dann vielleicht von Forensic oder Medical-Thrillern. Das war zwar natürlich nicht völlig neu, man denke z.B. an Patricia Cornwell oder Michael Crinchton, doch zu Beginn des neuen Jahrtausends nahm dieses Subgenre immer mehr Fahrt auf. Auffällig ist, dass dabei sehr oft Frauen als Autorinnen eine Rolle spielten und auch Protoganistinnen in den Vordergrund stellten. Kathy Reichs startete ihre Reihe um die forensische Anthropologin Temperance Brennan einige Jahre früher. 2001 folgten dann mit großem Erfolg Karin Slaughter, die mit „Blindsighted“ (dt. „Belladonna“) ihre Serie um Dr. Sara Linton startete, und Tess Gerritsen (die freilich schon mit früheren Werken dieses Genre belebt hatte) mit ihrer Combo aus Polizistin Jane Rizzoli und Gerichtsmedizinerin Maura Isles („The Surgeon“, dt. „Die Chirurgin“).

Schon seit längerem einen Namen gemacht hatte sich ein Autor aus Boston, Massachusetts. Bereits 1990 verfasste Dennis Lehane seinen ersten Thriller, der 1994 dann auch endlich veröffentlicht wurde. „A Drink Before The War“ war der erste Band der Serie um die beiden Privatdetektive Patrick Kenzie und Angela Gennaro. Eine exzellente Serie, die bis heute nichts an Reiz verloren hat. Lehane stieg dann in die Bestsellerriege auf, als Präsident Clinton sich als Leser von „Prayers For Rain“, dem vierten Band der Reihe, outete. 2001 unterbrach Lehane die Reihe und legte erstmals einen Stand Alone vor.

Dennis Lehane | Mystic River – Spur der Wölfe

Namensgeber für den Roman „Mystic River“ des US-Amerikaners Dennis Lehane aus dem Jahr 2001 ist der Fluss Mystic River in Massachusetts in den USA. Er handelt von drei Jugendfreunden, deren Kindheit von einem Verbrechen überschattet wird. Während Jimmy Marcus, Dave Boyle und Sean Devine 1975 in East Buckingham, einem fiktiven rauen Arbeiterviertel in Boston auf der Straße spielen, locken zwei Männer, die sich als Ordnungshüter ausgeben, Dave in ihr Auto. Tagelang wird der 11-Jährige gefangen gehalten und missbraucht, bis er endlich seinen Peinigern entfliehen kann. Danach ist Dave wie gebrandmarkt und trägt für immer das Stigma des Opfers mit sich herum.

25 Jahre später haben alle drei Familien gegründet, treffen aber selten aufeinander. Jimmy, der ehemalige Kriminelle, führt nach dem Krebstod seiner ersten Frau einen Tante-Emma-Laden und wacht über das Privatleben seiner ältesten Tochter, der bildhübschen, lebenslustigen Katie. Sean ist Polizist geworden, lebt getrennt von seiner schwangeren Frau und versucht nach einer Suspendierung wieder im Morddezernat Fuß zu fassen. Dave, der nie über das Verbrechen in seiner Kindheit spricht, ist schwer gezeichnet, mit Jimmys Cousine verheiratet und hat einen Sohn.

Als eines Tages Katies Leiche in einem Park gefunden und Sean mit der Aufklärung des brutalen Mordes beauftragt wird, deuten einige Indizien auf Dave als Täter. Dieser war die Nacht davor blutüberströmt nach Hause gekommen und hatte seiner Frau eine unglaubwürdige Geschichte von einem Räuber erzählt, den er erschlagen hätte. Jimmy, der noch beste Kontakte zur kriminellen Unterwelt hat, schwört Rache und Sean versucht alles, Jimmy davon abzuhalten, das Gesetz in die eigene Hand zu nehmen.
„Mystic River“ ist kein Action-Thriller, sondern punktet mit exakten Milieuschilderungen und psychologisch äußerst nuancierten Charakterbeschreibungen der Menschen der Arbeiterklasse. Lehane schildert eindringlich die Welt zwischen den „Flats“ und dem „Point“, in der eine Straße die Grenze zwischen den Arbeitern und den besseren Leuten markiert und Herkunft eine große Rolle spielt. Der fesselnde Thriller rollt langsam an, um etwa ab der Hälfte so richtig Fahrt aufzunehmen und in einem spannenden Showdown zu enden. Durch den ganzen Roman zieht sich eine Trostlosigkeit, die das Sozialdrama zu einem extrem deprimierenden Roman macht.

Zwei Jahre später verfilmte Clint Eastwood den Roman unter dem Titel „Mystic River“, der mit 2 Oscars prämiert wurde.
Apropos Film, das Filmjahr 2001 wurde dominiert durch den Start zweier Filmreihen, die auch in den Folgejahren die Einspielergebnisse in die Höhe treiben werden. „Harry Potter und der Stein der Weisen“ und „Der Herr der Ringe – Die Gefährten“ zählen bis heute zu den hundert erfolgreichsten Filmen aller Zeiten. In Deutschland startete außerdem „Der Schuh des Manitu“ und nach diesen dreien kam 2001 lange nichts. Bei den Oscars 2001 gewann nur ein Genrefilm eine renommierte Kategorie, nämlich für die beste Regie Steven Soderberghs episodischer Drogenthriller „Traffic – Macht des Kartells“ aus dem letzten Jahr.

Ansonsten haben wir uns beim Recherchieren zu den Kriminalfilmen und Thrillern aus dem Jahr 2001 etwas schwer getan. Erwähnenswert ist sicherlich die Verfilmung von Jean-Christoph Grangés „Die purpurnen Flüsse“ von Mathieu Kassovitz mit Jean Reno und Vincent Cassel in den Hauptrollen. Der Film kam zwar 2000 in Frankreich heraus, aber erst 2001 in die deutschen Kinos. Bei den deutschen Filmen stehen zwei zum Thema Linksterrorismus heraus: Zum einen der Dokumentarfilm „Black Box BRD“, der die Biografien und Alfred Herrhausen und Wolfgang Grams nebeneinanderstellt und zum anderen „Die innere Sicherheit“ von Regisseur Christian Petzold (Erscheinungsjahr 2000, aber Kinostart erst 2001) über ein terroristisches Ehepaar, dessen Leben im Untergrund durch die Teenagertochter in Frage gestellt wird. Ein Thriller eher alter Schule ist hingegen Tony Scotts „Spy Game“.

Spy Game | Der finale Countdown

Im Jahr 2001 kam der spannende Agenten-Thriller „Spy Game“ vom britischen Regisseur Tony Scott in die Kinos. Robert Redford spielt den verdienten CIA-Agenten Nathan D. Muir am letzten Tag vor seinem Ruhestand. Während sein Büro bereits leer geräumt wird, erfährt der Altgediente, dass sein ehemaliger Schüler Tom Bishop bei einer Befreiungsaktion in China verhaftet wurde und binnen 24 Stunden hingerichtet werden soll. Um ein kurz vor dem Abschluss stehendes Handelsabkommen zwischen den USA und China nicht zu gefährden, entscheidet sich die Führung der CIA, nicht einzugreifen und Bishop zu opfern, zumal dieser eigenständig aus unbekannten Gründen handelte.

Der erfahrene Muir berichtet seinen Vorgesetzen in der CIA-Zentrale von seinem Verhältnis zu Bishop. Dadurch will der Spionage-Profi Zeit und Möglichkeit gewinnen, Bishop doch noch zu retten. In ausschweifenden Rückblenden wird geschildert, wie Muir den von Brad Pitt gespielten Hitzkopf, einen Scharfschützen der US-Marines in den 70ern im Vietnamkrieg rekrutierte und ihm im geteilten Berlin der 80er sowie im zerstörten Beirut in den 90ern alle Kniffe beibrachte.

Tony Scott, auch als König der Werbeästhetik bekannte jüngere Bruder von Ridley Scott entführt uns in die Welt der verdeckten Missionen, Verschwörungen und Intrigen, präsentiert sich hier aber ruhig, abgeklärt und besonnen. Die Inszenierung ist zurückhaltend, die wenige Action fällt verhalten aus, es geht um die Beziehung zwischen dem ausgefuchsten CIA-Pensionär, einem Veteran alter Schule und dem ungestümen, hochmoralischen Nachwuchs-Spion sowie um Verrat und Loyalität. Dabei werden die Zuschauer die ganze Zeit auf eine unpersönliche Distanz zum Schicksal der Figuren gehalten. Dafür bleiben die Charaktere einfach die ganze Zeit zu unnahbar und spröde. Gleichwohl nahm mich der charismatische Ausnahmeschauspieler Robert Redford vollständig für mich ein, wenn er souverän den mit allen Wassern gewaschenen Muir mimt, wie er taktierend die eigenen Leute überlistet und dabei für seine Zwecke instrumentalisiert. In einem fesselnden Katz- und Maus-Spiel bietet er all seine Raffinesse auf, um den jugendlichen Heißsporn vom Tode zu retten. Der zentrale Konflikt des Films ist der Widerstreit des angehenden Ruheständlers Muir mit dem eigenen System.

 

Mystic River | Das Original erschien im Februar 2001 bei William Morrow and Company
Das TB erschien am 29. Oktober 2014 bei Diogenes
ISBN 978-3-257-24300-0
624 Seiten | 14,00 Euro
Originaltitel: Mystic River | Übersetzung aus dem Englischen von Sky Nonhoff
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Spy Game | Kinostart (US) am 21. November 2001 (in Deutschland am 12. März 2002)
Die Blu-ray erschien am 07. Februar 2013
Laufzeit 2 Std. 5 Min. | FSK 12 | 10,79 €

Dirk Schmidt | Die Kurve

Dirk Schmidt | Die Kurve

„Carl, nennen Sie mich Carl. Carl aus Herne.“
„Aus was?“
„Herne. Vergessen Sie es wieder. Herne ist nämlich ein Ort zum Vergessen oder Nie-davon-gehört-Haben. In Herne will man nicht leben und nicht sterben. Zum da Rauskommen ist Herne allerdings so gut wie jeder andere Ort. Warum haben Sie mich angerufen?“ (Auszug S. 11).

In Herne hat allerdings damals alles angefangen. Im Jugend- und Freizeitzentrum „Die Kurve“ war Carl der Betreuer und hatte die wilde Mischung der Jugendlichen ganz gut in Griff. Seine Klientel war nicht einfach zu händeln, meist aus armem trostlosem Zuhause, Kleinkriminalität, Drogen, Gewalttätigkeit. Carl konnte gut mit den Jugendlichen, ein paar wuchsen ihm besonders ans Herz. Und dann stellte Carl fest, dass man mit ihnen ein Geschäft ganz anderer Art aufbauen konnte.

„Was ich anbiete? Alles. Alles, was Sie sich vorstellen können. […] Die meisten meiner Kunden bevorzugen allerdings Dienstleistungen, die sich ihren unmittelbaren Möglichkeiten entziehen. Zur Frage, ob sie mir vertrauen können, kann ich nur sagen, dass ich absolut und einhundertprozentig vertrauenswürdig bin.“ (Auszug S. 11-12).

Heute betreibt Carl ein exklusives, aber auch riskantes Unternehmen für kriminelle Dienstleistungen aller Art, auch tödlicher Art. Carl lebt inzwischen in Monaco (großartiger Running Gag, dass er mit beiläufigen Äußerungen seinen Aufenthaltsort verschleiern will, etwa: „Ich schnapp‘ mir das Boot und fahre rüber nach Acapulco, da ist heute Abend All-you-can-eat-Burrito-Buffet.“) und zieht die Fäden. Er erhält Anrufe, seine Nummer wird im Vertrauen weitergegeben. Dann setzt er seine Leute ein: Betty etwa, Ridley oder Schneider. Per Telefonat gibt er Anweisungen, will regelmäßig unterrichtet werden. Er hält ein strenges Regiment, alles, was man ihm sagt, kann auch gegen einen verwendet werden. Er kümmert sich aber auch um seine Leute, verlangt dafür aber absolute Loyalität. Seine Telefonate und Dialoge, die sich um geschäftliche Dinge, aber auch um das Seelenleben seiner Mitarbeiter drehen, gehören zu den Höhepunkten dieses Romans.

Die Aufträge, die Carls Crew bearbeiten muss, sind durchaus speziell. Ridley darf einen alten Mafiaboss aus Neapel und seine Tochter auf einer Tour durch Deutschland begleiten, bei der es offenbar um dessen Nachfolge geht. Betty hingegen soll den Tod einer jungen Amerikanerin aufklären, die sich aus der Enge ihrer kriminellen Familie in Detroit nach Berlin befreit hatte und dort nach einer Partynacht tot im Kanal aufgefunden wurde. Währenddessen gibt Schneider den Ausputzer im Hintergrund.

„Ich soll Ihnen Grüße bestellen. Von Mustapha.“ […]
„Ich kenn keinen Mustapha“, entgegnet der Dönerbudenbesitzer.
„Oh“, sagt Schneider. „Dann muss ich Sie wohl verwechselt haben. Das tut mir jetzt aber leid.“
„Was…?“
Schneider trifft ihn ziemlich genau in den Mund. Nicht ganz einfach bei den Lichtverhältnissen. (Auszug S.153)

Autor Dirk Schmidt ist als Drehbuchautor bekannt, insbesondere für den Radio Tatort um die „Task Force Hamm“. „Die Kurve“ ist sein erster Genreroman seit zehn Jahren. Für mich überzeugen vor allem die Attitüde, der Ton und die ungewöhnlichen Orte des Romans. Carl und sein Geschäft kommen hier ziemlich lässig rüber – vor allem die Dialoge habe ich gerne gelesen. Der Plot hingegen wurde hingegen für meinen Geschmack manchmal etwas zu sehr nebenbei behandelt, so richtig packend wurde es selten. Aber das war sicherlich auch so gewollt in diesem komplexen Roman, der insgesamt auf jeden Fall eine interessante und kluge Abwechslung im Genre bietet.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Die Kurve | Erschienen am 17.03.2025 im Suhrkamp Verlag
ISBN 987-3-518-47480-8
276 Seiten | 17,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Dolores Redondo | Wenn das Wasser steigt

Dolores Redondo | Wenn das Wasser steigt

Sie würde darauf eingehen, weil er ganz zauberhaft war, weil sie mit dem Bus gekommen war und weil alle einen Freund mit einem Auto haben wollen. Sie würde darauf eingehen, obwohl in den Zeitungen ständig von den vielen Frauen zu lesen war, die spurlos verschwanden, obwohl man ihnen mit Sicherheit tausendmal gesagt hatte, dass sie nicht zu Unbekannten ins Auto steigen sollte. (Auszug S. 15).

Der Serienmörder Bible John ist vielleicht der bekannteste Cold Case der schottischen Kriminalgeschichte. Von Februar 1968 bis Oktober 1969 erdrosselte der Täter drei junge Frauen, die er zuvor im Glasgower Tanzclub „Barrowland Ballroom“ kennengelernt hatte. Der Schwester eines Opfers, die ebenfalls im Tanzclub gewesen war und anschließend sogar noch mit ihm und ihrer Schwester ein Taxi teilte, hatte er sich als John vorgestellt und der Taxifahrer sagte aus, dass er sich im Gespräch mehrfach auf die Bibel bezogen habe. Somit wurde er als „Bible John“ bezeichnet. Zu ersten Mal in ihrer Geschichte veröffentlichte damals die schottische Polizei ein Fahndungsfoto. Doch obwohl es einige Zeugenschilderungen und das Phantombild gab, wurde trotz großer Anstrengungen und mehreren tausend Vernehmungen kein Täter ermittelt. Mehrfach wurde in den Jahrzehnten danach nochmal mit moderneren Methoden Anstrengungen unternommen, doch ohne Erfolg. Der Fall des Bible John hat mehrere Autoren zu einer fiktiven Auseinandersetzung inspiriert, etwa Ian Rankin in „Das Souvenir des Mörders“ oder zuletzt Liam McIlvanney in „Ein frommer Mörder“. Nun nimmt sich auch die spanische Autorin Dolores Redondo dieses ungeklärten Kriminalfalles an.

Im Glasgow des Jahres 1983 ist der Fall des Bible John natürlich immer noch präsent und der aufstrebende Inspector Noah Scott Sherrington versucht auf eigene Faust einige Verdächtige näher zu beleuchten. Noah ermittelt außerhalb der Dienstzeit und hört auchh nicht auf Warnungen seines Körpers. Er treibt sich in den Diskotheken rum und beschattet einige seltsame Gestalten. Unter anderem auch einen gewissen John Clyde, den er im Verdacht hat, auch mit weiteren Fällen verschwundener Frauen zu tun zu haben. Eines Abends kommt Noah das Auto von John Clyde zufällig mit hoher Geschwindigkeit an einem Bahnübergang entgegen. Instinktiv folgt Noah dem Wagen bis zum Haus des Verdächtigen an einem See. Im Kofferraum des Wagens findet er tatsächlich ein frische Frauenleiche. Als er im tosenden Gewitter den Verdächtigen festnehmen will, bricht Noah plötzlich zusammen. Er wacht im Krankenhaus wieder auf und erhält die Diagnose, dass er ein todkranker Mann ist, seine Form der Herzschwäche ist nicht wirklich heilbar, kann nur durch Medikamente etwas verzögert werden. Bible John ist allerdings über alle Berge.

Doch Noah will nicht aufgeben. Die Zeit, die ihm noch bleibt, will er nutzen, um Bible John aufzuspüren. Eine Spur führt ihn auf ein Schiff nach Bilbao, dass Bible John wohl zwei Wochen zuvor ebenfalls genutzt hat und sich möglicherweise die Identität des Reedereimitarbeiters John Murray verschafft hat. In Bilbao versucht John trotz seines schlechter werdenden Gesundheitszustands, diesen John Murray im Blick zu behalten. Ist er tatsächlich der Gesuchte? Noah will ganz sicher gehen und gerät doch immer mehr in Zweifel. Währenddessen verschwinden auch in Bilbao junge Frauen und tagelange Regenfälle sorgen für weiteres Unheil.

Das drückende Gefühl der verlorenen Zeit und die geistige Verwirrung sorgten dafür, dass die Theorien, die er mit so viel Mühe erarbeitet hatte, zerfielen wie Chimären. Irrwege, die dazu dienten, seinem Leben, das ihm zwischen den Fingern zerrann und von dem er nun wusste, dass es nutzlos war, einen Sinn zu geben. Vielleicht gab es keinen Mörder, vielleicht war Murray gar nicht Bible John, vielleicht war das alles das Hirngespinst eines todkranken, depressiven Mannes, der unter starken Medikamenten stand. (Auszug S. 358-359).

Ich hoffe, ich habe hier nicht schon zu viel verraten, aber vielleicht merkt man daran auch meine Begeisterung für diese äußerst spannenden und klug geplotteten Roman, in der die Autorin Dolores Redondo mehrere historische Ereignisse (die sich aber nicht immer genau so oder zeitgleich abgespielt haben) zu einem fulminanten historischen Thriller zusammengefügt hat. Mit einem allwissenden Erzähler werden mehrere Personen abwechselnd begleitet. Zudem wird auch mit regelmäßigen Zeitsprüngen ein Blick in Bible John Vergangenheit gegeben. Er wird nicht als gesichtsloser Serienmörder eingeführt, sondern erhält Raum und die Figur macht eine Entwicklung durch. Klarer Fokus liegt aber natürlich auf Noah Scott Sherrington, der als Ermittler ohne Privatleben eingeführt wird, was aber in Bilbao nicht so bleibt. Bei ihm sind es vor allem seine Ängste und Zweifel, was ihm noch vom Leben bleibt und was er damit noch Sinnvolles anstellen soll, die überzeugend herausgearbeitet werden.

Letztlich kommt auch der Schauplatz Bilbao immer mehr zur Geltung. Die stolze Stadt im Baskenland, die schwierige politische Lage Anfang der 1980er mit der ETA, die Stimmung und die Traditionen werden im Roman hervorragend eingefangen. Das Buch und auch die Jagd nach Bible John endet in einer schwarzen Stunde Bilbaos: Die große Überschwemmungskatastrophe vom 26. auf den 27. August 1983, als in der Region nach starkem Regenfall zahlreiche Flüsse über die Ufer traten und mehr als dreißig Menschen zu Tode kamen.

Autorin Dolores Redondo ist im Baskenland geboren und seit knapp 15 Jahren Schriftstellerin. Große Bekanntheit erlangte sie mit der äußerst erfolgreichen Baztan-Trilogie. Der Roman „Alles, was ich dir geben will“ erhielt 2016 mit dem Premio Planeta den derzeit wohl höchstdotierten Literaturpreis der Welt. Die Region des Baskenlands spielt in allen ihren Romanen eine besondere Rolle.

Final kann ich für „Wenn das Wasser steigt“ eine unbedingte Leseempfehlung aussprechen. Ein Katz-und Maus-Spiel, zwei sich gegenüberstehende Figuren, die tief bis ins Innerste ausgeleuchtet werden, geschichtlicher Background und ein eindringlich beschriebener Schauplatz Bilbao sorgen für gepflegte und spannende Unterhaltung auf sehr hohem Niveau.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Wenn das Wasser steigt | Erschienen am 12.03.2025 im btb Verlag
ISBN 987-3-442-77400-5
556 Seiten | 17,- €
Originaltitel: Esperando al diluvio | Übersetzung aus dem Spanischen von Anja Rüdiger
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Tom Hillenbrand | Thanatopia

Tom Hillenbrand | Thanatopia

Im Dezember 2095 taucht in der Donau eine weibliche Wasserleiche auf. Nichts Ungewöhnliches für den erfahrenen und mit seinen fast 75 Jahren dienstältesten Kommissar Wenzel Landauer von der Wiener Polizei. Doch in der Pathologie dann die Überraschung in Form einer zweiten Frauenleiche, die nicht nur identisch aussieht, sondern auch dieselbe DNA aufweist. Beide Tote waren sogenannte Quants, bei denen das organische Gehirn durch einen Computer ersetzt wurde. Dadurch ist es möglich, seinen Verstand in Gefäße hochzuladen und für einige Wochen ein anderes Leben zu führen. Doch Gefäße müssten eigentlich gekennzeichnet sein, was hier nicht der Fall ist.

Landauer kommt mit seiner Assistentin Tish Turquois einer Gruppe von Deathern auf die Spur, die sich illegal in Avatarkörper transferieren, um den Tod zu erforschen. Ich muss dabei immer an „Flatliners“ denken, den Film aus den 1990ern, in dem fünf befreundete Medizinstudenten herausfinden wollen, wie sich ein Hirntod anfühlt. Mit modernster Technik lassen sie sich in den klinischen Tod versetzen und nach einiger Zeit wieder zurückholen.

In einem weiteren Handlungsstrang versucht der internationale Ermittler Carpentras Skyes derweil, den wiederaufgetauchten Galahad Singh zu verhören, der als erster und einziger die sogenannte Knossos-Anomalie betreten hat. Und die indische Astrophysikerin Sahana Chandra Kapoor fliegt nach London, um an einem mysteriösen Kongress teilzunehmen. Anschließend wird sie in einen Autounfall mit einem sogenannten Crasher verwickelt.

Wie der Titel dieses Bandes schon verrät, liegt der Fokus auf den Thanatonauten. Diese erforschen illegal die Grenze zwischen Leben und Tod. Stasja Tschernow ist so eine Thanatonautin, die mehr über ein mögliches Leben nach dem Tod erfahren möchte. Dabei durchläuft sie immer wieder ein Procedere, um sich selbst zu töten. Für das Verfahren nutzt sie Klonkörper, aus denen sie ihr Bewusstsein anschließend immer wieder neu herunterlädt, um mögliche Erkenntnisse für weitere Trips zu gewinnen.

So oft schon war sie hier gewesen, an der Schwelle zwischen Leben und Tod, im Land der Kimmerer, in den Nebligen Gestaden. Was der seiner weltlichen Sinne beraubte, sterbende Verstand dort erblickte, war eine Halluzination, behaupteten einige. Andere verglichen es mit einem Traum. Beides waren metaphorische Krücken und keine besonders guten. (Auszug E-Book Pos. 1363 von 5495)

Das Worldbuilding wurde bereits in den vorherigen Bänden „Hologrammatica“ und „Qube“ vorgestellt und wird nicht weiter erläutert. Immer noch werden Landstriche mit Hologrammen verschönert, die Grenzen zwischen Leben und Tod verschwimmen, gesteuert durch KI-basierte Programme. Zugleich ist die Menschheit durch ein Virus um die Hälfte reduziert, der Klimawandel konnte nicht aufgehalten werden und der überlebende Rest ächzt unter Hitze und Dürren. Viele Zonen sind unbewohnbar geworden, da die Temperaturen regelmäßig über 50 Grad klettern. Die Klima-KI „Aether“ hat sich selbstständig gemacht und das hat wenige Jahre zuvor zum digitalen Zusammenbruch der Gesellschaft geführt.

Im Prolog erleben wir, wie der zwölfjährige Percival Singh (der Bruder von Galahad Singh, dem Protagonisten aus Band 1) mit seinem Vater eine kleine griechische Insel in der Nähe des Lichtdoms besucht. Geheimnisvoll geht es dort vor und Percy beobachtet seinen Vater und versteht nicht recht, was der dort treibt.

Sein Vater, das hat er inzwischen verstanden, unterhält sich per Holocall mit irgendjemand – auf Chittagonisch, auf einer einsamen Insel, nachdem er zuvor das Vaterunser gebetet hat. Und irgendwie geht es um Weihnachtsbäume. Selbst für Dad ist das arg verrückt. (Auszug E-Book Position 287 von 5495)

Der komplexe Thriller wird aus vier bzw. fünf verschiedenen Perspektiven erzählt, die sich zunächst kaum überschneiden. Das macht es für den Leser nicht leicht, im Lesefluss zu bleiben und die Lektüre gestaltet sich recht anspruchsvoll. Ohne die Kenntnisse der beiden vorherigen Bände würde ich es nicht empfehlen. Durch die vielen Sprünge und Personen erreichen die Figuren nicht genug Tiefe. Man wird in eine Szene hineingeschmissen und ist gleich wieder raus und fühlt sich als Leser außen vor.

Auf der Habenseite stehen ein vielversprechender Prolog, ein Wiedersehen mit Galahad Singh und das, was den Autor für mich auszeichnet. Die Fähigkeit, einen brillant konstruierten Science-Fiction-Thriller mit immensen Einfallsreichtum derart rasant zu erzählen und dann noch lässig und wie selbstverständlich die großen philosophischen Themen der Menschheit zu thematisieren. Und ich genieße immer wieder die filmreifen Action-Szenen und den trockenen Humor in den Dialogen.

Es tauchen viele Fragen auf, die Tom Hillenbrand allerdings unbeantwortet lässt. So bleibt es dem Leser überlassen, welcher Ethik er folgt. Und auch das Ende, in dem die verschiedenen Handlungsstränge miteinander verwoben werden und auf ein spannendes Finale zulaufen, bietet noch viel Potential für weitere Geschichten aus dem Hologrammatica-Kosmos.

 

Fotos und Rezension von Andy Ruhr.

Thanatopia | Erschienen am 13. März 2025 bei Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-00872-2
384 Seiten | 18.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezensionen zu Hillenbrands Romanen „Hologrammatica“ und „Qube

Johannes Groschupf | Skin City

Johannes Groschupf | Skin City

„Meine Frau hatte mal einen Bullterrier“, sagte Steinmeier. „Wenn der sich in etwas verbissen hatte, dann konnte er nicht mehr loslassen. Ums Verrecken nicht. Viertelstunde, halbe Stunde, ganz egal, der hat nicht losgelassen. Du konntest ihn mit einem Gartenschlauch abspritzen, das hat er überhaupt nicht gemerkt. Dabei war das eigentlich ein netter Hund.“
„Ich bin auch nett“, sagte Romina. „Echt total nett.“ (Auszug S.143)

Im heißen Sommer 2024 wird Berlin von einer Einbruchsserie heimgesucht. Die Täter gehen am hellichten Tag in verlassene Wohnungen und gehen äußerst professionell vor. Zum Teil des Ermittlungsteams gehört auch die Polizistin Romina Winter. Sie wird allerdings von einer persönlichen Sache abgelenkt: Ihre Schwester wird kurzzeitzig vermisst und wird dann zusammengeschlagen aufgefunden. Wer hat ihr das angetan?

Zur gleichen Zeit kommt Jacques Lippold aus dem Gefängnis frei. Er ist ein Finanzbetrüger, hat zwei Jahre gesessen. Nun versucht er wieder Fuß zu fassen. Bei einer Kunstauktion lernt er die Anwältin Beate kennen, durch die er in Kunstkreisen als Berater und Vermittler erneut betrügerische Deals einleitet. Doch er hat auch noch eine Rechnung aus dem Gefängnis offen, die er unbedingt begleichen will.

„Ich sag dir, was das heißen soll“, sagte Lippold. „Das soll heißen, dass ich mich mehr in Charlottenburg sehe als in Heerstraße-Nord. In Charlottenburg hast du Leute mit Geld. Das alte West-Berlin. Die haben im Grunde noch gar nicht mitgekriegt, dass die Mauer gefallen ist.“ (Auszug S.112)

Die Story wird durch drei Personen und Perspektiven vorgetragen. Da ist zum einen Koba, der georgische Einbrecher. Sehr versiert bringt er mit seiner Crew seinen Hintermännern viel Kohle ein. Doch eigentlich träumt er davon, nach Kanada auszuwandern und sein kriminelles Leben hinter sich zu lassen. Doch natürlich ist ein Ausstieg aus diesem organisierten Verbrechen alles andere als einfach. Als zweites Jacques Lippold, ein Betrüger in großem Stil. Kaum draußen aus dem Knast hat er schnell für sich das nächste lukrative Netzwerk ausgemacht und lässt seine Überredungskunst, seinen Charme und sein Improvisationstalent spielen. Doch in ihm schlummert noch eine andere Seite. Aufbrausend, gewalttätig. Im Gefängnis hat er mit seiner Patek Philippe einen auf dicke Hose gemacht – bis sie ihm geklaut wurde. Der Dieb ist vor Entdeckung entlassen worden, doch nun sinnt Lippold auf Rache. Zuletzt Romina, die bereits in den Vorgängerromanen vorkommt. Als Roma ist sie Mitglied eines großen Familienclans, der mit ihrer Berufswahl durchaus hadert, kam doch ihr Vater auch schon mit dem Gesetz in Konflikt. Sie ist eine äußerst engagierte Polizistin, doch neben der Einbruchsserie will sie vor allem erfahren, wer ihre Schwester überfallen hat und möglicherweise die Familie bedroht.

Autor Johannes Groschupf ist seit dem Beginn seiner Berlin-Thriller („Berlin Prepper“ erschien 2019) ein gefragter Mann im Genre und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. „Skin City“ ist nun der vierte Roman in dieser Reihung (eine Reihe ist es nicht), die vor allem die Milieus in Berlin in den Mittelpunkt der Betrachtungen rückt. Johannes Groschupf verarbeitet nach eigener Aussage eigene Begegnungen in der Stadt, ohne es zu sehr auf gesellschaftliche Relevanz anzulegen. Diesem Konzept bleibt er auch in „Skin City“ treu. Das ist wie schon in der Vorgängerromanen ganz ordentlich gemacht, vor allem die Dialoge, die sehr unterschiedlichen Schauplätze und der Blick auf Berlin sind wie immer gelungen. Dennoch konnte mich der Autor nicht ganz so begeistern wie etwa bei „Berlin Heat“ oder „Die Stunde der Hyänen“. „Skin City“ hat für mich nicht die Wucht der Vorgänger, bleibt zu gedämpft in Tempo und Relevanz, hätte noch tiefer gehen können. Vor allem das Ende, in dem der Autor die drei Hauptpersonen und die Handlungsstränge zusammenführt, kam mir zu abrupt vor und konnte mich nicht völlig überzeugen. Nichtsdestotrotz bleibt Johannes Groschupf ein relevanter Autor, um die Seele Berlins in einen Kriminalroman unterzubringen.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Skin City | Erschienen am 23.02.2025 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-47449-5
234 Seiten | 17,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezensionen zu „Berlin Heat“ und „Die Stunde der Hyänen“