Kategorie: Aktenzeichen

Michael Connelly | Late Show

Michael Connelly | Late Show

Das Adrenalin rauschte wie ein Zug durch ihre Adern. Für sie war Trent keineswegs mehr nur noch eine Person von Interesse. Inzwischen war sie fest davon überzeugt, dass er der Gesuchte war, und es gab nichts, was über eine solche plötzliche Einsicht ging. Etwas Größeres gab es für einen Detective nicht. Das hatte nichts mit Beweisen oder juristischen Verfahrensweisen oder einem hinreichenden Verdacht zu tun. Es war nichts Geringeres als die felsenfeste Überzeugung, dass man es einfach wusste, und es gab nichts in Ballards Leben, was es mit diesem Gefühl aufnehmen konnte. (S.127)

Detective Renée Ballard von der Nachtschicht des LAPD hat gerade mit ihrem Partner John Jenkins ihren Dienst begonnen und einen Einbruch mit Kreditkartenbetrug aufgenommen, als sie ins nahegelegene Hospital gerufen werden. Dort wurde eine junge Frau – eine Transgender-Prostituierte, wie sich bald herausstellt – halbtot geschlagen eingeliefert. Ballard bleibt aber nur kurze Zeit, da kommt das nächste Opfer in die Notaufnahme: In einem Club gab es einen Schusswechsel, vier Tote und eine junge Bedienung stirbt im Krankenhaus. Eine ereignisreiche Nachtschicht. Nach der Schicht haben Ballard und Jenkins eigentlich nicht mehr viel mit den Straftaten zu tun, die Ermittlungen übernehmen andere. Doch Ballards Ehrgeiz ist geweckt und sie beginnt außer Dienst auf eigene Faust zu ermitteln.

Im Falle der misshandelten Transgender-Frau bemerkt Ballard nämlich schnell, dass sie tagelang gefangen gehalten und gequält worden sein muss. Ballard vermutet einen Wiederholungstäter und hat ziemlich schnell eine Spur. Der andere Fall ist eigentlich tabu, wird er doch von Ballards Erzfeind Lieutenant Olivas geleitet. Vor einiger Zeit war Ballard in Olivas Team, als er sie sexuell belästigte. Sie zeigte ihn an, ihr damaliger Partner Ken Chastain hätte es bestätigen können. Doch er entschied sich für die Karriere, ihre Anzeige verpuffte und sie wurde zur Nachtschicht strafversetzt – in die „Late Show“ („Da stecken sie die Jerks hin, die Wichser.“ (S.47)). Ballard darf offiziell im Umfeld des ermordeten Opfers recherchieren, als sich ein interessanter Zeuge meldet, der Ballards Interesse am Fall noch verstärkt.

Sie sah Jenkins an. Bevor sie dazu kam, etwas zu sagen, tat er das.
„Nein.“
„Was, nein?“, fragte sie.
„Ich weiß, was du sagen willst. Du wirst sagen, du möchtest diesen behalten“. (S.20)

Renée Ballard ist die zentrale Figur des Romans, aus ihrer Perspektive wird der Geschichte erzählt. Ballard ist eine Frau in den Dreißigern, geboren in Hawaii, irgendwann nach dem traumatischen Tod des Vaters beim Surfen (sie hat es vom Strand aus erlebt) und des fortschreitenden Desinteresses ihrer Mutter ihrer Großmutter nach L.A. gefolgt. Ballard ist eine gute, sehr engagierte Polizistin. Ihre Karrierechancen hat sie allerdings verspielt, nachdem ihre Dienstbeschwerde wegen sexueller Nötigung nicht zu ihren Gunsten entschieden wurde. Was ihr vor allem noch sehr nachhängt, ist der Verrat ihres damaligen Partners. Sie hat sich mit ihrem Leben in der Nachtschicht einigermaßen abgefunden, was ihr jedoch sehr fehlt, sind die Ermittlungsarbeiten bis hin zur Aufklärung eines Falles, da ihr diese Fälle nach der Schicht üblicherweise abgenommen werden. Daher versucht sie hier und da, doch noch bei ein paar Fällen dranzubleiben, sehr zum Verdruss ihres neuen Partners Jenkins, der eher Dienst nach Vorschrift schiebt. Ballard hat zwar durchaus noch ein paar Freunde im Polizeiapparat, ist aber schon ein wenig isoliert. Ballards Leben kreist insgesamt um ihre Arbeit. Privat bleibt sie auch eher allein, führt eher lose Beziehungen. Sie hat zwar ein Zimmer im Haus ihrer Großmutter, aber zwischen den Nachtschichten holt sie morgens ihren Hund vom Hundesitter, fährt zum Strand, geht Stand-Up-Paddeln und schläft anschließend einige Stunden in einem Zelt am Strand, um sich dann wieder auf die nächste Schicht vorzubereiten. Insgesamt ist Ballard eine sehr überzeugende Hauptfigur, gewissenhaft, moralisch, engagiert, aber auch manchmal rau, ein wenig unnahbar und streitbar.

Michael Connelly ist sicherlich ein großer Name im Krimigenre und bedarf keiner großen Vorstellung. Insbesondere mit seiner seit 1992 bestehenden Reihe um den Ermittler „Harry“ Bosch feierte der US-Amerikaner große Erfolge, die sich durch die von ihm mitproduzierte Amazon-Serie „Bosch“ noch verstärkten. „Late Show“ ist der erste Roman mit der neuen Ermittlerin Renée Ballard. Zwei weitere Bücher mit ihr und Bosch zusammen hat Connelly bereits veröffentlicht. „Late Show“ ist ein klassischer Polizeikrimi mit Hauptaugenmerk auf den Ermittlungen und den Vorgängen im Polizeiapparat.

Angesichts der Prominenz des Autors ist es verwunderlich, dass dies mein erster Roman von Michael Connelly war, den ich gelesen habe. Allerdings auch sicherlich nicht mein letzter. Man merkt die Souveränität des Autors im raffinierten Plot, der sich um mehrere Fälle kreist und diese dann auch gekonnt verbindet, aber auch in der Figurenauswahl, den Dialogen und nicht zuletzt in der Themenauswahl, die von den Tücken der Polizeiarbeit, Korruption, mediale Deutungshoheit bis hin zu Sexismus (#metoo-Debatte) reicht. Die Sprache ist hart, manchmal zynisch, eben das, was man von einer Geschichte aus dem LAPD erwarten kann. Connelly weiß zudem, die richtigen Spannungsmomente zu setzen, aber dennoch die realistische Darstellung beizubehalten. Alles in allem ein wirklich guter Kriminalroman.

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Late Show | Erschienen am 25.03.2020 im Kampa Verlag
ISBN 978-3-311-12503-7
432 Seiten | 19,90 €
Bibliographische Angaben

Manfred Reuter | Die Toten von Norderney Bd. 4

Manfred Reuter | Die Toten von Norderney Bd. 4

„Das Kameradisplay begann vor seinen Augen zu verschwimmen, wurde schließlich schwarz, und der salzig-brackige Geruch des Wattenmeeres drang ebenfalls nicht mehr zu ihm vor. Dann gaben die Beine nach, und Janko sackte in sich zusammen. Seine rechte Hand schlug gegen den Schiffsrumpf, sein Kopf klatschte in den Sand, unmittelbar neben der skelettierten Hand, von der man meinen konnte, sie wollte nach ihm greifen.“ (Auszug Seite 11)

Beim Schiffswrack an der Ostspitze von Norderney wird ein Skelett gefunden. Schnell stellt sich heraus, dass es von einer jungen Frau stammt, die seit zwölf Jahren als vermisst gilt. Kommissar Gent Visser nimmt sich dem Fall an und versucht den Fall von damals nun endlich zu lösen. Dabei gerät er selbst in Gefahr und kann weitere Tote nicht verhindern.

Fall vier für Visser

Die Toten von Norderney von Manfred Reuter ist der vierte Fall für Oberkommissar Gent Visser auf der ostfriesischen Insel Norderney. Er bekommt, wie auch in den vorherigen Fällen, Unterstützung von Kommissar Carlo Faust aus der Polizeiinspektion Aurich. Die beiden verbindet mittlerweile eine Art Freundschaft. In der Geschichte dominiert die Ermittlung im aktuellen Fall. Es werden die üblichen Befragungen, Recherchen und Überlegungen geschildert, die ich mir in einem Kriminalroman wünsche. Nur am Rande finden auch private Szenen einen Platz, beispielsweise, dass Visser mit seiner Frau über die bevorstehende Silberhochzeit spricht.

Eher seichter Spannungsbogen

Spannung ist meiner Meinung nach vorhanden, aber insgesamt nicht wahnsinnig mitreißend. Ich wollte schon wissen, wer der Täter ist, konnte das Buch zwischenzeitlich aber auch gut zur Seite legen. Zusätzlich zur eigentlichen Ermittlung werden einige Ausschnitte des Täters geschildert, die klar machen, dass es sich um einen Psychopathen handeln muss und kleine Hinweise für den Leser geben, aber trotzdem nicht zu viel verraten. Bis ziemlich zum Schluss tappen die Polizisten im Hinblick auf den Täter im Dunkeln und es war auch für mich als Leser in keinster Weise vorhersehbar, was mir gefällt.

Klimawandel überall

Der Schreibstil des Autors liest sich für mich flüssig. Gut finde ich, dass er immer wieder auch etwas Humor einfließen lässt, ohne dass es lächerlich wird. Die Schauplätze werden außerdem sehr detailliert beschrieben und ich konnte insgesamt einen guten Eindruck der Insel mitnehmen. Der Autor nimmt zudem Bezug auf das aktuelle Klima, also dass die Unwetter und Stürme an der Küste immer verheerender werden; zudem widmet er das Buch der internationalen Jugendbewegung für den Klimaschutz „Fridays for Future“.

Etwas unsympathische Protagonisten

Mit beiden Protagonisten werde ich allerdings nicht so wirklich warm. Gent Visser mit seinen eins zweiundneunzig, fast fünfzig Jahren, Stiernacken und Brille, der schon recht oft aufbrausend ist und Carlo Faust, zehn Jahre jünger, mit lässiger Jacke, Sonnenbrille und geschwollener Brust, wenn Frauen in der Nähe sind. So wie sie beschrieben werden und sich verhalten sind sie einfach nicht der Typ Polizist, den ich gerne lese, aber das ist ja Geschmackssache.

Fazit: Klassischer Kriminalroman mit einer Prise Humor, toller Kulisse, aber für mich persönlich nicht so überzeugenden Protagonisten.

 

Rezension und Foto von Andrea Köster.

Die Toten von Norderney | Erschienen am 12. März 2020 im Emons Verlag
ISBN 978-3-74080-812-8
240 Seiten | 12.- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Sara Paretsky | Altlasten (Band 18)

Sara Paretsky | Altlasten (Band 18)

Obwohl klar war, dass keine der beiden sich mein Honorar leisten konnte, hörte ich mich sagen, ich würde morgen im Studio anrufen und ein paar Fragen stellen.
Bernie sprang auf und fiel mir um den Hals. „Vic, ich wusste, du sagst ja! Ich wusste, wir können auf dich zählen.“
Ich dachte an Sam Spade, wie er zu Brigid O’Shaughnessy sagt, er werde sich für sie nicht zum Hanswurst machen. Warum war ich nicht so hart wie Sam? (Auszug Seiten 15-16)

Privatdetektivin V.I. „Vic“ Warshawski wird von der Studentin Bernadette und ihrer Freundin Angela auf den Fall des verschwundenen Regisseurs und Fitnesstrainers August Veridan aufmerksam gemacht. In das Fitnessstudio, in dem er arbeitete, wurde eingebrochen und da er nicht auffindbar ist, ist er automatisch Hauptverdächtiger der Polizei. Bernadette und Angela vermuten eine vorschnelle Vorverurteilung des afroamerikanischen August. Vic beginnt widerwillig die Ermittlungen, findet auch Augusts Wohnung eingebrochen vor. Sie findet heraus, dass August Kontakt zur älteren schwarzen Schauspielerin Emerald Ferring hatte und diese ihn überredet hat, ihn auf den Spuren in ihre Vergangenheit nach Kansas zu begleiten. Vic reist ihnen hinterher und merkt schnell, dass hier einiges mehr dahintersteckt als nur ein paar Einbrüche.

Warshawskis Spur führt sie über einen Armee-Stützpunkt bis nach Lawrence, Kansas. Dort ist Emerald Ferring aufgewachsen, dorthin ist sie 1983 zurückgekehrt, als es Proteste gegen die Raketensilos mit den atomar bestückten Interkontinentalraketen gab. Das Protestcamp wurde damals unter merkwürdigen Umständen aufgelöst und es gab auch einen Unglücksfall mit einer toten Aktivistin. Vic gerät in eine komplexe Mischung aus Kleinstadtdramen, alten Geheimnissen, militärischer Forschung an biologischen Kampfstoffen und Wiederbewaffnungs-Beschwörern. Sie sticht in ein Wespennest und mischt einen Klüngel auf, der unter allen Umständen alles unter der Decke halten will. Und immer noch fehlt jede Spur von August Veridan und Emerald Ferring. Auf der Suche nach den beiden findet Warshawski auf der Farm einer früheren Freundin von Ferring die erste Tote.

„Wissen Sie was, Warshawski, Lieutenant Lowdham war neugierig genug auf Ihre wahre Mission, dass er ein paar Leute in Chicago angerufen hat, um sich nach Ihnen zu erkundigen.“ […]
„Die übereinstimmende Auskunft ist offenbar, Sie sind ehrlich, Sie erzählen Ergebnisse, Sie sind waghalsig. Und Sie sind eine Heimsuchung.“ (Seite 296)

Eine treffende Beschreibung der Protagonistin und Ich-Erzählerin Victoria Iphegenia Warschawski, die mit Altlasten („Fallout“ im Original) ihren 18. Serienauftritt hat. Weitere Bände sind im Original bereits erschienen und weitere aus der Vergangenheit harren noch der deutschen Übersetzung. Allerdings scheint Autorin Sara Paretsky nun beim Argument Verlag ihre passende deutsche Verlagsheimat gefunden zu haben. 1982 erschien mit „Schadensersatz“ („Indemnity Only“) der erste Roman der Serie um die Privatdetektivin aus Chicago. V.I. oder für Freunde „Vic“ ist taff und hartgesotten, steht ihren männlichen Kollegen in Sachen Cleverness in nichts nach. Sie ist aber kein Abklatsch männlicher Hardboiled Detectives, denn sie ist eher lebensbejahend und moralisch als zynisch und umgibt sich mit einigen engen Freunden, die ihr bei Gelegenheit auch unter die Arme helfen. Die „Windy City“ Chicago ist dabei ihre natürliche Umgebung. Hier ist sie aufgewachsen, hier kennt sie jede Ecke, hier kann ihr niemand etwas vormachen. Doch ausgerechnet in diesem Band muss Vic ihre Komfortzone verlassen und allein (nur mit Begleiterin Hundedame Peppy) nach Kansas, in die Weite des Mittleren Westens und in ungewohnter Umgebung ihren Fall lösen. Wie die Autorin im Nachwort erklärt, ist dies eine Reise zu ihren Wurzeln, denn Sara Paretsky ist in Lawrence, Kansas, aufgewachsen und ihr Vater war Zellbiologe an der University of Kansas.

Man schläft nie gut im Gefängnis, egal, wie schick die Unterbringung ist, aber ich war erschöpft bis auf die Knochen. Ich war es müde, den traurigen Schutt von anderer Leute Leben wegzuräumen, müde, mich mit Regierungsbeamten zu streiten, müde, darüber nachzusinnen, warum anständige Gesetzeshüter, wie Sheriff Gisborne seinem Leumund nach einer war, plötzlich anfingen, sich als Einpeitscher für die Army oder mächtige Konzerne herzugeben. Geld war von Hand zu Hand gegangen oder Drohungen von Ohr zu Ohr – es war immer dieselbe Geschichte, und ich war es so müde, sie zu deuten. Kein Wunder, dass Jake genug von mir hatte. Ich hatte selbst genug von mir. (Seite 309)

Altlasten ist einerseits eine im besten Sinne altmodische „Private Eye Novel“ mit einer verbissenen Privatdetektivin, die zäh ihre Spuren verfolgt und alte Geheimnisse hervorholt, andererseits aber durchzogen von zeitlosen und wieder modernen Themen wie Feminismus, Rassismus, Gentechnik, Aufrüstung. Die komplexe Geschichte ist zwar teilweise etwas ausschweifend, aber dennoch leichtgängig erzählt und wirkt wie eine Mischung aus einer guten alten Lew-Archer-Familiengeheimis-Story und einem Jack-Reacher-Plot im Kampf gegen den militärisch-industriellen Komplex. Überzeugend wie die Autorin diese verschiedenen Stränge zu einer gelungenen Gesamtgeschichte mit vielschichtigen Figuren und einer umwerfenden, moralischen Hauptfigur zusammenführt. 38 Jahre nach Beginn der Serie ist V.I. Warshawski immer noch relevant und auf der Höhe der Zeit.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Altlasten, erschienen am 6. April 2020 bei Ariadne im Argument Verlag
ISBN 978-3-86754-244-9
544 Seiten | 24.- Euro
Originaltitel: Fallout
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Simon Beckett | Die ewigen Toten Bd. 6

Simon Beckett | Die ewigen Toten Bd. 6

Die Fledermaus war sofort wieder verschwunden, doch sie hatte den Rechtsmediziner so erschreckt, dass er nach hinten stolperte und mit den Armen ruderte, als sein Fuß von den Trittplatten abrutschte… Whelan schaffte es, Conrads Handgelenk zu packen, und eine Sekunde lang glaubte ich, er hätte ihn. Dann gab, begleitet von einem lauten Krachen von Holz und Gips, ein Stück des Bodens nach, und Conrad verschwand.( Auszug Seite 36)

Es ist ein wirklich schauriger Ort, den Simon Beckett sich als Setting für seinen sechsten Band ausgesucht hat. Das alte, schon seit Jahren leerstehende stillgelegte Krankenhaus in einem heruntergekommenen Viertel im Norden Londons beherbergt mittlerweile nur noch Fledermäuse und manchmal Obdachlose oder Junkies. Gegen die Proteste von Tierschützern soll das verfallene St. Jude demnächst abgerissen werden, aber bevor die Abbrucharbeiten tatsächlich beginnen, wird eine Leiche auf dem Dachboden gefunden. Die Tote ist in Plastikfolie eingewickelt und aufgrund des vorherrschenden trockenen Klimas ist der Körper zu großen Teilen mumifiziert.

Auftritt David Hunter

Der forensische Anthropologe David Hunter wird als Sachverständiger hinzugezogen. Er entdeckt sofort, dass die Tote schwanger war. Die Bergung in dem baufälligen Gebäude gestaltet sich schwierig. Und so passiert es, dass der Rechtsmediziner Dr. Conrad bei der Begutachtung der Leiche durch die Decke in einen anderen Raum stürzt. Bei der Rettung des Kollegen treten große Probleme auf, denn dieser Raum ist nicht nur auf keiner Karte eingezeichnet, sondern verfügt auch über keine Fenster, Türen oder irgendeinen Durchgang. Als es der Rettungsmannschaft endlich gelingt, in die komplett zugemauerte Kammer einzudringen, treffen sie auf einen weiteren grausigen Fund. Eine männliche sowie eine weibliche Leiche liegen komplett bekleidet und gefesselt in den Krankenhausbetten und zeigen deutliche Anzeichen von Folterungen.

Ein Lost Place

Der Autor zieht alle Register um die unheimliche, bedrückende Atmosphäre des Lost Place darzustellen. Wir begleiten den Ich-Erzähler David Hunter durch die dunklen, schmutzigen, teilweise noch nicht leergeräumten Gänge in dem baufälligen Kasten bis zum Dachboden, in dem sich die Hitze wie in einer Sauna staut. Durch die düsteren, detailreichen Beschreibungen des Labyrinths entstehen beim Leser Bilder im Kopf und man riecht förmlich den feuchten Dreck und Staub, spürt die Spinnweben und man kann die grauenvollen Ereignisse der Vergangenheit fast spüren.

Mit Hilfe eines Leichenspürhundes wird das alte Hospital nach weiteren Opfern durchsucht. Das zieht sich über viele Seiten und generiert eine morbide Spannung. Hinter jeder Ecke könnten weitere Tote oder andere schreckliche Überraschungen lauern. Während sich die Medien auf den Fall stürzen, beginnt Dr. Hunter mit seiner akribischen Arbeit, die daraus besteht, dass er Schicht für Schicht die Geheimnisse der Leichen freilegt und aus den Knochen die Todesart und den Todeszeitpunkt herauslesen kann. Typisch für Simon Beckett werden die Untersuchungen der sterblichen Überreste detailliert beschrieben und dadurch schleppt sich der Plot im bedächtigen Erzähltempo mit wenigen Actionszenen voran. Das mag für den ein oder anderen eklig sein oder auch ermüdend. Man kennt es bereits aus den vorherigen Bänden und man muss es mögen. Jedenfalls wird hier der Thriller gehörig ausgebremst.

Der Gutmensch

Sehr viel Raum wird auch wieder David Hunter und seinen Befindlichkeiten gewidmet. Ein privates Forensik-Team wird ihm vor die Nase gesetzt und er muss sich mit einem jungen, sehr selbstbewussten Kollegen rumschlagen. Daniel Mears ist auch kein stinknormaler forensischer Anthropologe, sondern bezeichnet sich als forensischer Taphonom und was ihm an Erfahrung fehlt, macht er durch Arroganz wieder wett. Hunter hat endlich in Rachel eine neue Lebensgefährtin gefunden, die aber beruflich unterwegs ist und alleine leidet er immer wieder unter Panikanfällen und Albträumen, aufgrund eines Attentats auf ihn in einem früheren Band. Ich meine mich zu erinnern, dass das im zweiten Band Kalte Asche passierte und ich finde dieser Erzählfaden wird schon zu lange gesponnen.

Etwas anstrengend fand ich die Bemühungen des gutherzigen David um eine ältere Dame, die in einem Waldgebiet in der Nähe des Krankenhauses umherirrt. Die total verbitterte Lola Lennox, die mit der Pflege ihres schwerkranken, bettlägerigen Sohnes überfordert scheint, lehnt seine Hilfe aber ab und hier fand ich Davids Verhalten fast übergriffig. Natürlich begibt er sich durch seine Alleingänge auch wieder in Gefahr und muss zum Schluss noch einiges einstecken. Diese Szenen waren für mich am Rande des Erträglichen und ich wünschte, der Autor hätte endlich mal Mitleid mit seinem Protagonisten.

Ich habe diesen Mainstream-Thriller gerne gelesen, denn Simon Beckett erfindet hier nicht das Rad neu, aber er versteht sein Handwerk und führt routiniert durch die Story. Bis zum Ende gibt es noch einige Twists, die ich zwar nicht besonders glaubwürdig fand, die mich aber doch sehr überrascht und unterhalten haben.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Die ewigen Toten | Erschienen am 12. Februar 2019 bei Wunderlich im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-8052-5002-3
480 Seiten | 22.95 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Auch bei uns: Rezensionen zu den Simon Beckett-Titeln Der HofVoyeur und Totenfang.

R. P. Hahn | Der Korndämon

R. P. Hahn | Der Korndämon

Annika fuhr fort: „Also der Korndämon wartet im Feld auf Eltern mit kleinen Kindern. Und wenn die Eltern ihr Kind aus den Augen lassen, und sei es nur für einen winzigen Moment, zieht der Dämon es ins Feld. Und dann sieht man es nie wieder.“ (Auszug Seite 105)

Der Alkoholiker Richard Dreifürst sieht beim Überqueren einer Straße in Garz auf Rügen ein Auto, in dem ein Junge sitzt, dem Todesangst ins Gesicht geschrieben ist. Mit dieser Entdeckung geht Richard sofort zur Polizei, doch die Beamten glauben ihm nicht, da er in der Vergangenheit schon des Öfteren wegen Trunkenheit aufgegriffen wurde und nun vermuten sie, dass es sich bei dem Jungen auch nur um eine Wahnvorstellung im Suff handelt. Richard lässt sich davon aber nicht abbringen und versucht das Kind auf eigene Faust zu retten.

Keine Ermittlung von Polizisten

Der Korndämon von R. P. Hahn hat mich angesprochen, weil er auf der Ostseeinsel Rügen spielt. Interessant fand ich auch, dass es eben kein klassischer Kriminalroman ist, bei dem es um die Ermittlungen der Polizei geht, sondern dass sich eine Privatperson auf die Suche macht. Nach den ersten siebzig Seiten habe ich dann gedacht, wie der Autor mit dieser Geschichte über dreihundert Seiten füllen möchte, denn eigentlich ist schon fast alles erzählt. Ich habe aber weitergelesen, denn oft wurde ich schon nach solchen Gedanken überrascht. Diese Überraschung blieb hier allerdings aus.

Das Leben eines Alkoholikers

Im Grunde empfand ich das Buch weniger als einen Krimi, sondern eher als „Aus dem Leben eines Alkoholikers“. Natürlich geht es Richard in erster Linie um die Suche nach dem Jungen, aber immer wieder kommt ihm seine Sucht in die Quere und somit ist sein Tun schon von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Am Anfang fand ich es noch ganz interessant, aus dem Leben eines Alkoholikers zu lesen, aber spätestens nach der Hälfte fand ich es nur noch anstrengend. Richards persönliche Ermittlung wird zu einer Besessenheit und der Alkoholismus artet komplett aus. Keiner glaubt ihm so recht, Hilfe bekommt er trotzdem zeitweise.

Bis zum bitteren Ende

Das Mantra des Protagonisten „Und wenn ich Recht habe?“ treibt ihn trotz aller Widerstände weiter und auch obwohl der Spannungsbogen für mich auf der Strecke geblieben ist, wollte ich wissen, wie es ausgeht und ob er wirklich Recht hatte. So habe ich tapfer weitergelesen. Im Grunde kann man das Ende aber bereits erahnen, sonst hätte die Geschichte wirklich nach siebzig Seiten zu Ende sein können. Auf den letzten Seiten kommt dann doch noch etwas Spannung auf, also hat sich das Durchhalten gelohnt.

Fazit: Die Geschichte eines besessenen Alkoholikers, die am Schluss doch noch punkten kann.

R. P.Hahn stammt aus Niedersachsen und lebt heute mit seiner Familie in Fulda. Seine ersten Autorenarbeiten waren für das Fernsehen, wo er für Krimireihen wie „Tatort“, „Der Fuchs“ oder „Hubert und Staller“ zahlreiche Drehbücher schrieb. Auch der Pro Sieben-Thriller „Götterdämmerung“ stammt aus seiner Feder. Für sein Skript „Das letzte Streichholz“ bekam er 2007 den hessischen Drehbuchpreis.  Inzwischen hat R. P.Hahn sich vom Filmgeschäft weitestgehend zurückgezogen. Sein Schwerpunkt liegt heute auf dem Recherchieren und Schreiben von Romanen.

 

Rezension und Foto von Andrea Köster.

Der Korndämon | Erschienen am 2. März 2020 bei Piper
ISBN 978-3-492-50329-2
328 Seiten | 14.- Euro
Bibliographische Angaben und Leseprobe