Kategorie: Aktenzeichen

Ross Thomas | Fette Ernte

Ross Thomas | Fette Ernte

Seit nunmehr 15 Jahren bemüht sich der Alexander Verlag aus Berlin um eine Reputation eines Autors, der international als einer der wichtigsten Autoren des Politthrillers gilt. Ross Thomas war vor seiner Karriere als Schriftsteller, die er Mitte der 1960er im Alter von 40 Jahren begann, als Journalist, Gewerkschaftssprecher, PR- und Wahlkampfberater tätig. Ein reicher Fundus an Erfahrungen, die er in 25 Romane umsetzte. Zweimal gewann er den Edgar Award, gar viermal den Deutschen Krimipreis. 1995 verstarb Ross Thomas. Seine Leser im deutschsprachigen Raum musste allerdings leider zumeist mit mehr oder weniger stark gekürzten Übersetzungen vorlieb nehmen. Seit 2007 erscheint allerdings nun sein gesamtes Werk auf Deutsch vollständig nach und nach in überarbeiteten oder neuübersetzten Fassungen.

Der vorliegenden Stand-Alone „Fette Ernte“ beginnt mit dem 93 Jahre alten, aber noch recht rüstigen ehemaligen Politikberater William „Crawdad“ Gilmore. Gilmore ist mit allen Wassern gewaschen, hat so manche Schweinerei mitgemacht oder wurde als Mitwisser über Konspirationen zum Schweigen verdonnert. Auf der Toilette des Cosmos Club wurde er aber nun unfreiwillig zum Mithörer einer Verschwörung, über die er nicht zu Schweigen braucht. Er will die Sache seinem Anwalt Ancel Easter erzählen und bittet, ihn morgens abholen zu lassen. Dummerweise wird Gilmore im Morgengrauen vor seiner Haustür von zwei Räubern erschossen. Gibt es solche dummen Zufälle? Ancel Easter weiß keinerlei Details, aber die Tatsache, dass Gilmore ihm ein Geheimnis anvertrauen wollte, lässt ihm keine Ruhe. Er beauftragt Jake Pope, privater Ermittler mit millionenschwerem Erbe, sich die Sache mal näher anzusehen. Die einzige Spur führt zu einem Datum: Der 11.Juli. Aber am 11.Juli passiert nichts Wichtiges in Washington. „Highlight“ des Tages ist die jährliche Prognose der Weizenernte durch das Landwirtschaftsministerium. Haha, von wegen Highlight. Hmm, Moment – könnte das vielleicht doch das Ziel der Verschwörung sein?

Er wußte, daß man in dieser Stadt ganz früh am Morgen mit dem Konspirieren begann, damit man es zum Mittagessen erledigt hatte. Man konspirierte, um sich persönlich zu bereichern, um gesetzliche Vorteile zu erlangen, nationale oder internationale Macht und manchmal nur zum Spaß. (Auszug S.8)

Diese desillusionierte Sicht auf den poltischen Betrieb Washingtons ist ein typisches Merkmal der Werke von Ross Thomas. Er beschreibt das Spiel der Macht fast lakonisch, gönnt sich aber dennoch die eine oder andere Spitze. Etwa bei der Beerdigung von Crawdad Gilmore, als er den Besuch des Präsidenten, „kein übermäßig intelligenter Mann“, als plumpe politische Geste entlarvt und der Präsident eine erschreckend belanglose Konversation mit dem „klügsten Mann Washingtons“, Ancel Easter, führt. Thomas stellt heraus, dass sich im „Dschungel Washingtons“ allerhand Personen tummeln, die einen ausgeprägten Willen besitzen, die eigene Macht und das eigene Konto zu vergrößern. Die Verbindungen zum organisierten Verbrechen sind nicht weit, oft nur einen Strohmann entfernt.

In diesem Roman ist tatsächlich die Verkündung der Ernteschätzungen der Fokus der kriminelle Energie. Etwas unbemerkt von sonstigen Börsengeschäfte lässt sich am Rohstoffmarkt tatsächlich im großen Stil spekulieren. Mit Warentermingeschäften lassen sich mit dem richtigen Hintergrundwissen und etwas illegalen Insidertricks enorme Gewinne machen (Ganz aktuell ist der Weizenmarkt aufgrund des Krieges in der Ukraine auch ein Tummelplatz für Spekulanten). Und für diese geht man auch gerne über ein paar Leichen.

Was diese Ausgabe insbesondere spannend macht, ist die Geschichte der deutschen Übersetzung, die im Nachwort des Neuübersetzers Jochen Stremmel erläutert wird. Ross Thomas wurde in den 1970ern bei Ullmann in der „gelben Reihe“ verlegt. Die Vorgabe des Verlags damals: Kein Krimi durfte länger als acht Druckbögen (8×16=128 Seiten) sein. Um diese Vorgaben einzuhalten, wurden Originalausgaben teilweise radikal gekürzt. Mit einigen Beispielen beschreibt Stremmel die Auswirkungen auf den vorliegenden Roman, der an zahlreichen Stellen arg beschnitten und damit ein großes Stück Atmosphäre geraubt wurde. Immerhin bedauert Stremmel die damalige Übersetzerin Ute Tanner, die eine wahrlich undankbare Aufgabe hatte.

Durch die Neuübersetzung wird auch nochmal deutlich, wie präzise Ross Thomas auch die Szenerie und die Hintergründe beschreibt. Für die Figurenbeschreibungen nimmt er sich ausgiebig Zeit. Die Dialoge sind zudem herausstechend. Für mich war der Plot diesmal nicht ganz so herausragend, dennoch ist das Jammern auf hohem Niveau. „Fette Ernte“ ist zwar inzwischen fast ein halbes Jahrhundert alt, doch die Mechanismen sind doch immer dieselben. Sehr akribisch analysiert Thomas das Machtgeflecht und die schmutzigen Geschäfte im Politbetrieb. Und man spürt als Leser, dass sich hier niemand etwas aus den Fingern saugt, sondern aus dem Nähkästchen plaudert. Das Ganze ziemlich trocken, aber mit einem Schuss Verachtung serviert. Ein Klassiker, der immer eine Lektüre wert ist.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Fette Ernte | Erstmals erschienen 1975
Die vollständige deutsche Ausgabe erschien am 12.08.2014 im Alexander Verlag Berlin
ISBN 978-3-89581-317-7
384 Seiten | 12,- €
Original: The Money Harvest (Übersetzung aus dem Englischen von Jochen Stremmel)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension von Ross Thomas‘ „Porkchoppers“

Joe R. Lansdale | Ein feiner dunkler Riss

Joe R. Lansdale | Ein feiner dunkler Riss

In mir wuchs die Befürchtung, dass es – was auch immer es war – mich packen und mit sich ziehen würde, auf die andere Seite dieses feinen, dunklen Risses: der Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten. (Auszug Seite 94)

In einem heißen texanischen Sommer im Jahr 1958 begegnen wir unserem Protagonisten Stanley Mitchel. Der Dreizehnjährige ist erst vor kurzem mit seiner Familie in das fiktive Kaff Dewmont in East Texas gezogen, wo sich sein Vater einen Traum erfüllte und das dortige Dew Drop Drive-In Autokino betreibt. Stan streift an heißen Sommertagen mit seinem Hund Nub durch die Gegend und genießt bis Schulbeginn das noch unbeschwerte Leben eines naiven, wohlbehüteten Heranwachsenden. Hinter dem Wohnhaus beginnen die Wälder und eines Tages finden er und seine ältere Schwester Caldonia zufällig in der Ruine einer abgebrannten Villa ein verwittertes Metallkästchen mit geheimnisvollen Briefen. Im Gegensatz zu seiner Schwester ist Stan gleich fasziniert, er wittert ein großes Abenteuer und beginnt Detektiv zu spielen. Die Villa gehörte der angesehenen Familie Stilwind und bei dem Brand vor 20 Jahren kam die Tochter Jewel Ellen ums Leben. In der gleichen Nacht wurde die junge Margret Wood vergewaltigt und ermordet auf den Gleisen gefunden. Ihr Kopf wurde nie entdeckt und seitdem soll ihr Geist in der Gegend herumspuken. Bei seinen Erkundigungen unterstützt ihn der lebenskluge sowie oftmals launische Schwarze Buster Smith. Der trunksüchtige Alte war früher mal als Hilfspolizist tätig und arbeitet jetzt als Filmvorführer für seinen Vater. Das zunächst harmlos beginnende Detektivspiel entwickelt ungeahnte Ausmaße und Stan findet sich in einem ausgewachsenen Kriminalfall wieder.

Die fesselnde Aufklärung der damaligen Verbrechen rückt mal mehr, mal weniger in den Vordergrund, die Krimielemente des Romans bilden dabei nur das Gerüst für eine warmherzige Coming-of-Age Geschichte und eine genaue Milieustudie der amerikanischen Provinz der 50er Jahre. Dieser Sommer wird das Leben von Stan gehörig auf den Kopf stellen und für immer verändern. Er wird nicht nur sexuell aufgeklärt, er lernt auch Rassismus, Alkoholismus und häusliche Gewalt kennen. Während er in einem liebevollen Elternhaus aufwächst, wird sein bester Freund Richard täglich von seinem Vater verprügelt. Auch die schwarze Hausangestellte Rosy Mae erfährt von ihrem brutalen Partner täglich Gewalt. Sie findet Unterschlupf bei den Mitchels, kann aber auch nicht von ihrem alkoholsüchtigen Geliebten lassen. Stans heile Welt bekommt Risse und er wird mit einer bitterbösen Realität konfrontiert, die ihn seine Unschuld verlieren und erwachsen werden lässt. Ende der 1950er Jahre ist in Amerika Rassentrennung noch an der Tagesordnung. Schwarze und Weiße leben in voneinander getrennten Vierteln, werden auf unterschiedlichen Friedhöfen beerdigt oder sitzen im Kino in getrennten Bereichen, Frauen haben generell nur wenig zu sagen.

Die Handlung ist eher ruhig, ohne übertriebenes Pathos erzählt und weist einige dramatische sowie spannende Passagen auf. Die menschlichen Abgründe, die hinter der kleinstädtischen Idylle lauern, werden aber geschmeidig in die Handlung eingewebt und trotz der Schwere der Themen bleibt der Tonfall leichtfüßig. Besonders durch die hemdsärmelige Erzählweise, passend aus der Perspektive eines Dreizehnjährigen mit bisweilen schnoddrigen Dialogen und deftiger Ausdrucksweise, entsteht eine Leichtigkeit. Die Dialoge klingen authentisch und verzichten dennoch nicht auf einen literarischen Anspruch. Lansdale erzählt seine Geschichte sehr einfühlsam, die er auch nie aus den Augen verliert, und nah an den Figuren, die er glaubwürdig ausleuchtet. Sie überzeugen durch Authentizität und Lebendigkeit.

Wahrscheinlich spielten sich solche Dinge in jeder Kleinstadt ab, und die meisten Leute merkten nichts davon. Ich hätte lieber zu den meisten Leuten gehört. Es war, als ob ich einen Deckel angehoben hätte, und nun kamen alle üblichen Geheimnisse der Welt hervorgekrochen. (Auszug Seite 297)

Lansdale beschreibt die eindrückliche Szenerie einer texanischen Kleinstadt, wo die älteren Leute am späten Nachmittag im Unterhemd auf Veranden sitzen und sich unterhalten, während die Glühwürmchen ausschwärmen und die Sonne wie ein roter Feuerball in die Wälder von East Texas eintaucht und die Jugendlichen mit pomadiger Haartolle oder Pferdeschwanz vorm Dairy Queen herumlungern, Milchshakes im Drugstore trinken und Rockabilly im Radio hören und ich konnte in dieses Setting und in die dichte Atmosphäre mit viel Südstaatenflair versinken.

Ein sehr gelungenes Zeitportrait mit einem Protagonisten, der in seiner jugendlichen Naivität felsenfest an den amerikanischen Traum glaubt und sich eine tiefe Menschlichkeit bewahrt.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Ein feiner dunkler Riss | Erschienen am 17.02.2014 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-5184-6497-7
351 Seiten | 8,99 €
Originaltitel: A Fine Dark Line (Übersetzung aus dem amerikanischem Englisch von Heide Franck)
Bibliografische Angaben & Leseprobe zur Zeit nur antiquarisch verfügbar

Patrick McGuinness | Den Wölfen zum Fraß

Patrick McGuinness | Den Wölfen zum Fraß

Ich muss lachen, merke dann aber, dass diese Erklärung gar nicht so schlecht ist. Man nimmt sexuelle Scham und sexuelle Frustration, packt darauf Reichtum, Hierarchie und seelische wie körperliche Gewalt, serviert das Ganze dann in einem großen Glas namens Anspruch und erhält… nun ja, exakt das, was wir haben. (Auszug E-Book Pos. 3541)

In einem Gestrüpp, einer wilden Müllkippe, in einer Stadt im Südosten Englands wird kurz vor Weihnachten die Leiche einer jungen Frau, Zalie Dyer, gefunden. Ein Nachbar von ihr, Mr. Wolphram wird von der Polizei befragt, hatte kurz vor ihrem Verschwinden mit der Toten Kontakt, hat kein Alibi und macht sich für die Polizei verdächtig. Wolphram wird erstmal festgenommen.

Die beiden leitenden Polizeibeamten Gary und Alexander vernehmen den Verdächtigen. Für Gary ist Wolphram extrem verdächtig. Ein pensionierter Lehrer einer Privatschule, Junggeselle, Einzelgänger, kultiviert und selbstsicher im Verhör – so jemand hat doch etwas zu verbergen. Bei Alexander, auch Ander genannt, stehen die Dinge anders. Er kennt Wolphram, war er doch vor 25 Jahren dessen Schüler im Chapleton College. Noch gibt er diese Information nicht preis. Aber obwohl er zugeben muss, dass Wolphram ein kauziger Typ ist, kann er ihn nach seinen Erfahrungen aus der Schulzeit nicht mit einem Mord in Verbindung bringen.

Jede Gefühlsregung untergräbt, korrigiert, durchmischt er mit etwas anderem. Aber mit was? Mit etwas Emotionslosem. Weiß er zu viel, um Gefühle zu haben oder kennt er sie so genau, dass er sie gar nicht mehr empfindet? (Auszug E-Book Pos. 135)

Das Problem von Gary und Ander ist der große Druck von außen, den Fall möglichst schnell aufzuklären. Wolphram ist für die Öffentlichkeit ein perfekter Täter. Schnell haben die Medien Wind von dessen Festnahme bekommen und schlachten die Story nun brutal aus. Wolphram wird buchstäblich „den Wölfen zum Fraß vorgeworfen“. Er war damals schon ein etwas verschrobener Lehrer, der aber Interesse an seinen Schülern zeigte, sie etwa zu Arthouse-Filmabenden zu sich nach Hause einlud. Ehemalige Schüler berichten aber nun von angeblichen Anzüglichkeiten, die Schule distanziert sich öffentlich von ihm. Die Medien bezahlen gutes Geld für weitere Exklusivstorys. Doch je mehr sich die Yellow Press auf Wolphram einschießt, desto mehr wachsen die Zweifel nicht nur bei Ander, sondern auch bei seinem Kollegen Gary. Sie finden bei Wolphram zu wenig weitere Indizien auf die Tat, zudem kann Ander nach anfänglicher Lethargie herausstellen, dass Wolphram zu den anständigen Lehrern der Schule gehörte.

Als Kriminalroman ist dieses Buch sehr ungewöhnlich. Zwar wird die Geschichte aus der Ich-Perspektive von Ander erzählt, aber der Fokus liegt nur zum Teil auf den Ermittlungen, die erst spät in Gang kommen. Sehr viel Raum nehmen die Empfindungen von Ander ein und vor allem seine Erinnerungen an seine Schulzeit in den 1980ern. Damals war er, im Ausland aufgewachsen, ein Außenseiter, noch mehr aber sein damaliger Freund Daniel. Erlebnisse von Mobbing durch die Mitschüler, psychischem Druck und unterschwelliger sexueller Nötigung durch die Lehrer. Im direkten Zusammenhang damit steht auch die Klassenfrage, die in Großbritannien wohl immer noch akut ist. Das elitäre Schulsystem zementiert dieses Klassensystem zudem, Aufsteiger zwischen den Systemen werden gemobbt. Spannenderweise hat der Autor den Clash der Gesellschaftsschichten auch bei den beiden Polizisten integriert. Gary ist der vorlaute, prollige, proletarische Typ, mit einem leicht bedrohlichem Gehabe. Ein rechtschaffender Polizist, der sich hochgearbeitet hat, der aber auch ein wenig seine Vorurteile pflegt, gerade gegenüber „denen da oben“. Ich-Erzähler Ander ist auf der anderen Seite einer von „denen da oben“, hat sich nach guter Ausbildung etwas überraschend für die Polizei entschieden. Er ist ein eher grüblerischer, melancholischer Typ. Auf der Arbeit sehr methodisch, wird er von Gary „Prof“ genannt. Es geht zwischen beiden sehr spöttisch zu, dennoch funktioniert die Zusammenarbeit. Außerdem steht natürlich die mediale Ausschlachtung des Falls im Mittelpunkt. Die brutale, empathielose Zurschaustellung von Mordopfer und vermeintlichem Täter bis hin zum geförderten Denunziantentum wird hier deutlich dargestellt.

„Den Wölfen zum Fraß“ ist der zweite Roman des Autors Patrick McGuinness, Literaturwissenschaftler in Oxford, der auch viel Lyrik publiziert. McGuinness verarbeitet in seinem Roman einen realen Fall. Am 25.12.2010 wurde die 25jährige Joanna Yeates tot in der Nähe von Bristol aufgefunden, schnell unter Verdacht geriet Christoffer Jefferies, Yeates‘ Vermieter und ein ehemalige Lehrer von McGuinness. Jefferies wurde von zahlreichen Medien aufgrund seines Habitus schnell als Täter diffamiert und vorverurteilt. Später stellte sich heraus, dass Jefferies unschuldig war. Der Vorgang führte zu einer großen Mediendebatte in Großbritannien.

Der vorliegende Roman ist ein ungewöhnlich zusammengestellter Kriminalroman, der vor allem Medienkritik und auch Gesellschaftskritik in sich vereint. Mit der Konstellation der beiden unterschiedlichen Ermittlerfiguren gelingt dem Autor ein guter Kniff. Hier und da verliert sich für meinen Geschmack der Roman etwas in der Melancholie und Reflexion des Ich-Erzählers, aber insgesamt ist dieser Roman anregend, sprachgewand und eine interessante Variation im Genre.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Den Wölfen zum Fraß | Erschienen am 16.03.2022 bei Oktaven im Verlag Freies Geistesleben
ISBN 978-3-7725-3028-9
422 Seiten | 29,90 €
als E-Book: ISBN 978-3-7725-3028-9 | 24,99 €
Originaltitel: Throw me to the wolves (Übersetzung aus dem Englischen von Dieter Fuchs)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Lućia Puenzo | Die man nicht sieht

Lućia Puenzo | Die man nicht sieht

Die folgende Choreographie war genau festgelegt und immer die gleiche: Die Schuhe ließen sie vorne am Eingang stehen. In der Küche schnappte sich Enana ein Messer, inspizierte den Kühlschrank, nahm alle Leckerbissen von denen sie essen durften, heraus und machte sich daran, von allem feine Scheiben abzusäbeln. Immer nur genau so viel, dass nicht nachzuvollziehen war, wo sie genascht hatten, aber genug, um sich satt zu essen. (Auszug E-Book S.8)

Ismael, Enana und Ayo sind drei argentinische Waisen, die auf der Straße leben und als Diebe über die Runden kommen. Der 15jährige Ismael ist der mißtrauische Kopf der drei, die 12jährige Enana die Furchtlose, Abenteuerlustige und ihr 6jähriger Halbbruder Ayo der Kletterspezalist, der in alle Häuser reinkommt. Doch die drei sind längst nicht so selbstbestimmt, wie sie zwischendurch selber glauben. Die meisten Aufträge erhalten sie vom Ex-Cop und Security-Mann Guida, der sie auf bestimmte Objekte ansetzt, bei denen er die Schwachstellen kennt. Dann steigt Ayo ein und öffnet die Türen für Enana und Ismael. Der Trick bei den Raubzügen: Die drei stehlen nicht viel, es bisschen Schmuck, Geld, vielleich Kleidung. So wenig, dass es den Eigentümern erst später auffällt und dann zuerst die Hausangestellten unter Verdacht geraten.

Guida behandelt sie meist gut, hat ein Auge auf sie, sorgt dafür, dass die Polizei sich nicht für sie interessiert. Doch bei ihm stehen knallharte Interessen im Vordergrund, die drei sind sein Kapital. Ein Kapital, dass man auch lukrativ veräußern kann. Doch die Kinder sollen nicht verschreckt werden, sodass er ihnen einen lukrativen Ferienjob in Uruguay verspricht, den sie schließlich auch annehmen. Es winkt gutes Geld und die Aussicht auf den Ozean. Sie werden über den Rio de la Plata verfrachtet und in ein exklusives, weitläufiges Villengelände. Ihre Auftraggeber erwarten, dass sie in einer Woche die neun Häuser auf dem Gelände ausräumen und sich zwischendurch immer wieder in das bewaldete, unwegsame Dickicht auf dem Areal zurückziehen. Langsam reift vor allem in Ismael die Erkenntnis, dass sie nur als Mittel zum Zweck für etwas ganz anderes ausgenutzt werden sollen.

Die Autorin Lućia Puenzo ist in ihrer argentinischen Heimat (nicht nur dort) vor allem eine bekannte und erfolgreiche Filmemacherin. Dies wird auch in diesem schmale Roman deutlich, der zwar einerseits sehr handlungsgetrieben und temporeich ist, andererseits aber durch interessante Perspektivwechsel verschiedene Figuren, wenn auch nur kurz, näher ans Geschehen holt und die Figuren dem Leser etwas näher bringt. Es erlaubt einen Einblick in die scharfen Ungleichheiten der argentinischen und uruguayischen Gesellschaften. Dass die Geschichte von Ismael, Enana und Ayo kein gutes Ende nehmen wird, scheint von Beginn an unausweichlich. Doch die Kinder sind zäh und mutig und durchkreuzen die für sie bestimmmten Pläne.

Das geschulterte Gewehr und die Metallschneide des Messers im Rucksack konnten das ungute Gefühl, das ihn begleitete, seit die Männer mit dem Pick-up ihnen ihre Aufgabe erklärt hatten, kaum abmildern: Dieser Auftrag war eine Nummer zu groß für sie, es konnte nicht gut gehen. Es würde nicht gut gehen. […] Das jedoch verwandelte den Auftrag in etwas ganz anderes: in einen Opfergang. (Auszug E-Book S.61)

„Die man nicht sieht“ ist vieles auf sehr wenigen Seiten, ein fast atemloser Thriller in Echtzeit, ein Noir über das Schicksal, wenn andere über anderer Leben bestimmen und ein gesellschaftskritischer Roman über die Ungleichheit und die Schwachen und Unmündigen, die gnadenlos verheizt werden. Trotz der Kürze des Werks werden auch die Personen angemessen beleuchtet und dienen nicht nur als Staffage. Insgesamt ein anregendes und aufwühlendes Werk.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Die man nicht sieht | Erschienen als Taschenbuch am 12.03.2020 im Verlag Klaus Wagenbach
ISBN 978-3-8031-2824-9
208 Seiten | 13,- €
als E-Book: ISBN 978-3-8031-4239-9 | 10,99 €
Originaltitel: Los invisibles (Übersetzung aus dem argentinischen Spanisch von Anja Lutter)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Melba Escobar | Die Kosmetikerin

Melba Escobar | Die Kosmetikerin

Ich hasse alles, was diese nicht biologisch abbaubaren Frauen mit ihren gezupften Augenbrauen repräsentieren. Ich hasse ihre schrillen, gekünstelten Stimmen, als wären sie vierjährige Püppchen, kleine Drogenbaron-Schlampen, die wie ein Phallus in den Körper einer Frau gezwängt sind. Alles ist so verworren, diese Macho-Kind-Frauen verstören mich, sie deprimieren mich, bei ihrem Anblick muss ich daran denken, was alles kaputt und faul ist in diesem Land, in dem der Wert von Frauen an der Größe ihres Hinterns, der Form ihrer Brüste und ihrer Wespentaille gemessen wird. (Auszug Seite 7/8)

Mit der Hoffnung auf ein besseres Leben zieht die alleinerziehende Karen aus der Provinz in die Hauptstadt Kolumbiens. In Bogotá findet sie einen Job in einem renommierten Kosmetikinstitut in einem mondänen Viertel. Im ‚Haus der Schönheit‘ lässt sich die weibliche Oberschicht behandeln und vertraut Karen ungewollt alle möglichen Geheimnisse an. Sie spart ihr Geld um schnellstmöglich ihren vierjährigen Sohn nachzuholen, den sie in der Obhut ihrer Mutter in der Hafenstadt Cartagena gelassen hat.

Haus der Schönheit
Eines Tages behandelt sie die minderjährige Schülerin Sabrina Guzmán, die sich, offensichtlich angetrunken für ein bevorstehendes Date mit einem älteren Mann verschönern lassen möchte. Als Karen erfährt, dass das Mädchen am nächsten Morgen tot aufgefunden wurde, ist sie geschockt und kann an einen vermuteten Selbstmord nicht glauben. Auch die verzweifelten Eltern lassen nichts unversucht, um herauszufinden, was in den letzten Stunden ihrer Tochter geschah. Sabrinas Mutter besucht Karen sogar im Salon, denn die war die letzte, die das Mädchen lebend gesehen hat. Doch Karen hat selbst genug Probleme, die ihr Leben in einen Abwärtsstrudel verwandeln. Sie findet eines Tages ihre Wohnung ausgeraubt vor, auch ihre gesamten Ersparnisse unter der Matratze sind weg. Sie wird von ihrem Vermieter brutal vergewaltigt und dann von dessen Ehefrau aus der Wohnung geworfen. Aus der Not heraus beginnt sie nebenher als Prostituierte zu arbeiten und gerät dadurch ständig in gefahrvolle Situationen. Die traumatischen Erfahrungen und ihr Nebenjob als Callgirl werfen sie aus der Bahn und sie gerät ahnungslos in den Dunstkreis der an dem Tod des Schulmädchens Beteiligten. Der Täter verfügt über ein einflussreiches Netzwerk aus politischen und kriminellen Akteuren und damit gerät Karen in Gefahr.

Eine ihrer Kundinnen ist die 57-jährige Psychoanalytikerin Claire. Sie lebte viele Jahre in Paris und ist jetzt nach der Trennung von ihrem Ehemann in die Stadt zurückgekehrt, die sie eigentlich verabscheut und in der sie sich immer fremd fühlt. Regelmäßig besucht sie den Schönheits-Salon, allerdings mit ambivalenten Gefühlen. Eigentlich misstraut sie den zementierten Klassenschranken, auch wenn sie als gebildete Frau ein Teil davon ist, und verachtet die Arroganz der Schickeria. Von der attraktiven Karen und ihrer Ausstrahlung ist sie aber fasziniert. Als sie bemerkt, dass die schöne Mulattin sich verändert, will sie ihr helfen und schreibt ihre tragische Geschichte auf.

Ambitioniert und anstrengend
Ich muss zugeben, dass es mir der Roman sehr schwer gemacht hat. Das lag zum einen an den ständig wechselnden Erzählperspektiven. Größtenteils erzählt Claire Karens Geschichte, zwischendurch aber auch ihre Freundin Lucía, teilweise wird auch schon mal mitten im Text die Perspektive ohne einen Hinweis gewechselt. Auch die großen Handlungssprünge machten mir das Lesen sehr anstrengend und dämpften den Lesefluss. Ich hatte ständig das Gefühl etwas verpasst zu haben und war irgendwann des Zurückblätterns müde. Die tote Schülerin spielt anders als nach dem Lesen des Klappentextes vermutet, nur am Rande eine Rolle.

Vielmehr geht es der Autorin in ihrem multiperspektivisch erzählten Roman neben dem Aufzeigen der wirtschaftlichen Ungleichheiten um den allgegenwärtigen Machismo. Wie ein Kriminalroman inszeniert, ist ‚Die Kosmetikerin‘ doch eher ein Sittenbild der Gesellschaft. Dabei stehen mal nicht die Kartelle oder die Kämpfe der Drogenbarone im Fokus. Escobar zeigt deutlich, dass Kolumbien auch jenseits des Drogenhandels von mächtigen Clans beherrscht wird, dass diese mafiösen Strukturen sich zudem in den besseren Kreisen sowie in der politischen Elite ausbreiten und Sexismus und Korruption an der Tagesordnung sind.

Exemplarisch für die gesellschaftlichen Schichten steht der Kosmetiksalon, in dem reiche privilegierte Damen und arme Angestellte aufeinander treffen. Die Frauen, die sich hier behandeln lassen, unterwerfen sich den gängigen Schönheitsidealen. Sie haben ihre Rolle in der patriarchalen Macho-Kultur scheinbar akzeptiert und lassen ihren Frust an Frauen in schwächeren Positionen aus.

Escobar schreibt sehr ambitioniert mit einigen fast philosophischen Sätzen über die Zustände in Bogotá. Viele schonungslose Passagen werden mit einem großen Hang zur Brutalität geschildert, die mir an die Nieren gingen. Ich fand es an vielen Stellen sehr aufwühlend, aber aufgrund der verwirrenden Erzählweise nicht mitreißend genug, viel zu düster und deprimierend.

‚Die Kosmetikerin‘ ist der vierte Roman der kolumbianischen Schriftstellerin und Journalistin Melba Escobar. ‚La casa de la belleza‘ wurde 2016 als bester Roman mit dem kolumbianischen Premio Nacional de Novela ausgezeichnet.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Die Kosmetikerin | Das TB erschien am 09. September 2019 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-4534-2336-7
320 Seiten | 9,99 Euro
Originaltitel: La casa de la belleza (Übersetzung aus dem Spanischen von Sybille Martin)
Bibliografische Angaben & Leseprobe