Autor: Nora

Jakob Bodan | Ein richtig falsches Leben

Jakob Bodan | Ein richtig falsches Leben

Das Einzige, was Constanze jemals zum Mord an ihrem Vater geschrieben hatte, war der offene Brief an die RAF gewesen. Eine Antwort hatte sie nicht erhalten.
„Wie kommt es, dass die Täter niemals identifiziert worden sind?“
Die immergleiche unerlässliche Frage.
„Sie waren einfach zu gut“, meinte Ortner.
„Besser als die Polizei? Kaum zu glauben.“
„Es wird dir nichts anderes übrig bleiben. Selbst wenn du wüsstest, wer geschossen hat, würde dein Vater nicht wieder lebendig.“ (Auszug Seite 114)

Constanze Behrenberg lebt mit ihrem Sohn David aktuell im Haus der Familie in Südfrankreich. Dort lernt sie Frederic kennen, einen Deutschen, der dort in einem alten Bauernhaus mit seiner Partnerin Marie-Claire Marmeladen herstellt und verkauft. Constanze und Frederic kommen sich näher. Doch Frederic ist nicht der, der er zu sein vorgibt und er erkennt bald, dass ihn eine monströse Tat mit Constanze verbindet: Er war (und ist) Teil der dritten Generation der RAF, die vor mehr als zwanzig Jahren Constanzes Vater Stephan Schilling ermordet hat.

Die Mörder Schillings wurden nie gefasst. Die meisten der dritten Generation der RAF sind immer noch im Untergrund. Wie Frederic. Doch der stellt sein Leben und seine Taten inzwischen in Frage. Er hält es nicht mehr aus, will auch wissen, was damals wirklich passierte, welche Personen im Hintergrund die Fäden zogen. Und er will Marlene wiedersehen, eine Mitkombattantin und seine große Liebe. Auch Constanze hat das Trauma der Ermordung des Vater nur oberflächlich überwunden. Sie versuchte damals als Jugendliche vergeblich, Kontakt zur RAF aufzunehmen, um Antworten zu finden. Sie will immer noch die Mörder finden und hinterfragt das ehrliche Bemühen der deutschen Sicherheitsbehörden nach echter Aufklärung. Als auch sie die Identität Frederics herausfindet, kommt es zu einem brüchigen Pakt zwischen beiden auf der Suche nach der Wahrheit. Doch auf der anderen Seiten gibt es immer noch einige, die darauf achten, dass diese niemals ans Licht kommt.

Hatte er ernsthaft Welcome-Back-Gesänge erwartet? Hoch die Tassen auf die alte Zeit? Das war kein Veteranentreffen. Das waren verbitterte, verkrachte, seelisch verwahrloste Gestalten. […]
Das Leben im Untergrund war nur ein halbes Leben.
Die Früchte der Anarchie hatten nie geschmeckt.
Aber nun waren sie verfault. (Seite 224)

Die RAF hat auf mich schon als Kind eine irgendwie makabere Faszination ausgeübt. Ich weiß noch genau, wie ich als Neunjähriger nach einer Samstagabendshow im Oktober 1985 noch einen Teil der abschließenden Nachrichten sehen durfte und dort die Meldung vom Mord an Gerold von Braunmühl kam. Seitdem habe ich zahlreiche Bücher und Filme über die RAF gelesen bzw. gesehen. Die sogenannte dritte Generation ab Mitte der 1980er ist bis heute zum großen Teil ein Mysterium, sind doch nur wenige Mitglieder namentlich bekannt, die Mörder von Braunmühl, Herrhausen oder Rohwedder nicht ermittelt. Bis heute leben viele im Untergrund, begehen sogar weiterhin Raubüberfälle, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Bekannt ist, dass diese Terroristengeneration massive Unterstützung der DDR erhalten hatte.

Autor Jakob Bodan (ein Pseudonym) nutzt die spärlichen Fakten, um daraus eine fiktive Geschichte zu machen, in der er letztlich auch die Frage stellt, wem nutzten die letzten Morde der RAF, war die RAF noch eine Organisation mit einer gefestigten (wenn auch verqueren) Ideologie oder waren sie zu Handlangern, zu Auftragsmördern Dritter verkommen? Als Constanze und Frederich beginnen, Staub aufzuwirbeln, wird klar, dass die Omertá der Täter immer noch gilt, Verräter nicht geduldet werden und weitere Hintermänner oder zumindest Nutznießer noch in ganz anderen Positionen sitzen. Im begleitenden Pressetext sagt der Autor, dass der Staat kein Interesse an der Wahrheit habe und die innere Einheit Vorrang vor der Aufklärung der Rolle der DDR in der Geschichte der RAF besitze.

Als Vehikel und Aufhänger wählt Bodan das Private der Opfer und Täter. Das Leid und das Trauma der Hinterbliebenden, die von der Tat gezeichnet bleiben – in diesem Fall Constanze, die ein emotionales Defizit und ein ungestilltes Rachebedürfnis zurückbehalten hat. Auf der anderen Seite die Täter, die immer noch unerkannt sind, sich total auf das nicht selbst bestimmte Leben im Untergrund einlassen müssen und sich ihrer Taten nicht stellen.

Als Ansatz ist dies durchaus überzeugend, allerdings war das Ergebnis für mich manchmal zu verkopft. Der Autor bringt Verweise auf Schillers Die Räuber und der Titel darf sicherlich als Hinweis auf Adornos Es gibt kein richtiges Leben im falschen interpretiert werden. Das alles deutet natürlich darauf hin, dass Bodan hier weniger einen Thriller als eher einen politischen Gesellschaftsroman im Sinn hatte. Warum er dann doch die Thrillerelemente einbaut, bleibt unklar, denn diese Szenen gehören nicht zu den Stärken des Romans und wirken unrund geplottet. Dennoch fand ich das Thema, die Anregungen und Andeutungen interessant und gelungen. Insgesamt also eine zwiespältige Lektüre mit Stärken und Schwächen.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Ein richtig falsches Leben | Erschienen am 3. Juni 2019 im Droemer Verlag
ISBN 978-3-426-30711-3
384 Seiten | 14.99 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Anna Johannsen | Das Mädchen am Strand

Anna Johannsen | Das Mädchen am Strand

„Der Strandabschnitt war weiträumig abgesperrt und wurde auf jeder Seite von einem Polizisten überwacht. Im Laufen hob Lena ihren Ausweis, der Kollege nickte und hob das Absperrband für sie hoch. Um die Leiche, die in einer windgeschützten Mulde am Rand des Strandes lag, standen Arno Brandt und drei Polizisten der Suchmannschaft. Die Szene wirkte merkwürdig friedlich: Das Mädchen sitzend und leicht zur Seite geneigt, die Augen geschlossen, die Arme locker auf dem Schoß.“ (Auszug Seite 44)

Hauptkommissarin Lena Lorenzen macht eigentlich einen Kurzurlaub auf Amrum, wird dann aber gebeten, die Suche nach einem vermissten Mädchen auf der Nachbarinsel Föhr zu unterstützen. Die 14-jährige Maria ist von zu Hause verschwunden und wird am zweiten Tag der Suchaktion tot am Strand gefunden, mit aufgeschlitzten Pulsadern. Alles deutet also auf einen Suizid hin, auch die Tatsache, dass Marias Familie in einer streng religiösen Glaubensgemeinschaft lebt. Lena bleibt allerdings von Anfang an skeptisch und trifft bei ihren Befragungen auf großes Schweigen. Warum ist Maria weggelaufen? Wollte sie einfach nur den festen Regeln ihrer Religion entkommen oder steckt etwas ganz anderes dahinter?

Das Leben neben dem Beruf

Lena ist Mitte dreißig und arbeitet in Kiel beim LKA. Sie lebt im Moment in einer Fernbeziehung mit Erck, einem Freund aus Schultagen, dem sie vor kurzem wieder begegnet ist und der jetzt auf Amrum lebt. Erck stört es, dass beide sich nicht so oft sehen und wenn, dann trotzdem Lenas Job dazwischen funkt, wie in dieser Vermisstensache. Erck möchte eine Zukunft und Familie, Lena ist sich jedoch unsicher. Und dann ist einer der Flensburger Kollegen, die mit in dem Fall ermitteln, auch noch Ben, mit dem sie nach einem Seminar im Bett gelandet ist… Hier sind Grübeleien vorprogrammiert.

Viel Ermittlungsarbeit

Das Mädchen am Strand von Anna Johannsen ist der zweite Roman um die Kommissarin Lena Lorenzen. Bisher ermittelte die Protagonistin in fünf Fällen. Die Geschichte ist ein klassischer Kriminalroman, in dem es hauptsächlich um die Ermittlungen in dem Todesfall geht. Außer den Kollegen vor Ort bekommt Lena schnell noch weitere Unterstützung aus Flensburg und so koordiniert sie insgesamt drei Teams über die Insel. Es werden viele Befragungen geführt, mit den meisten Personen auch mehrmals, da sich eine Hülle des Schweigens um die Menschen im Umfeld von Maria bildet. Immer wieder zieht Lena sich auch mit Johann, einem Kollegen aus Flensburg, mit dem sie bereits in einem früheren Fall gut zusammengearbeitet hat, zurück und reflektiert die bisherigen Ergebnisse. Es dauert lange, bis es so etwas wie einen Verdächtigen gibt, doch dann kommt alles auf einmal!

Leichter Lesegenuss

Mir hat dieser Krimi Lesefreude bereitet, da eben nicht so sehr viel drum herum erzählt wird, sondern wirklich der Fall im Vordergrund steht. Lena ist für mich als Protagonistin eher flach geblieben, ich kann mich nicht besonders gut mit ihr identifizieren, richtig unsympathisch ist sie mir allerdings auch nicht. Ein bisschen Liebesgeschichte und Familienprobleme geben der Geschichte noch etwas Abwechslung. Das ist nichts wirklich Neues, stört aber auch nicht. Zweimal hatte ich erst das Gefühl, dass doch etwas zu viel Zufall eingewebt wurde, hat sich dann aber doch nicht bestätigt. Beim Ende habe ich ebenfalls erst vermutet, dass der Täter doch recht früh feststeht, aber glücklicherweise änderte sich auch das nochmal und es blieb bis zum Schluss spannend. Insgesamt liest sich die Handlung flüssig und schnell und ich konnte immer gut folgen. Außerdem kommt ein wunderschöner Schauplatz dazu und oftmals sortiert Lena ihre Gedanken im Watt oder im Strandkorb.

Fazit: Leichter, aber keinesfalls langweiliger Krimi mit bester Kulisse!

Anna Johannsen lebt seit ihrer Kindheit in Nordfriesland. Sie liebt die Landschaft und Menschen der Region, besonders verbunden ist sie den nordfriesischen Inseln, auf denen die Krimireihe »Die Inselkommissarin« spielt.

 

Rezension und Foto von Andrea Köster.

Das Mädchen am Strand | Erschienen am 6. Februar 2018 bei Edition M (Selfpublishing)
ISBN 978-1-50390144-0
350 Seiten | 9.99 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Frank Goldammer | Roter Rabe ♬

Frank Goldammer | Roter Rabe ♬

Im Sommer 1951 werden in der noch jungen DDR zwei Mitglieder der Wachturmgesellschaft wegen Spionageverdacht in Polizeigewahrsam genommen. Kurz nach der Verhaftung werden die beiden Zeugen Jehovas tot in ihren Untersuchungszellen aufgefunden. Sie sollen auf ziemlich ungewöhnliche Art Suizid begangen haben. Oberkommissar Max Heller zweifelt an den vermeintlichen Selbstmorden in getrennten Zellen, stößt aber während seinen Ermittlungen bei den misstrauischen Sektenmitgliedern auf Widerstände. Die Untersuchung der Todesfälle gestaltet sich auch so schwierig, denn die verschiedenen Geheimdienste scheinen ihre Finger im Spiel zu haben. Heller darf ermitteln, wird aber immer wieder zurückgepfiffen und vieles soll auch unter den Teppich gekehrt werden.

Angst vor der Atombombe

Max Heller trifft auf einen alten Bekannten, den jungen Russen Alexej Saizev, der mittlerweile für den russischen Geheimdienst tätig ist. Einst ein Freund, hat dieser sich total verändert, wirkt zynisch und verbittert und seine Handlungen sind für Heller nicht nachvollziehbar. Saizev ist auf der Suche nach einem amerikanischen Topspion und er warnt Heller eindringlich, ihm nicht in die Quere zu kommen. Der gefährliche Geheimagent, auch Der Rabe genannt, soll für den Westen spionieren und Sabotage betreiben. Es kursieren Gerüchte, die Amis wollen die Atombombe in Dresden einsetzen, um die Russen zu entmachten.

Heller und seine Mitarbeiter Werner Oldenbusch und Peter Salbach stoßen auf mysteriöse Zeitungsannoncen, in denen offenbar chiffrierte Nachrichten übermittelt werden und eine weitere Spur führt zu einem jugendlichen Schmugglerpärchen. Aufgrund einer Explosion in einem Kraftwerk wenige Monate zuvor, zieht Heller einen Zusammenhang mit dem Schmuggel von Uranerz. Dieses spezielle Erz wird für den Bau einer Atombombe benötigt. Die Angst vor einem Bombenattentat in Dresden ist allgegenwärtig. Nach und nach kommen alle Zeugen auf merkwürdige Weise zu Tode. Und zwar so viele, dass ich irgendwann aufhörte, zu zählen.

Kein Telegramm von Karin

Der Oberkommissar muss zeitgleich auch noch sein Privatleben organisieren. Er kehrte grade mit seiner Familie aus dem Ostseeurlaub zurück. Und während seine Frau Karin mit einer Ausreisegenehmigung gleich weiterreist, um zum ersten Mal den gemeinsamen Sohn Erwin und dessen kleine Familie im Westen zu besuchen, bleibt Heller schweren Herzens alleine mit der kleinen Pflegetochter Annie zu Hause. Sie wohnen bei Frau Marquardt und dass die alte Dame immer verwirrter wird, bedeutet eine weitere Sorge für Max. Er wartet sehnsüchtig auf ein Lebenszeichen seiner Frau und weist brüsk alle Andeutungen zurück, dass Karin nicht vereinbarungsgemäß nach 14 Tagen zurückkommt. Er vertraut seiner Frau, doch auch an ihm nagen Zweifel, als das vereinbarte Telegramm nicht kommt. Dann taucht eine junge Frau namens Edeltraud Hermann auf, die sich als entfernte Verwandte von Frau Marquardt ausgibt und sich auch noch in der Wohnung einquartiert. Heller empfindet ihr Verhalten als merkwürdig.

Die Zeugen Jehovas

In der DDR waren die Zeugen Jehovas erst als Opfer des Faschismus anerkannt und als kleine Religionsgemeinschaft eingetragen. Doch schnell wurde die Glaubensgemeinschaft verboten und bis zum Ende der DDR standen die Mitglieder unter intensiver Überwachung durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und lebten in ständiger Furcht vor staatlichen Repressionen. Als Staatsfeinde agierten sie im Untergrund, wurden verfolgt und verhaftet.

Diese Thematik arbeitet Frank Goldammer in dem 4. Teil der Krimireihe um den Dresdner Oberkommissar Max Heller ein. Dabei gelingt es ihm sehr eindrücklich, die Atmosphäre von Misstrauen und Angst aufzuzeigen, denn die junge DDR stand unter permanenter Beobachtung durch die Sowjetunion. Bespitzelung und Denunziation bestimmten den Alltag der Menschen und das Vertrauen zwischen Freunden oder sogar innerhalb der Familie wurde häufig auf eine harte Probe gestellt. Das wird am Beispiel von Hellers Kollege sehr anschaulich dargestellt. Oldenbusch wird durch das MfS drangsaliert, nachdem sich seine Verlobte in den Westen abgesetzt hat. Neu im Team ist der ehemalige Polizist Peter Salbach, dem Oldenbusch mit Misstrauen begegnet, da er ihn für einen Spion hält. Heller ist entsetzt über das paranoide Klima in den eigenen Reihen und attestiert Oldenbusch Verfolgungswahn. Die Versorgungslage hat sich nach Kriegsende verbessert, ist aber längst nicht so gut wie in der BRD. Des weiteren leben die Menschen mit der ständigen Befürchtung, der Spionage verdächtigt zu werden, dazu reichte es schon, wenn man dabei erwischt wird, westliche Radiosender zu hören.

Verworrener Plot und grundanständiger Protagonist

Während der Autor den einzelnen Figuren sehr viel Sorgfalt widmet und die Zeit stimmig eingefangen wird, war mir der Plot zu komplex und verworren. Ich hatte Mühe, allenVerdächtigungen und Geschehnissen zu folgen. Irgendwann habe ich den Faden verloren, und auch die Auflösung zum Schluss ist nicht wirklich gelungen, da einige Fragen nicht schlüssig beantwortet werden. Vielleicht habe ich sie auch überhört und hier wäre das Printmedium besser gewesen, um noch mal zurückzublättern. Obwohl der Schauspieler und bekannte Hörbuchsprecher Heikko Deutschmann mit sonorer Stimme seine Sache wirklich sehr gut macht. Für mich wurde die Handlung mit zu vielen unnötigen Todesfällen überfrachtet.

Als Hörer weiß man nie mehr als Heller, da aus seiner Sicht erzählt wird. So ist man der Gedanken- und Gefühlswelt des sympathischen Protagonisten immer sehr nah. Und der unbestechliche Max Heller ist wirklich ein grundanständiger aber auch ziemlich dröger Zeitgenosse mit hohen Moralvorstellungen. Er hält an seinen Prinzipien fest und will soweit wie möglich unpolitisch bleiben. Die Begegnungen zwischen dem stocksteifen Max Heller und der übergriffigen Edeltraud Hermann haben mich jedenfalls sehr amüsiert.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Roter Rabe | Das Hörbuch erschien am 21. Dezember 2018 bei Der Audio Verlag
ISBN 978-3-7424-0643-9
1 mp3-CD | 19.99 Euro
Laufzeit: 11 Stunden 9 Minuten
ungekürzte Lesung von Heikko Deutschmann
Bibliografische Angaben & Hörprobe

Alan Carter | Marlborough Man

Alan Carter | Marlborough Man

Der Himmel ist klar, die Sterne leuchten. Da oben ist das Kreuz des Südens, weiter westlich entdecke ich den Skorpion. Der Busch ist voller Vogelgeräusche und Rascheln. Ein seltsames Land. An manchen Tagen ist seine Schönheit atemberaubend, dann wieder nimmt einem die Hässlichkeit die Luft. (Auszug Seite 126)

Nick Chester leitet als Sergeant die Polizeistation in Havelock in den Marlborough Sounds an der Nordküste der Südinsel Neuseelands. Für seinen Dienstgrad eigentlich ein etwas unbedeutender Posten, gibt es dort doch hauptsächlich Trunkenheitsraufereien und Verkehrsdelikte. Und auch aktuell hat es Nick eher mit einem lästigen Fall zu tun: Die Yacht des Holzindustriellen McCormack wurde mit einem Graffito besprüht. Der großspurige McCormack besitzt große Waldflächen rund um Havelock, ist Hauptarbeitgeber der Gemeinde und nutzt dies auch aus, so dass Nick wenig Lust verspürt, den Sprayer zu ermitteln.

Allerdings gibt es in den Sounds nun auch einen großen Kriminalfall. Ein sechsjähriger Junge ist nach dem Schwimmunterricht verschwunden und wird missbraucht und ermordet aufgefunden. Doch Nick nimmt zunächst nur eine Nebenrolle in den Ermittlungen ein. Das liegt daran, dass ihn seine Vergangenheit als Undercover-Cop wieder einholt. In Sunderland in Nordengland hat er vor einigen Jahren die dortige Gangstergröße in den Knast gebracht. Dieser schwor Rache und so wurde Nick mit Ehefrau und Sohn mit neuem Namen versehen und quer über den Erdball verfrachtet. Doch im heutigen digitalen Zeitalter bleibt nichts geheim und so erhält der zunehmend paranoische Nick mehr und mehr Indizien, dass seine alten „Kumpels“ aus Sunderland es auf seinen Kopf abgesehen haben. Und nicht nur auf seinen.

Ich weiß, wer da kommt. Sammy Pritchard. Er lässt mich wissen, dass er mich endlich gefunden hat. Seine Macht reicht weit, noch aus dem Hochsicherheitsgefängnis streckt er seinen Arm nach mir aus. […]
Ich sehe Vanessa an, sie ist schlaftrunken und genervt. Ich denke an Paulie, der unten schläft. Wird sich Sammy mit mir begnügen und die beiden am Leben lassen? Nein. Natürlich nicht. (Seite 12)

Autor Alan Carter ist ein Mackem, also gebürtig aus Sunderland, lebt aber schon seit mehr als zwanzig Jahren in Australien und Neuseeland. Carter hat sich auch in Deutschland in der Krimibranche mit seinen beiden bislang auf Deutsch bei der Edition Nautilus erschienenen Romanen Prime Cut und Des einen Freund einen Namen gemacht, so dass nun sein neuer Roman im Suhrkamp Verlag erscheint. Marlborough Man gewann übrigens im letzten Jahr den Ngaio Marsh Award, den renommiertesten Krimipreis Neuseelands.

Der Protagonist Nick Chester wird hier auf einen wahren Parforceritt beruflich und privat geschickt. In Rückblenden erfährt der Leser von Nicks Undercoverjob und wer ihm aufgrund dessen immer noch auf den Fersen ist. Das belastet Nick selbstredend auch privat. Seine Frau Vanessa ist über den Umzug nach Neuseeland immer noch wenig begeistert, trotz der aus Herr der Ringe bekannten Landschaft. Der gemeinsame Sohn Paulie bedarf wegen seines Down-Syndroms zusätzlicher Aufmerksamkeit. Als dann noch Killer aus der Vergangenheit auftauchen, kriselt es in der Ehe gewaltig. Dies wird neben den Krimi- und Thrillerhandlungen glaubhaft erzählt. Außerdem nimmt auch die Māori-Kultur einen Raum in der Geschichte ein und das immer noch schwierige Verhältnis zwischen den Ureinwohnern und den Pākehā, den europäisch stämmigen Einwohnern.

Carter kreiert aus den Zutaten eine Mischung aus klassischem Whodunit mit (nicht immer) klassischer Ermittlungsarbeit und einem packendem Thriller. Dabei muss man klar zugeben, dass er das Rad nicht neu erfindet. Einige Motive sind aus anderen Romanen des Genres wohl bekannt. Überzeugend ist aber, dass der Autor die Klaviatur exzellent beherrscht, die (zahlreichen) Figuren bleiben nie oberflächlich, die Dialoge sind knackig und auch das Setting Neuseeland wird gebührend eingebaut. Insofern gibt es von mir eine klare Empfehlung!

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Marlborough Man |  Erschienen am 17. Juni 2018 im Suhrkamp Verlag
ISBN 987-3-518-46932-3
384 Seiten | 14.95 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Krischan Koch | Flucht übers Watt

Krischan Koch | Flucht übers Watt

„Aus Angst, der Polizei ins Netz zu gehen, hatte er sich heute Morgen im Bauwagen entschlossen, dem Festland den Rücken zu kehren und über die Nordsee zu fliehen. Er war im Morgengrauen regelrecht berauscht von dieser Idee gewesen. Statt auf schnellsten Weg nach Hamburg zu kommen, wo vermutlich eher nach dem Täter gefahndet wurde als in Nordfriesland, wollte er eine Weile auf einer der Inseln untertauschen, um dann später über Hamburg möglichst schnell nach New York zu kommen.“ (Auszug Seite 41)

Harry Oldenburg hat vier wertvolle Nolde-Gemälde aus einer Ausstellung geklaut und ist damit nach Amrum geflüchtet, um vorerst unterzutauchen. Auf der beschaulichen Insel ist das aber nicht so einfach, wie Harry dachte, denn die Inselbewohner sind misstrauisch und er bekommt einige Probleme. Außerdem kommt es zu einigen, mehr zufälligen, Todesfällen bei dem Versuch unentdeckt zu bleiben. 18 Jahre später reist Harry mit seiner Freundin Zoe erneut nach Amrum. Sind die Noldes noch an Ort und Stelle?

Der Anfang einer Karriere

Harry ist bei dem Raub der Noldes Kunststudent, mit seinen eigenen Werken allerdings nicht sehr erfolgreich. Die Noldes sind sein erster Kunstraub und schnell entdeckt er, dass sich auf diese Weise einfach Geld machen lässt. Jetzt lebt er mit Zoe und einer gemeinsamen Tochter in Amerika in einem Leuchtturm und zusammen betreiben sie eine Galerie, die sie am Anfang nur als Tarnung für ihr Geschäft mit geklauten und gefälschten Gemälden brauchten, die aber mittlerweile ebenfalls mit legalem Kunsthandel gut läuft.

Aus Sicht des Täters

Flucht übers Watt von Krischan Koch ist der zweite Krimi, den ich von dem Autor gelesen habe und hatte mich gedanklich auf eine weitere Ermittlung um den Dorfpolizisten Thies Detlefsen eingerichtet, wurde dann aber positiv überrascht, dass das nicht der Fall war und es sich hier auch nicht um einen klassischen Krimi handelt, sondern die Geschichte aus Sicht des Täters geschildert wird.

Eine lange Mitte

Der Roman ist in zwei Zeitebenen unterteilt, einmal in den Kunstraub von vor 18 Jahren und dann die Wiederkehr auf die Insel mit Zoe heute. Dabei finde ich die Abtrennung dieser Ebenen optisch nicht gut gelungen, denn es ist nicht vor Beginn des Kapitels erkennbar, um welche Zeit es sich gerade handelt und dadurch kam bei mir der Lesefluss oft ins Stocken. Den Anfang der Geschichte habe ich gern und zügig gelesen. In der Mitte empfand ich eine Länge, denn Harry trifft auf alte Studienkollegen und wird zu einer Party eingeladen, aber es bringt die Handlung nicht weiter. Zum Ende hin hat dann aber alles einen Sinn. Nach der Mitte liest es sich für mich wieder deutlich spannender, obwohl man durch die Kapitel von heute schon weiß, dass Harry unbeschadet aus der Sache kommt. Allerdings ist mir zum Schluss ein bisschen viel Zufall im Spiel.

Insel-Schauplatz

Der Protagonist ist mir weder sehr sympathisch noch ist er mir unangenehm. Ich habe ihn eher unemotional durch seinen Raub begleitet, was für mich aber kein negatives Ergebnis war. Besonders schön finde ich wieder einmal die Beschreibung des Schauplatzes. Ich war noch nie auf Amrum, konnte aber einen guten Eindruck gewinnen und bin nicht abgeneigt, auch selbst mal Urlaub dort zu machen. Allerdings nur, weil der Autor zu Beginn des Buches darauf hinweist, dass die Bewohner im wahren Leben nicht so unfreundlich sind, wie hier beschrieben.

Fazit: Aus Sicht des Täters geschriebene Krimis sind mal was anderes und wenn sie dann noch vor so schöner Kulisse spielen, sind sie einen Versuch wert. Hier ist der Versuch geglückt und ich hatte kurzweilige Unterhaltung.

Krischan Koch wurde 1953 in Hamburg geboren. Die für einen Autor üblichen Karrierestationen als Seefahrer, Rockmusiker und Kneipenwirt hat er sich geschenkt. Stattdessen macht er Kabarett und Kurzfilme und schreibt seit vielen Jahren Filmkritiken u.a. für die Die Zeit und den Norddeutschen Rundfunk. Koch lebt mit seiner Frau in Hamburg und auf der Nordseeinsel Amrum, wo er mit Blick aufs Watt seine Kriminalromane schreibt.

 

Rezension und Foto von Andrea Köster.

Flucht übers Watt | Erschienen am 7. April 2017 bei dtv
ISBN 978-3-423-21673-9
304 Seiten | 9.99 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Auch bei uns: Andreas Rezension zu Mörder mögen keinen Matjes von Krischan Koch.