Kategorie: 3.5 von 5

Abgehakt | Kurzrezensionen September 2022

Abgehakt | Kurzrezensionen September 2022

Unsere Kurzrezensionen zum Ende September 2022

 

 

Amor Towles | Lincoln Highway

Nebraska Mitte der 50er Jahre. Der 18jährige Emmett Williams wird nach über einem Jahr wegen Totschlags aus der Besserungsanstalt Salina entlassen. Er kehrt zum Familienhaus zurück, wo nach dem Tod des Vaters und dem Verschwinden der Mutter nur noch sein 8jähriger Bruder Billy wartet. Die kleine Farm gehört inzwischen der Bank und Emmett möchte mit Billy ein neues Leben beginnen. Dazu wollen die beiden mit dem alten hellblauen Studebaker über den Lincoln Highway Richtung Kalifornien fahren, wo sie die vor Jahren verschwundene Mutter vermuten. Kurz vor der Abfahrt tauchen Duchess und Woolly, zwei Freunde aus dem Jugendknast mit ganz anderen Reiseplänen auf. Sie stehlen Emmetts Auto samt seinem Geld und machen sich auf den Weg nach New York City, um an Woollys Erbe zu gelangen. Die beiden Brüder sehen sich gezwungen, ihnen per Zug hinterher zu reisen. Das ist der Beginn einer aberwitzigen Reise mit vielen skurrilen Begegnungen und vier sehr unterschiedliche Jugendlichen, die alle ihre eigenen Interessen verfolgen. Der besonnene Emmett, der schon früh Verantwortung übernehmen, sich aber auch mit seinem Jähzorn auseinandersetzen muss, sein kleiner oft altklug wirkender Bruder Billy. Dagegen der durchgeknallte Duchess, der total ichbezogen nur nach seinem eigenen Moralkodex handelt. Und dann noch der liebenswerte Woolly, Spross einer wohlhabenden Ostküstenfamilie, aufgrund seiner kognitiven Einschränkungen immer Außenseiter und unberechenbar in seinen Handlungen.

Die Road Novel beginnt mit Emmetts schicksalhafter Herkunftsgeschichte sowie der Gewalttat sehr vielversprechend und ich genoss das ländliche Setting des mittleren Amerikas. Leider konnte es mich dann aber nicht durchgehend begeistern. Der Plot verfängt sich in vielen Nebenhandlungen, es wird aus nicht weniger als acht Perspektiven erzählt. Dadurch bremst sich die Geschichte immer wieder aus und alles wird nur oberflächlich angerissen. Amor Towles ruhiger Erzählton ist liebenswert charmant, bildgewaltig, rutscht jedoch für meinen Geschmack öfter ins Banale ab. Mir war es oft zu redselig und viele Sätze zu bedeutungsschwanger und mythenbeladen. Die einzelnen Charaktere sind mit Ecken und Kanten gut ausgearbeitet, und besonders Duchess machte es mir oft nicht leicht, seine Eskapaden zu ertragen. Viele überraschende Wendungen hielten mich dann doch bei der Stange und ich wollte auch unbedingt wissen, was es damit auf sich hat, dass die Kapitel des Romans rückwärts gezählt werden.

 

Lincoln Highway | erschienen am 25. Juli 2022 im Carl Hanser Verlag
ISBN 978-34462-7400-6
576 Seiten | 26,00 Euro
Originaltitel: The Lincoln Highway | Übersetzung aus dem Englischen von Susanne Höbel
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3 von 5
Gerne: Spannungsroman

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

 

Chris Hadfield | Die Apollo-Morde

Der Kanadier Chris Hadfield war bis 2013 Astronaut und wurde international vor allem mit seiner Mission auf der ISS Ende 2012 / Angang 2013 bekannt, von wo mit Nachrichten und Bildern von der ISS über die sozialen Medien große Popularität erlangte. Kurz vor seiner Rückkehr zur Erde veröffentlichte Hadfield auch ein Musikvideo, in der er in der Raumstation David Bowies „Space Oddity“ covert. Als Ruheständler begann mit Hadfield mit dem Schreiben, seiner Passion Weltraum ist er aber treu geblieben. Für sein Debüt als Thrillerautor hat er sich die ominöse Apollo 18-Mission ausgesucht, die nie stattfand, aber in der Popkultur immer wieder die Fantasie anregt.

Die NASA hat Budget-Probleme, sodass für Apollo 18 das Pentagon einspringt. Dadurch wird die Mission im Jahr 1972 aber überwiegend militärisch. Die Sowjets haben vor kurzem eine Sonde auf die Mondoberfläche gebracht, zudem wurde die (noch unbemannte) Spionage-Raumstation Almaz in die Umlaufbahn gebracht. Die Crew soll nach Möglichkeit beides auf ihrer Mission sabotieren. Doch Apollo 18 steht unter keinem guten Stern, als der Kommandant bei einem Test-Helikopterflug ums Leben kommt. Die Unglücksursache bleibt unklar, da startet die Mannschaft bereits ins All. Und dort wartet die nächste Überraschung, denn Almaz ist keineswegs unbemannt.

Durchaus pfiffig nutzt Chris Hadfield hier Fakten und Fiktion, um den kalten Krieg der 1970er in den Weltraum zu verlegen. Dabei kommt auch eine Vielzahl reale Persönlichkeiten vor. Er erzählt die Story aus verschiedenen Perspektiven und mit einem großen Fundus aus seiner persönlichen Erfahrung. Das ist auch die große Stärke des Thrillers: Die ganze Mission, die Schauplätze und die Atmosphäre im All und auf dem Mond beschreibt Hadfield sehr anschaulich und authentisch. Da verzeiht man auch den einen oder anderen Hänger im Plot und die ausbaufähigen Figuren. Insgesamt ein ordentliches Weltraumabenteuer von einem echten Insider.

 

Die Apollo-Morde | Erschienen am 15.06.2022 im dtv Verlag
ISBN 978-3-342-322010-1
640 Seiten | 12,95 Euro
Als E-Book: ISBN 978-3-462-30105-2 | 9,99 €
Originaltitel: The Apollo Murders | Übersetzung aus dem Englischen von Charlotte Lungstrass-Kapfer
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5
Genre: Thriller

 

 

Antonio Fusco | Schatten der Vergangenheit

Tommaso Casabona ist Kommissar einer Stadt in der Nähe von Florenz. Vor kurzem hat sich seine Frau von ihm getrennt, Auslöser war eine Affäre mit einem Arzt. Ebenjener Arzt wurde ermordet aufgefunden und ein Mafiakiller als Kronzeuge beschuldigt Casabona des Mordes. Bei einer Hausdurchsuchung flüchtet Casabona, da er nur so glaubt, selbst seine Unschuld beweisen zu können. Die Indizien für seine Tatbeteiligung stehen auf wackligen Füßen, aber offenbar sind die Ermittlungsbehörden bereit, Casabona zu opfern, um die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen nicht zu erschüttern. Casabona erhält Unterstützung seiner untergebenen Kollegen und knüpft zudem alte Kontakte ins Mafiamilieu, um die wahren Hintergründe herauszufinden.

Autor Antonio Fusco ist Forensiker bei der italienischen Staatspolizei und hat daher interne Einblicke in die Arbeit der Ermittlungsbehörden, was diesen Krimi interessant macht, da hier offenbar einige auch gegeneinander arbeiten. Die Reihe um Commissario Casabona ist in Italien schon sehr erfolgreich. Umso mehr hat mich irritiert, dass sein deutscher Verlag nun mit Band 6 der Reihe in Deutschland beginnt. Die Vorgeschichte Casabonas wird nämlich nur angerissen und die Figuren bleiben ein wenig blass.

Dafür erhält der Leser ansonsten aber einen ordentlichen, geradlinigen und spannenden Krimi. Der Roman ist recht kurz und hält sich daher kaum mit Nebensächlichkeiten auf. Manches geht vielleicht auch zu glatt bei Casabonas Flucht und Untertauchen. Dennoch überzeugt der Roman vor allem dann, wenn es um die „miesen“ Tricks der Justiz und Behörden geht. Schmutzige Deals werden gemacht, persönliche Vorteile gesucht, vermeintlich wichtige Zeugen geschützt, auch wenn dadurch Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen werden.

 

Schatten der Vergangenheit | Erschienen am 12.04.2022 im Tropen Verlag
ISBN 978-3-608-50518-4
240 Seiten | 17,- €
Als E-Book: ISBN 978-3-608-11943-5 | 13,99 €
Originaltitel: La Stagione del fango | Übersetzung aus dem Italienischen von Ingrid Ickler
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5,0
Genre: Krimi

 

 

Berna González Harbour | Goyas Ungeheuer

Comisaria María Ruiz ist wieder nach Madrid zurückgekehrt, aber von Dienst suspendiert. Die Situation belastet auch ihr Verhältnis zu ihren Freunden im Polizeiapparat. Sie müsste sich eigentlich zurückhalten, aber als mehrere merkwürdige Ereignisse in Madrid stattfinden, ist ihr Ermittlerinstinkt geweckt. Tote Truthähne werden zur Schau gestellt, ein Hund versinkt in einem Schlammloch und schließlich ein Mord: Nahe des Flusses Manzanares wird eine junge Kunststudentin bizarr ermordet aufgefunden. Die Zurschaustellung lässt nur einen Schluss zu: Es gibt eine Verbindung zu den Werken des großen spanischen Künstlers Francisco de Goya. Doch während die Polizei den Dozent und Liebhaber der Studentin verhaftet, verfolgt Ruiz eine ganz andere Spur.

Nochmehr als der deutsche Titel ist der Originaltitel in direktem Bezug zu Goyas Werk: „El sueño de la razón“ ist ein Teil von Goyas berühmtem Werk „El sueño de la razón produce monstruos“ („Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“). Die Auseinandersetzung mit Goyas Werk ist auch das Faszinierende an diesem Roman. Im Buch tauchen 13 Abbildungen von Goyas Kunstwerken auf, die Auseinandersetzung mit seinem Werk ist essentieller Bestandteil des Kriminalromans. Daneben wird auch die spanische Hauptstadt als Setting mit ungewöhnlichen Schauplätzen gut in Szene gesetzt.

Die Voraussetzungen für einen guten Roman sind somit vorhanden, dennoch war ich nicht ganz zufrieden. Die Übersetzung einer Serie mit dem vierten Roman zu beginnen, empfand ich als unglücklich, da viel zu viel aus der Vorgeschichte der Figuren in diesen Band hineinspielt. Zudem fand ich die Figur des psychopatischen Täters eher blass und nicht markant genug. Es ist auch so, dass der Täter so zur Mitte des Buches feststeht und ich eigentlich noch mit einer Wendung zum Ende gerechnet hatte, aber da kam nichts mehr. Fazit: Plot und Täterfiguren haben mich nicht begeistert, aber wer mit einem Krimi mal so richtig in die Kunsthistorie und Francisco de Goya eintauchen will, der sollte einen Blick in diesen Roman riskieren.

 

Goyas Ungeheuer | Erschienen am 17.08.2022 im Pendragon Verlag
ISBN 978-3-86532-730-7
472 Seiten | 24,- €
als E-Book: ISBN 987-3-86532-826-7 | €
Originaltitel: El sueño de la razón | Übersetzung aus dem Spanischen von Maike Hopp
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3 von 5
Genre: Krimi

 

Rezensionen und Fotos 2-4 von Gunnar Wolters.

Abgehakt | Kurzrezensionen Juni 2022

Abgehakt | Kurzrezensionen Juni 2022

Unsere Kurzrezensionen zum Ende Juni 2022

 

 

Kotaro Isaka | Bullet Train

Der japanische Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen rast von Morioka nach Tokio. Mit an Bord sind 5 Killer, die unterschiedlicher nicht sein können, jeder mit einem speziellen Auftrag. Da ist das ungleiche Killerduo Lemon und Tangerine. Die beiden „Zitrusfrüchte“ sitzen zusammen mit dem Opfer einer Entführung samt Lösegeld und wollen den Sohn des gefährlichsten Unterweltbosses Tokios, Minegeshi Junior, heil nach Hause bringen. Doch Murphys Gesetz schlägt zu: Zuerst kommt der Koffer mit dem Geld abhanden, dann verstirbt auch noch das Entführungsopfer auf mysteriöse Weise. Nanao wiederum, ein junger Killer, bekam telefonisch den Auftrag, den Koffer an sich zu nehmen und umgehend an der nächsten Station wieder auszusteigen. Da „Der Marienkäfer“ allerdings der größte Pechvogel aller Zeiten ist, endet der einfach klingende Job im Chaos und es geht schief, was schief gehen kann. Außerdem befindet sich der ehemalige Auftragskiller Yuichi Kimura im Zug, um sich zu rächen, weil man seinen Sohn Wataru vom Dach eines Kaufhauses gestoßen hat und dieser seitdem im Koma liegt. Schuld daran soll der erst 14-jährige Schüler Oji sein, der sich ebenfalls im Shinkansen aufhält. Der harmlos wirkende „Prinz“ ist ein richtiger Psychopath mit krimineller Energie, der es sehr gut versteht, kaltblütig aber auch mit absoluter Empathielosigkeit andere Menschen zu manipulieren.

Während der Zug seinem Endziel entgegen rauscht, kommen sich die Ganoven selbstverständlich gegenseitig in die Quere und alles spitzt sich immer mehr zu. Spannung entsteht auch, da das Geschehen auf den begrenzten Raum der Zugabteile eingeengt ist und die Gestalt eines Kammerspiels annimmt. Die Geschichte kann richtig Spaß machen, wenn man sich auf die völlig absurden Wendungen und abgedrehten Todesfälle einlässt. Besonders im letzten Drittel nimmt die Handlung noch mal richtig Fahrt auf und konnte mich recht gut unterhalten. Die Handlung, wie auch die Figuren sind extrem überzeichnet. Ich empfand es fast als Parodie auf das Genre. Sehr überrascht haben mich die angeblich besten Profikiller der Branche, Lemon und Tangerine, die doch oft wie Vollidioten agierten. Viele Rückblenden, die für Erklärung sorgen sollen, bremsen immer wieder den Hochgeschwindigkeitsthriller aus. Für mich ein durchschnittlicher Thriller von einem in Japan preisgekröntem, hierzulande aber noch relativ unbekanntem Autor. Bullet Train ist der erste ins Deutsche übersetzte Roman von Kotaro Isaka.

Im Juli kommt die Verfilmung mit Brad Pitt und Sandra Bullock in die Kinos, und als Film kann ich mir die Story ganz gut vorstellen, auch weil die Szene, die mir im Buch am besten gefallen hat, tatsächlich die ist, die im Trailer gezeigt wird.

 

Bullet Train | Erschienen am 02.04.2022 im Hoffmann und Campe Verlag
ISBN 978-3-45501-322-1
384 Seiten | 22,- €
Originaltitel: マリアビートル (Mariabitoru) (Übersetzung aus dem Japanischen von Katja Busson)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3 von 5
Genre: Thriller

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

 

 

Horst Eckert | Das Jahr der Gier (Band 3)

In der Düsseldorfer Altstadt wird ein britischer Journalist Opfer eines brutalen Angriffs. Der Mann ist ein alter Bekannter der Kriminalrätin Melia Adan, weshalb sie diesen Vorfall näher betrachtet als vielleicht üblich. Kurz darauf wird die Leiche einer jungen Frau in einem Wäldchen am Stadtrand gefunden, inszeniert als Sexualmord. Doch Hauptkommissar Vincent Veih und sein Team vermuten schnell ein anderes Motiv. Die Spur in beiden Fällen führt schließlich in die Nähe von München zum aufstrebenden Finanzdienstleister Worldcard AG.
Dort hat gerade der Ex-Polizist Sebastian Pagel einen neuen Job beim COO von Worldcard, Marek Weiß, erhalten. Pagel war zum Sündenbock auserkoren worden, als ein wichtiger Zeuge aus Syrien unter Polizeischutz vergiftet wurde. Der Job beim neuen Börsenschwergewicht Worldcard und dessen Macher Weiß scheint geeignet, das Selbstbewusstsein wieder aufzupäppeln. Doch Pagel ist alarmiert, als plötzlich im Dunstkreis von Weiß Personen auftauchen, die er schon aus seinem Vorgängerjob kennt.

Mit „Das Jahr der Gier“ setzt Horst Eckert die Reihe um die Düsseldorfer Polizisten Adan und Veih fort. Wie gewohnt greift der Autor wieder aktuelle politische und gesellschaftliche Ereignisse auf – in diesem Fall der Wirecard-Skandal, der bis in höchste politische Kreise reicht, aber bislang erstaunlich wenige „Opfer“ gefunden hat. Eckert erzählt gewohnt präzise, in kurzen Kapiteln mit ansteigender Spannung und wechselnden Perspektiven. Er behält das übliche Figurenpersonal bei, auch bei den Antagonisten tauchen alte Bekannte in neuer Funktion wieder auf. Das ist wie gewohnt eine überzeugende Mischung aus Fakten und Fiktion. Eckert bleibt der relevante Autor für Pageturner-Politthriller aus Deutschland.

 

Das Jahr der Gier | Erschienen am 08.03.2022 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-453-42637-5
430 Seiten | 13,00 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5
Genre: Politthriller

 

 

Vladimir Sorokin | Der Tag des Opritschniks

Russland im Jahre 2027: Das Land hat sich vollends vom Westen abgeschottet, lebt nur noch von seinen Energieexporten und pflegt lediglich noch Beziehungen zu China. Alleinherrscher ist der Gossudar. Er hält sich eine Mischung aus Geheimpolizei und Leibgarde – die Opritschniki. Sie werden eingesetzt, um gegen Oppositionelle und vor allem vermeintliche Abtrünnige aus der Schicht der Machthaber und Oligarchen mit aller Härte vorzugehen. Einer dieser Opritschniki ist Andrej Danilowitsch Komjaga. Ihn begleitet der Leser durch einen typischen „Arbeitstag“ – vom brutalen Mord an einem unliebsam gewordenen Adelsmann und der Vergewaltigung dessen Frau am Morgen über einen Korruptionsdeal am Mittag bis hin zu gemeinsamen Orgien am Abend.

Vladimir Sorokin ist einer der bekanntesten zeitgenössischen russischen Autoren und Dramatiker, der auch deutlich gegen die politische Spitze in seinen Werken Stellung bezieht, unter anderem gehörte er zu den Unterzeichnern eines Appells, die Wahrheit über den Krieg in der Ukraine zu verbreiten. „Der Tag des Opritschniks“ erschien bereits im Jahr 2006 und nimmt in Form einer Dystopie mit satirischen Elementen die Entwicklung Russlands bis heute in beängstigender Weise voraus. Sein Russland des Jahres 2027 hat sich international weitgehend isoliert und bei allerlei modernen Einsprengseln kulturell einen Rückschritt in die Zarenzeit unternommen. Die Macht des väterlich beschriebenen Gossudaren wird durch die Opritschniki in einer äußerst brutalen und teilweise obszönen Weise gewahrt. Der Ich-Erzähler Komjaga bedient sich dazu einer schwülstigen, pathetischen Sprache. Die Taten der Opritschniki und deren Machtfantasien sind dabei sehr drastisch beschrieben. Ein sehr bedrückendes Werk mit vielen Bezügen zum aktuellen und historischen Russland, dabei immer wieder mit bösem satirischen Witz, bei dem das Lachen buchstäblich im Halse stecken bleibt.

 

Der Tag des Opritschniks | Erstmals erschienen 2006
Die Neuauflage erschien am 12.04.2022 im Verlag Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-00410-6
224 Seiten | 13,- €
Als E-Book: ISBN 978-3-462-30105-2 | 9,99 €
Originaltitel: День опричника (Übersetzung aus dem Russischen von Andreas Tretner)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 4,0 von 5,0
Genre: Dystopie

 

 

Martin Krist | Wunderland (Band 8)

Der Berliner Kommissar Paul Kalkbrenner wird ungewöhnlicherweise nach Potsdam wegen eines Leichenfunds gebeten. Die im dortigen Wertstoffhof gefundene männliche Leiche stammt aber aus dem Bioabfall eines Berliner Abholbezirks. Die Identität des Toten ist allerdings nur schwer zu klären, bis ein Hinweis auftaucht, dass der Tote in einem privaten Theater mitspielte. Dort war der Tote im Ensemble nicht gerade beliebt, Untreue, Affären, Streitigkeiten gab es unter den Laienschauspielern. Aber reicht das schon für ein Mordmotiv?

Währenddessen hat die Potsdamer Kommissarin Jamina Stark den Tote vom Wertstoffhof an die Berliner Kollegen abgegeben, dafür muss sie allerdings einen privaten Schicksalsschlag hinnehmen: Ihr Bruder wird tot mit einer Überdosis aufgefunden. Dabei war er doch seit Monaten clean und auf einem guten Weg. Jamina kann sich mit der offiziellen Version einer selbstverschuldeten Überdosis nicht abfinden und recherchiert auf eigene Faust weiter. Parallel erzählt der Autor die tragische Geschichte eines Geschwisterpaares, deren Eltern bei einem Autounfall ums Leben kommen und die nun in ein kirchliches Kinderheim kommen und dort Missbrauch und Demütigung erfahren. Nach und nach schält sich heraus, was diese drei Stränge miteinander zu tun haben.

Autor Martin Krist ist erfolgreicher Selfpublisher und Vielschreiber. Seine Reihe um Kommissar Kalkbrenner umfasst bereits neun Bände (inkl. Eines Kurzgeschichtenbands). Der aktuelle (reguläre) 8.Band „Wunderland“ erzählt im Hintergrund eine sehr bedrückende Geschichte von vernachlässigten Heimkindern und sexuellem Missbrauch und wie dies das ganze Leben der Betroffenen prägt. Das Buch ist zwar als Thriller betitelt, lässt sich dafür aber im Aufbau und bei den Figuren ziemlich viel Zeit. Das geht zwar auf Kosten der Spannung, tut dem Gesamtwerk aber insgesamt ganz gut. Gut gefiel mir auch das Spiel des Autors mit den Zeitebenen, sodass selbst ein versierter Krimileser manches, aber längst nicht alles vorhersehen konnte. Ein wirklich ordentlicher Krimi.

 

Wunderland | Erschienen am 11.04.2022 im Selbstverlag (R&K)
ASIN: ‎ B09TJCN7F6
535 Seiten | 22,99 € (gebunden) | 12,99 € (Taschenbuch) | 0,99 € (E-Book)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5
Genre: Krimi

 

Rezensionen und Fotos 2-4 von Gunnar Wolters.

David Heska Wanbli Weiden | Winter Counts

David Heska Wanbli Weiden | Winter Counts

Und wenn das Rechtssystem versagte, kamen die Leute zu mir. Für ein paar Hundert Dollar übte ich in Ihrer Namen zumindest ansatzweise Rache. Mein Beitrag zur Gerechtigkeit. (Auszug S.54)

Virgil Wounded Horse ist ein Lakota und lebt im Rosebud-Reservat in South Dakota. Er schlägt sich als Vollstrecker durch: Viele Straftaten, besonders gegen Personen, werden im Reservat nicht verfolgt. Die örtliche Polizei im Reservat ist nur für Kleindelikte zuständig, die Bundespolizei interessiert sich für vieles, was die Indianer untereinander betrifft, nicht. Dann tritt Virgil auf und vermöbelt einen Übeltäter im Auftrag der Geschädigten, um wenigstens etwas Gerechtigkeit herzustellen.

Eines Tages wird Virgil von Ben Short Bear, Mitglied des Stammesrates, angesprochen. Im Reservat ist Heroin aufgetaucht, einer der Lakota, ein gewisser Rick Crow, arbeitet wohl mit Mexikanern zusammen und bringt das Zeug ins Reservat. Virgil soll das Ganze unterbinden. Zunächst lehnt Virgil ab. Als jedoch kurz darauf Virgils Neffe und Adoptivsohn Nathan fast an einer Überdosis stirbt, fährt Virgil mit seiner Ex-Freundin Marie Richtung Denver, um Crow aufzuspüren. Wider Willen gerät Virgil kurz darauf in eine Polizeiaktion, die vor allem Nathan in große Gefahr bringt.

„Die Polizei ist nicht ihr Freund und Helfer. Vor allem die Feds nicht. Momentan gibt es nur einem Menschen, dem Sie vertrauen können, und der sitzt vor Ihnen. Falls Ihnen das bis heute noch nicht klar war, dann sage ich es Ihnen nochmal in aller Deutlichkeit: Wenn es um das Recht der Weißen geht, ziehen die Natives immer den Kürzeren.“ (Auszug S.196)

David Heska Wanbli Weiden ist selbst Bürger der Sicangu Lakota Nation, lebt inzwischen in Denver, aber kann die Verhältnisse in den amerikanischen Reservaten aus eigener Hand beschreiben. Die Situation ist oftmals mehr als prekär, Arbeitslosigkeit, Drogen- und Alkoholprobleme, niedrige Lebenserwaltung, hohe Selbstmordrate. Sehr viele Natives, die in den Reservaten bleiben, leiden unter psychischen Problemen, haben Schwierigkeiten, ihre Identität als Indianer unter den gegebenen Bedingungen zu bewahren. Es gibt zu wenig Hilfsprogramme. Interessant erscheinen Aktionen, die sich auf alte Traditionen zurückbesinnen, um dadurch wieder Stammes- und Selbstbewusstsein zu entwickeln. Diese ganze Nebenaspekte bilden den stilvollen Rahmen für diesen düsteren Krimi, der sich viel Zeit für seine Figuren und das Setting nimmt. „Winter Counts“ war der erste Kriminalroman des Autors, der damit aber direkt zahlreiche Literatur- und Krimipreise einheimste und auf der Short List des Edgar Award stand.

Virgil ist einer dieser Bewohner des Reservats, der nie raus gekommen ist und sich der schwierigen Lage mehr schlecht als recht angepasst hat. Die alten Traditionen und Rituale interessieren ihn nicht wirklich mehr. Er lebt quasi von der Hand in den Mund, ist aber bemüht, dem Sohn seiner verstorbenen Schwester ein halbwegs ordentliches Zuhause zu bieten. Seine Ex Marie hingegen ist eine Art Aktivistin, die sich mit der Situation des Reservats nicht abfinden will und daher tatkräftig Aktionen zur Verbesserung der Lage unterstützt. Sie hält auch viel von Rückbesinnung auf alte Stammestraditionen.

Die Geschichte wird von Virgil als Ich-Erzähler erzählt, bleibt lange Zeit etwas spannungsarm, bevor sie zum Ende hin förmlich explodiert. Der Reiz des Buches liegt daher weniger am eher soliden Plot, sondern am Schauplatz, an der schonungslosen Beschreibung der prekären Verhältnisse und an der Faszination der Stammesrituale. Dabei teilt Weiden zu beiden Seiten aus, korrupte eigene Leute bekommen genauso ihr Fett weg (wie die Weißen, die den Natives immer noch die Selbstbestimmung verweigern. Dadurch sicherlich ein Kriminalroman, der aus der breiten Masse herausragt.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Winter Counts | Erschienen am 23.05.2022 im Polar Verlag
ISBN 978-3-948392-46-8
460 Seiten | 16,00 €
Originaltitel: Winter Counts (Übersetzung aus dem Amerikanischen von Harriet Fricke)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

James Lee Burke | Eine Zelle für Clete (Band 18)

James Lee Burke | Eine Zelle für Clete (Band 18)

Bald ist die Mammutaufgabe vollbracht. Verleger Günther Butkus war schon immer großer Fan von James Lee Burke und seiner Reihe um Detective Dave Robicheaux aus Louisiana. Diese Reihe wird vom Autor seit Band 1 „Neonregen“ regelmäßig fortgeführt. Auch in Deutschland mit einigem Erfolg (u.a. ein Deutscher Krimipreis für „Weißes Leuchten“), doch irgendwann nach Erscheinen der Übersetzung von Band 12 gab es keine weiteren Erscheinungen. Doch Butkus blieb Autor und Reihe treu und bemühte sich konkret um Band 15 als Neustart der Reihe. Und bewies den richtigen Riecher und das richtige Timing: Kurz zuvor begann in Deutschland die Wiederentdeckung des Autors mit dem preisgekrönten „Regengötter“ (erschienen bei Heyne Hardcore) und „Sturm über New Orleans“, erschienen 2015, in dem sich Burke den Zorn über das Versagen der US-Regierung bei Hurrikan Katrina von der Seele schreibt, erwies sich als perfekter Wiedereinstieg in den düsteren Kosmos von Dave Robicheaux im schwülen, korrupten, gewalttätigen, aber wunderschönen Louisiana. Doch damit sollte nur ein Anfang gemacht sein: Alle Romane der Reihe sollten nach und nach im Pendragon Verlag erschienen – und nun ist man nicht weit vom Ziel entfernt. „Eine Zelle für Clete“ ist Band 18, in Kürze erscheint „Die Tote im Eisblock als Band 19. Dann harren nur noch das 2013 als 20. Band erschienene „Light of the World“ und das als bislang letzter Band vor zwei Jahren veröffentlichte „A Private Cathedral“ der deutschen Übersetzung. Für einen kleinen Verlag eine große Aufgabe, aber eine große Bereicherung für den deutschen Krimileser.

„Wissen Sie, warum seit vier Monaten nicht mehr über diese Mädchen berichtet wird? Weil´s keinen juckt. Wir sin` hier in Louisiana, Robo man. Schwarz oder weiß, das spielt keine Rolle. Wenn du Geld hast, kriechen dir die Leute in den Arsch. Wenn du keins hast, treten sie dir in denselben.“ (Auszug S. 16)

Ein typischer Auftakt in einen Robicheaux-Roman. In den letzten Jahren wurden sieben junge Mädchen tot in den Sümpfen Louisianas gefunden, die meisten davon Prostituierte. Wahrscheinlich alle ermordet, obwohl der Zustand der Leichen eine eindeutige Aussage nicht immer zuließ. Die Polizei ermittelt halbherzig, es gibt zu wenig Spuren, ein Zusammenhang zwischen den Toten wird zwar vermutet, aber kann nicht erhärtet werden. Auftritt Detective Dave Robicheaux und sein Kumpel Clete Purcel, Privatermittler und Kautionsagent: Die beiden gehen privat einigen Hinweisen nach und diese führen zum Zuhälter Herman Stenga. Stenga wiederum unterhält Verbindungen zu den Abelards, einer Südstaatenfamilie, deren Reichtum noch auf Sklavenhaltung fusst und die angeblich in Verbindung zu Mafiaclans steht, nach außen hin aber gesellschaftlich renommiert ist. Für Dave besonders heikel: Seine Adoptivtochter Alafair ist seit kurzem mit dem jüngsten Sohn der Familie, Kermit Abelard, befreundet. In Kermits Dunstkreis bewegt sich zudem der Ex-Häftling Robert Weingart, der nun als Buchautor seiner Biografie Erfolge feiert, den aber weiterhin eine dunkle Aura umgibt.

Dave und Clete können zwar einige lose Verbindungen vom letzten Mordopfer zu Kermit Abelard aufdecken, doch sie haben weiterhin zu wenig in der Hand. Dennoch lassen sie sich nicht abschütteln. Als Clete sich von Stenga zu Gewalttätigkeiten provozieren lässt und Stenga schwer verletzt, geraten Dave und Clete aber zunehmend unter Druck. Schließlich wird Stenga in seinem Haus umgebracht und die Indizien deuten eindeutig auf Clete.

Doch er war in seiner Naivität nicht allein. Ich selbst ermittelte in Angelegenheiten, für die ich nicht zuständig war, meine Einschätzungen waren oft von Vorurteilen beeinflusst, meine Hartnäckigkeit grenzte wahrscheinlich an Besessenheit. In den Augen war vieles, was ich tat, genauso verrückt wie Cletes Eskapaden. Und da waren wir nun, die zwei Hofnarren von Louisiana, die es mit Angehörigen der gesellschaftlichen Elite aufnahmen, ohne den kleinsten Beweis in der Hand zu haben. (Auszug S. 419)

Der Auszug beschreibt den Grundtenor des Buches, eigentlich der ganzen Reihe, sehr treffend. Dave Robicheaux und Clete Purcel als Hofnarren, als Kämpfer gegen Windmühlen, allein gegen die gesellschaftliche und kriminelle Elite Louisianas, was oft genug dasselbe ist. Die beiden sind dabei selbst nicht zimperlich, überschreiten mehr als einmal die Grenze – immer, fast schon verweifelt, auf der Suche nach Gerechtigkeit. Immer wieder wird auch die Vergangenheit der beiden zitiert, alte Traumata wieder aufgewühlt, die Clete in Alkohol und Dave in Dr.Pepper ertränken. In diesem Roman bekommt Dave zudem Todesahnungen, die sich in einem Schaufelraddampfer auf dem Bayou manifestieren.

Im Band 18 erfindet James Lee Burke sich natürlich nicht neu, vieles ist wohlbekannt. Die Tiefe der Figuren, die Beschreibungen der Südstaaten-Landschaft, der kraftvolle Schreibstil goutiert der Fan der Reihe aber durchaus. „Eine Zelle für Clete“ führt den Kosmos souverän fort, weiß an der einen oder anderen Stelle aber noch zu überraschen, etwa bei den starken Szenen, als Dave in der Marschlandschaft auf ein Killerkommando trifft. So freue ich mich als bekennender Fan auf die letzte Bände mit Dave und Clete und die einzelnen Bände dazwischen, die ich noch nachholen muss.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Eine Zelle für Clete | Erschienen am 26.01.2022 im Pendragon Verlag
ISBN 978-3-86532-752-9
544 Seiten | 24,- €
Originaltitel: The Glass Rainbow (Übersetzung aus dem Amerikanischen von Norbert Jakober)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Romanen von James Lee Burke auf Kaliber.17

Ross Thomas | Fette Ernte

Ross Thomas | Fette Ernte

Seit nunmehr 15 Jahren bemüht sich der Alexander Verlag aus Berlin um eine Reputation eines Autors, der international als einer der wichtigsten Autoren des Politthrillers gilt. Ross Thomas war vor seiner Karriere als Schriftsteller, die er Mitte der 1960er im Alter von 40 Jahren begann, als Journalist, Gewerkschaftssprecher, PR- und Wahlkampfberater tätig. Ein reicher Fundus an Erfahrungen, die er in 25 Romane umsetzte. Zweimal gewann er den Edgar Award, gar viermal den Deutschen Krimipreis. 1995 verstarb Ross Thomas. Seine Leser im deutschsprachigen Raum musste allerdings leider zumeist mit mehr oder weniger stark gekürzten Übersetzungen vorlieb nehmen. Seit 2007 erscheint allerdings nun sein gesamtes Werk auf Deutsch vollständig nach und nach in überarbeiteten oder neuübersetzten Fassungen.

Der vorliegenden Stand-Alone „Fette Ernte“ beginnt mit dem 93 Jahre alten, aber noch recht rüstigen ehemaligen Politikberater William „Crawdad“ Gilmore. Gilmore ist mit allen Wassern gewaschen, hat so manche Schweinerei mitgemacht oder wurde als Mitwisser über Konspirationen zum Schweigen verdonnert. Auf der Toilette des Cosmos Club wurde er aber nun unfreiwillig zum Mithörer einer Verschwörung, über die er nicht zu Schweigen braucht. Er will die Sache seinem Anwalt Ancel Easter erzählen und bittet, ihn morgens abholen zu lassen. Dummerweise wird Gilmore im Morgengrauen vor seiner Haustür von zwei Räubern erschossen. Gibt es solche dummen Zufälle? Ancel Easter weiß keinerlei Details, aber die Tatsache, dass Gilmore ihm ein Geheimnis anvertrauen wollte, lässt ihm keine Ruhe. Er beauftragt Jake Pope, privater Ermittler mit millionenschwerem Erbe, sich die Sache mal näher anzusehen. Die einzige Spur führt zu einem Datum: Der 11.Juli. Aber am 11.Juli passiert nichts Wichtiges in Washington. „Highlight“ des Tages ist die jährliche Prognose der Weizenernte durch das Landwirtschaftsministerium. Haha, von wegen Highlight. Hmm, Moment – könnte das vielleicht doch das Ziel der Verschwörung sein?

Er wußte, daß man in dieser Stadt ganz früh am Morgen mit dem Konspirieren begann, damit man es zum Mittagessen erledigt hatte. Man konspirierte, um sich persönlich zu bereichern, um gesetzliche Vorteile zu erlangen, nationale oder internationale Macht und manchmal nur zum Spaß. (Auszug S.8)

Diese desillusionierte Sicht auf den poltischen Betrieb Washingtons ist ein typisches Merkmal der Werke von Ross Thomas. Er beschreibt das Spiel der Macht fast lakonisch, gönnt sich aber dennoch die eine oder andere Spitze. Etwa bei der Beerdigung von Crawdad Gilmore, als er den Besuch des Präsidenten, „kein übermäßig intelligenter Mann“, als plumpe politische Geste entlarvt und der Präsident eine erschreckend belanglose Konversation mit dem „klügsten Mann Washingtons“, Ancel Easter, führt. Thomas stellt heraus, dass sich im „Dschungel Washingtons“ allerhand Personen tummeln, die einen ausgeprägten Willen besitzen, die eigene Macht und das eigene Konto zu vergrößern. Die Verbindungen zum organisierten Verbrechen sind nicht weit, oft nur einen Strohmann entfernt.

In diesem Roman ist tatsächlich die Verkündung der Ernteschätzungen der Fokus der kriminelle Energie. Etwas unbemerkt von sonstigen Börsengeschäfte lässt sich am Rohstoffmarkt tatsächlich im großen Stil spekulieren. Mit Warentermingeschäften lassen sich mit dem richtigen Hintergrundwissen und etwas illegalen Insidertricks enorme Gewinne machen (Ganz aktuell ist der Weizenmarkt aufgrund des Krieges in der Ukraine auch ein Tummelplatz für Spekulanten). Und für diese geht man auch gerne über ein paar Leichen.

Was diese Ausgabe insbesondere spannend macht, ist die Geschichte der deutschen Übersetzung, die im Nachwort des Neuübersetzers Jochen Stremmel erläutert wird. Ross Thomas wurde in den 1970ern bei Ullmann in der „gelben Reihe“ verlegt. Die Vorgabe des Verlags damals: Kein Krimi durfte länger als acht Druckbögen (8×16=128 Seiten) sein. Um diese Vorgaben einzuhalten, wurden Originalausgaben teilweise radikal gekürzt. Mit einigen Beispielen beschreibt Stremmel die Auswirkungen auf den vorliegenden Roman, der an zahlreichen Stellen arg beschnitten und damit ein großes Stück Atmosphäre geraubt wurde. Immerhin bedauert Stremmel die damalige Übersetzerin Ute Tanner, die eine wahrlich undankbare Aufgabe hatte.

Durch die Neuübersetzung wird auch nochmal deutlich, wie präzise Ross Thomas auch die Szenerie und die Hintergründe beschreibt. Für die Figurenbeschreibungen nimmt er sich ausgiebig Zeit. Die Dialoge sind zudem herausstechend. Für mich war der Plot diesmal nicht ganz so herausragend, dennoch ist das Jammern auf hohem Niveau. „Fette Ernte“ ist zwar inzwischen fast ein halbes Jahrhundert alt, doch die Mechanismen sind doch immer dieselben. Sehr akribisch analysiert Thomas das Machtgeflecht und die schmutzigen Geschäfte im Politbetrieb. Und man spürt als Leser, dass sich hier niemand etwas aus den Fingern saugt, sondern aus dem Nähkästchen plaudert. Das Ganze ziemlich trocken, aber mit einem Schuss Verachtung serviert. Ein Klassiker, der immer eine Lektüre wert ist.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Fette Ernte | Erstmals erschienen 1975
Die vollständige deutsche Ausgabe erschien am 12.08.2014 im Alexander Verlag Berlin
ISBN 978-3-89581-317-7
384 Seiten | 12,- €
Original: The Money Harvest (Übersetzung aus dem Englischen von Jochen Stremmel)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension von Ross Thomas‘ „Porkchoppers“