Autor: Nora

Lisa Bengtsdotter | Löwenzahnkind Bd. 1

Lisa Bengtsdotter | Löwenzahnkind Bd. 1

Krimi aus Schweden nach bewährtem Muster

Vom Verlag als Thriller beworben, entpuppt sich der Roman schnell als ein weiterer, typischer Schwedenkrimi, was ja an sich auch schon ein Versprechen für solide, gute Unterhaltung ist und tatsächlich erfüllt Löwenzahnkind was das angeht alle Erwartungen. Bengtsdotter erzählt ruhig, ohne Hast, nimmt sich Zeit für eine sorgfältige Beschreibung der meist trostlosen, zum Teil auch idyllischen Schauplätze, vor allem aber für das Seelenleben ihrer Figuren, auf die sich das Hauptinteresse konzentriert.

Der an sich angenehm fließende, wenn auch arg einfache, etwas eckige Stil rumpelt an etlichen Stellen, was möglicherweise mit einer nicht ganz so geschmeidigen Übersetzung von Sabine Thiele zu tun haben könnte. Daher entsteht bisweilen der Eindruck, dass die Geschichte gut erzählt, aber weniger gut ausgeführt ist. Sehr gut geglückt ist die sorgfältige Einführung der wichtigsten Figuren, die dadurch sofort Interesse finden, auch wenn sie allesamt die inzwischen etablierten und deshalb fast erwarteten Klischees mit sich herumschleppen, die üblichen psychischen Defizite, Mängel und Macken, die scheinbar unverzichtbaren Ehe- oder Drogenprobleme und vor allem die schwere Kindheit.

Die Heldin dieses Romans, Charline „Charlie“ Lager, ist eine solche Anti-Heldin, und sie hatte es als kleines Mädchen sicher nicht leicht. Sie war ein „Löwenzahnkind“, ein Begriff, den Entwicklungspsychologen verwenden, um unterschiedliche Anlagen zu erklären.Wissenschaftler aus den USA benutzten als erste die schwedischen Bezeichnungen „Maskrosbarn“ und „Orkidebarn“, „Orchideenkind“. Erstere besitzen die Fähigkeit, selbst unter widrigsten Umständen zu überleben, ja sogar zu gedeihen. Sie sind psychologisch außerordentlich belastbar. Die Psyche der Orchideenkinder dagegen hängt in weit größerem Maß von ihrer Umwelt ab – insbesondere von der elterlichen Zuwendung. Vernachlässigte Orchideenkinder verkümmern; doch bei entsprechender Förderung blühen sie regelrecht auf.

Charlies Mutter hat sich ganz sicher nicht genug um ihr Kind gekümmert. Über ihren Vater wird Charlie niemals etwas erfahren, und die Mutter ist mit der Erziehung ihrer Tochter total überfordert. Es gibt keine Regeln und keine Grenzen, und es gibt auch wenig Zuwendung, das Jugendamt hat ein Auge auf die Situation und Charlie Angst, dass die „Prusseliese“ sie mitnimmt. Betty Lager hat genug zu tun mit ihren eigenen Problemen. Sie leidet unter starken Stimmungsschwankungen, zieht sich entweder völlig zurück oder feiert ausufernde Feste, auf denen sich ihr schweres Alkoholproblem manifestiert. Daran ändert sich auch nichts, als mit Matthias ein neuer Mann in ihr Leben tritt und in Lyckebo einzieht, wo außerhalb des Ortes ihr Haus am See liegt. Eines Tages ertrinkt Matthias in eben diesem See, und Betty zerbricht an dem Unglück, vegetiert nur noch vor sich hin und kümmert sich gar nicht mehr um ihre Tochter. Als sie an Tabletten- und Alkoholmissbrauch stirbt, verlässt Charlie mit 14 Jahren Gullspång und kommt nun wirklich in eine Pflegefamilie.

Nun ist sie 33 und hat sich durchgekämpft, aus dem Löwenzahnkind ist tatsächlich etwas geworden: Eine Ermittlerin bei der NOA, der Nationalen Operativen Abteilung, die der Chef seine fähigste Mitarbeiterin nennt. Die zum großen Teil männlichen Kollegen sind weniger begeistert von ihrer Blitzkarriere. Abitur mit siebzehn, Studium der Psychologie mit Abschluss, Ausbildung an der Polizeihochschule. Je höher sie in der Hierarchie der NOA aufstieg, desto größer wurden ihr Neid und ihr Misstrauen. Es gibt wenige Ausnahmen, eine davon ist Anders Bratt, mit dem sie ein Team bildet. Er war ihr von Anfang an sympathisch, obwohl sein sozialer Hintergrund ein völlig anderer ist: Mitglied der Oberklasse aus sehr reichem Haus, entsprechend eingebildet und überheblich, aber auch gutherzig, mit Humor und der Fähigkeit zur Selbstreflexion. Ihr aktueller Einsatz verschlägt die beiden ausgerechnet nach Gullspång, um die örtlichen Polizeibeamten bei der Suche nach einer spurlos verschwundenen Siebzehnjährigen zu unterstützen. Niemand weiß, dass Charlie dort aufgewachsen ist, sie hat ihr traumatische Erlebnis, das mit dem kleinen Ort in Västergötland verbunden ist, vor allen verheimlicht.

Sie selbst leidet darunter, bekämpft mit Antidepressiva ihre Panikattacken und Angststörungen und versucht immer wieder vergeblich, endlich Rauchen und Trinken aufzugeben. Eine Therapie hat keinen Erfolg gehabt, eigentlich will sie sich auch nicht helfen lassen, glaubt selbst am besten zu wissen, was gut für sie ist und will alles alleine regeln. Zu Beginn des Romans erleben wir sie als schwach, willenlos, einsam und ohne soziale Kontakte, dafür jederzeit bereit für flüchtige sexuelle Abenteuer, wobei sie auch Affären mit Kollegen nicht scheut. Nun muss sie sich also mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinandersetzen, obwohl sie niemals zurückkehren wollte zu den Schauplätzen ihrer Kindheit. Es hat sich nichts verändert in Gullspång, ihre Rückkehr gerät zu einer absolut deprimierenden Inszenierung:

„Die Ortsmitte wirkte wie eine Geisterstadt. Aufgegebene Geschäfte, eingeschlagene Fensterscheiben. Es erschien ihr unwirklich, alles wiederzusehen. Die heruntergekommenen Hausfassaden, das Lebensmittelgeschäft, die Konditorei, die mittlerweile geschlossen war. Für Außenstehende einfach ein tristes, verlassenes Ortszentrum, aber für sie…“

Die erste Begegnung mit den Kollegen der örtlichen Polizeistation macht deutlich, wie nötig die Unterstützung der Stockholmer Beamten ist. Die Provinzler haben Vorbehalte gegen die Hauptstädter, müssen aber bald einsehen, dass sie nicht besonders professionell gearbeitet haben. Charlie und Anders machen sich daran, mit eigenen Ermittlungen das Rätsel um das Verschwinden des Mädchens zu lösen. Bis die beiden die traurigen Hintergründe entschlüsseln können und die bittere Wahrheit ans Licht kommt, erzählt Bengtsdotter in ihrem gelungenen Debüt höchst unterhaltsam, abwechslungsreich und spannend aus verschiedenen Perspektiven. Neben den aktuellen Ereignissen blickt sie zurück auf „Jenen Abend“, an dem Annabelle verschwand, auf „Eine andere Zeit“, in der zwei Mädchen beste Freundinnen wurden, und auf die Kindertage von Charlie im Haus in Lyckebo, an die sie nicht nur angenehme Erinnerungen hat, sie schleppt seither auch einige bedrückende und belastende Erkenntnisse mit sich herum. Davon hat sie bis heute niemandem erzählt, wie sie überhaupt wenig von sich preisgibt, selbst Anders weiß so gut wie nichts über seine Kollegin.

Die beiden könnten gegensätzlicher nicht sein, die eine offenbar vom Leben enttäuscht und gezeichnet, desillusioniert und einsam, die sich ihren Dialekt mühsam abtrainiert hat und die ihre Herkunft dennoch nicht leugnen kann, der andere ein arroganter Stockholmer, herablassend und sarkastisch gegenüber allem außerhalb der Großstadt, seit kurzem Papa und verheiratet mit einer furchtbar eifersüchtigen und kontrollsüchtigen Frau.
Die Mutter der vermissten Annabelle leidet ebenfalls unter einem Kontrollwahn. Fredrik Roos kennt seine Frau Nora von Beginn an als aufbrausend, unruhig, ängstlich und labil. Ihre Tochter leidet sehr unter der ständigen Überwachung, ihn wundert es nicht, dass sie gegen die strengen Regeln der Mutter aufbegehrt. Ist sie möglicherweise ausgerissen? Fast alle jungen Leute wollen im Grunde nur eines: Weg aus Gullspång. Zuletzt wurde Annabelle im seit vielen Jahren leerstehenden, ehemaligen Dorfladen gesehen, der den Jugendlichen der Gegend als Treffpunkt dient. Dort hören sie ihre laute Musik, es wird viel Alkohol getrunken, man kifft und konsumiert auch andere Drogen und die Pärchen haben Sex. Als Annabelle an jenem Abend die Party verlassen hatte, war sie stark angetrunken. Fredrik ist von Nora losgeschickt worden, um sie zu suchen, aber ihre Spur hat sich verloren. Ist sie verschleppt worden, oder schlimmer noch, ermordet?

Während ein freiwilliger Suchtrupp tagelang die gesamte Gegend durchforstet, demonstrieren Charlie und Anders, wie professionelle Polizeiarbeit aussieht, zumindest eine Zeit lang. Dabei liefern sich die so unterschiedlichen Ermittler kurzweilige Wortgefechte, Bengtsdotter schreibt ihnen spannende, unterhaltsame und witzige Dialoge. Charlie erweist sich als schnell in allem was sie tut, in ihren Aktionen wie in ihren Überlegungen und Entscheidungen. Ihren behäbigen Kollegen ist sie stets einen Schritt voraus, aber dann stürzt Charlie wieder einmal ab: sie blickt zu tief ins Glas und lässt sich mit einer Zufallsbekanntschaft ein. Am nächsten Morgen stellt sich heraus, dass sie mit einem Journalisten geschlafen hat, und als die lokale Presse mit vertraulichen Details der laufenden Ermittlungen aufmacht, wird sie vom Fall abgezogen. Das hindert sie allerdings nicht daran, weitere Nachforschungen anzustellen. Durch ihren Alleingang gerät sie mehr und mehr in den Mittelpunkt der Geschichte, zumal sie jetzt endlich den Mut findet, das Haus ihrer Mutter wiederzusehen und sich so ihrer lange verdrängten Vergangenheit stellen muss. Ihre persönliche Geschichte überlagert von nun an vollends den Fall um die vermisste Annabelle. So erfahren wir in kleinen Häppchen immer mehr über die faszinierende, widersprüchliche Charlie, die sich als sehr komplexe Person erweist. Sie ist mitunter schwach, oft aber auch kämpferisch, anarchistisch und stark, außerordentlich intelligent und absolut beherrscht und zielstrebig im Beruf, ihr Privatleben hat sie dagegen gar nicht unter Kontrolle.

Als sie ihre Freundin aus Kindertagen wiedersieht und in Erinnerungen schwelgt, werden zerplatzte Träume, Lebenslügen offenbar. Charlie schweift nun oft ab, wenn sie sich an den alten, vertrauten Plätzen in Gedanken und Träumereien verliert und die Vergangenheit aufleben lässt, ihre sind einfach schön und mitreißend ausgemalt, sind diese Bilder mit großem Vergnügen zu lesen, auch wenn sie scheinbar nichts mit dem Plot zu tun haben.
Der ist großartig durchkomponiert und an keiner Stelle langweilig. Gewährt an vielen Stellen intensive Einblicke in die häuslichen und gesellschaftlichen Zustände in der kleinen Gemeinde, Innenansichten des dörflichen Lebens. Da werden wie üblich in Krimis aus Skandinavien eine Menge Fragen aufgeworfen, auch ein Grund dafür, dass der Roman einen sofort in den Bann zieht und mitreißt, auch wenn man stellenweise vergessen könnte, das es sich hier um einen Krimi handelt. Der Roman kommt dann eher daher wie ein Sozialdrama oder eine Milieustudie. Die Kapitel sind kurz, die Perspektive wechselt häufig und dieser ständige Austausch der unterschiedlichen Handlungsstränge hält die Spannung hoch, die sich zum unerwarteten Ende hin enorm steigert, wobei besonders der einigermaßen rätselhafte Auftritt der Freundinnen Alice und Rosa für ein besonderes Kribbeln sorgt. Die Charaktere, auch oder gerade die Nebenfiguren, sind allesamt glaubwürdig und authentisch, das Setting außerordentlich passend und geglückt. Die Autorin ist selbst in Gullspång aufgewachsen, die kleine Gemeinde hat sie genau so in Erinnerung, wie sie im Roman geschildert wird: freudlos, trostlos, perspektivlos, einfach deprimierend. Heute lebt Bengtsdottir wie ihre Heldin in Stockholm.

Charlie wird aber bald wieder nach Gullspång müssen, der zweite Band der Reihe soll noch in diesem Jahr auch auf deutsch erscheinen. Der schwedische Titel lautet Francisca und nimmt einige Fäden des Erstlings wieder auf. Der heißt im Original schlicht Annabelle, der Name ist offensichtlich mit Bedacht gewählt. Es finden sich im Roman mehrfach Hinweise auf einerseits den deprimierenden Countrysong „Annabelle“ von Gillian Welch, zu anderen auf das bekannte Gedicht „Annabelle Lee“ von Edgar Allen Poe. Die Fortsetzung beschert natürlich ein Wiedersehen mit bekannten Figuren und hat offenbar den gleichen Tenor und eine ähnliche Thematik wie Löwenzahnkind. Dem gebe ich vier Sterne, ich glaube, Lina Bengtsdotter kann sich noch steigern.

 

Anmerkung: Der zweite Band wird voraussichtlich am 13. Juli 2010 im Penguin Verlag unter dem Titel Hagebuttenblut erscheinen.

 

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

Löwenzahnkind | Erschienen am 13. Mai 2019 im Penguin Verlag
ISBN 978-3-328-10381-3
448 Seiten | 13.- Euro
Originaltitel: Annabelle
Bibliographische Angaben & Leseprobe

James Lee Burke | Mein Name ist Robicheaux Bd. 21

James Lee Burke | Mein Name ist Robicheaux Bd. 21

Ich wollte andere Dinge mit ihm tun, die ich nicht beschreiben werde. Ich hegte Gefühle, die kein Christ je haben sollte. Dennoch waren es meine. Ich besaß sie. Und sie lebten immer noch in mir, selbst als T.J. Dartez auf einem Obduktionstisch lag, so kalt und blutleer wie alte Fleischwurst.
War ich fähig zu dem Mord draußen am Bayou Benoit? Sagt ihr’s mir. (Auszug Seite 193)

Vor knapp zwei Jahren wurde Dave Robicheaux‘ Frau Molly Opfer eines Verkehrsunfalls, bei dem Dave sich allerdings nicht ganz sicher ist, ob er sich tatsächlich so zugetragen hat wie behauptet. T.J. Dartez, der in Mollys Wagen fuhr, weil sie angeblich die Vorfahrt missachtete, wurde von aller Schuld freigesprochen. Doch jetzt wird Dave ausgerechnet von einem Gangster namens Tony Nemo auf den Unfall angesprochen – mit dem Hinweis, dass etwas faul an der Sache sei. Dave kann dies nicht auf sich beruhen lassen. Eines Abends erleidet er einen Rückfall und lässt sich volllaufen. Am anderen Tag wacht er auf und kann sich an nichts erinnern. In dieser Nacht wurde T.J. Dartez ermordet. Ist Dave ein Mörder?

Dave Robicheaux‘ Chefin im Sheriffsbüro von New Iberia glaubt nicht daran und behält ihn im Dienst. Dave soll weiter in einem merkwürdigen Fall von angeblicher Vergewaltigung ermitteln. Rowena Broussard, eine Nachbarin von Dave, beschuldigt Jimmy Nightingale, einen ehemaligen Ölmanager und aufstrebenden Politiker, der für den US-Senat kandidiert. Dave hatte Nightingale mit den Broussards erst kurz zuvor zusammengebracht, da Nightingale einen Roman von Rowena Broussards Ehemann Levon als Filmprojekt produzieren wollte. Doch die Broussards realisieren das Projekt plötzlich ausgerechnet mit Tony Nemo.

Währenddessen bearbeitet Spade Labiche, ein neuer Kollege, den Mordfall Dartez und macht ein ums andere Mal Andeutungen, dass die Indizien auf Dave verweisen. Labiche hat aber außerdem Kontakt zu Kevin Penny, einem Zuhälter und Drogendealer, der seinerseits Verbindungen zu Tony Nemo und Jimmy Nightingale hat. Wie hängt alles miteinander zusammen? Wer will hier wen aufs Glatteis führen? Dave erhält wie üblich Unterstützung von seinem Freund Clete Purcel, der gerade tief in der Kreide steht – ausgerechnet bei Jimmy Nightingale. Und Clete steckt außerdem im Clinch mit Kevin Penny, den er mehrfach als Kautionsflüchtigen aufgegriffen hat und von dem er gehört hat, dass er seinen kleinen Sohn misshandelt. Und als wäre das alles nicht genug, taucht plötzlich von irgendwoher ein ziemlich schräger, kaltblütiger Killer auf, der offensichtlich eine Todesliste abarbeitet, die von irgendeinem der Beteiligten diktiert wurde.

Manchmal kann man Außenstehenden die Kultur des südlichen Teils von Louisiana und das Dilemma seiner Menschen nur schwer erklären. Die Welt, in der sie aufgewachsen sind, ist heute nur noch eine verfallende Erinnerung, aber viele von ihnen haben keinen Platz in der Gegenwart. […}
Wie soll man also wütend auf Menschen sein, die arm geboren wurden, so schlecht Englisch sprechen, dass sie für Außenstehende völlig unverständlich sind, das Weltbild und die Glaubensüberzeugungen von mittelalterlichen Bauern besitzen, sich mit Putzen Geld verdienen und fettleibig werden wegen völlig ungesunder Massenlebensmittel, für die sie auch noch dankbar sind? (Seite 396)

Mein Name ist Robicheaux ist inzwischen der 21. Roman um den unerschrockenen, von seinen inneren Dämonen heimgesuchten Gerechtigkeitsfanatiker Dave Robicheaux und seinen nicht minder komplizierten Kumpel Clete Purcel. Damit setzt der Pendragon Verlag seine bemerkenswerte Mammutaufgabe der Wieder- bzw. Neuveröffentlichung aller Robicheaux-Romane fort. Diesmal ist wieder eine Neuveröffentlichung dran, denn im Original erschien dieser Roman erst 2018 unter dem Titel „Robicheaux. You know my name“.

Wer diesen Blog seit längerem verfolgt, weiß sicherlich, dass Autor James Lee Burke zu meinen Lieblingsautoren und Dave Robicheaux zu meinen Lieblingsprotagonisten zählt. Von daher erscheint es nicht verwunderlich, dass mich auch dieser Roman überzeugt hat. Burkes Stil mit seinen epischen Beschreibungen der Natur im Süden Louisianas steht im krassen Widerspruch zu den Verhältnissen von Kriminalität, Gewalt, Rassismus und Misogynie, gegen die Robicheaux und Purcel fast wie moderne Don Quixote und Sancho Panza ankämpfen. Doch im Gegensatz zu den mittelalterlichen Gestalten führen Robicheaux und Purcel keine Scheingefechte, sondern nehmen den Kampf gegen höchst gefährliche Gegner auf, wenngleich es sich am Ende manchmal wie ein Kampf gegen Windmühlen anfühlt.

Was James Lee Burke ebenfalls auszeichnet, sind seine komplexen und ausufernden Plots, für die andere Autoren mehrere Bücher benötigen würden, die er aber souverän beherrscht. Was ich noch nicht wusste – auch das Genre der Short Story ist kein Problem für James Lee Burke. Als Bonus enthält dieser Band die Kurzgeschichte: „The Wild Side Of Life“, in der der Autor ein Motiv aus der Hauptgeschichte aufgreift. Auch das souverän erzählt.

Ein weiterer Bestandteil seiner Werke sind seine klaren, kraftvollen Aussagen zu moralischen Fragen und gesellschaftlich-politischen Missständen in den Südstaaten oder auch im ganzen Land, die er seinem Ich-Erzähler Robicheaux in Reflexionen vortragen lässt. Hier geht es um korrupte und Frauen verachtende Polizisten, weiße Rassisten, skrupellose Gangster und populistische Politiker, die sich ohne mit der Wimper zu zucken mit den vorher genannten verbünden. Und das Problem der Menschen, diese Personen zu entlarven. So ist dieser Kriminalroman als 21. Band einer über dreißig Jahre währenden Reihe fast schon erstaunlich auf der Höhe der Zeit. Für Mein Name ist Robicheaux gibt es daher von mir auf jeden Fall eine klare Empfehlung!

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Mein Name ist Robicheaux | Erschienen am 9. Oktober 2019 im Pendragon Verlag
ISBN 987-3-86532-658-4
600 Seiten | 22.- Euro
Originaltitel: Robicheaux. You know my name
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Auch bei uns: Rezensionen zu folgenden Burke-Romanen: Sturm über New OrleansGlut und AscheMississippi JamNeonregenSchmierige Geschäfte und  Zeit der Ernte

Linktipp: Die Robicheaux-Romane in der chronologisch korrekten Reihenfolge

H. Dieter Neumann | Feuer in den Dünen

H. Dieter Neumann | Feuer in den Dünen

„Was ist denn passiert?“, fragte Helene.
„In den frühen Morgenstunden hat es eine neue Brandstiftung gegeben. Diesmal in Vejers Strand.“
„Wieder ein Ferienhaus?“
„Ja, in den Dünen direkt am Strand. Völlig ausgebrannt. Die Bewohner konnten sich im letzten Moment aus dem Haus retten, liegen aber alle mit Rauchvergiftung im Krankenhaus. Eine Urlauberfamilie aus den Niederlanden mit zwei Kindern.“ (Auszug Seite 90)

Auf der Fähre von der Nordseeinsel Amrum zum Festland gibt es einen Toten. Er ist nicht an einem epileptischen Anfall gestorben, wie erst vermutet wird, sondern wurde vergiftet. Helene Christ von der Mordkommission Flensburg nimmt sich dem Fall an und muss sich für weitere Ermittlungen mit den Kollegen aus Dänemark zusammentun, denn der Tote wohnte im Nachbarland. Die Dänen haben es zur gleichen Zeit mit Brandanschlägen auf Ferienhäuser zu tun und deshalb eigentlich kein Personal frei. Doch dann ergibt sich ein Zusammenhang zwischen den beiden Fälle

Geplatzter Segeltörn

Oberkommissarin Helene Christ wohnt gemeinsam mit ihrem Freund Simon Simonsen und der Hündin Frau Sörensen am Rand von Flensburg in einem alten Haus. Die Drei segeln am liebsten mit ihrem Boot über die Gewässer und freuen sich schon auf den Urlaub in wenigen Tagen auf den schwedischen Schäreninseln, als das Boot einen Schaden erleidet und Helene den neuen Fall bekommt.

Der sechste Fall von Helene Christ

Feuer in den Dünen von H. Dieter Neumann ist bereits der sechste Fall um Helene Christ. Ein Küsten-Krimi, der vor allem in Dänemark und Flensburg spielt, die ersten Ermittlungen führen aber auch nach Amrum. Die Geschichte hat kurze Kapitel, die hauptsächlich um die Ermittlungen von Helene Christ und ihrem Kollegen Nuri Önal kreisen, einige wenige Kapitel geben allerdings auch Einblicke in die Gedanken der Täter, was dem Leser einen gewissen Vorsprung zu den Polizisten verschafft und die Handlung dadurch noch etwas spannender gestaltet.

Privat und beruflich

Helene wird in diesem Fall sehr stark eingespannt und reißt auch generell gern alle Arbeit an sich, wovon Simon gar nicht begeistert ist, also kommt es unweigerlich zum Streit. Das Private der Kommissarin bleibt aber im Hintergrund und wird eher nebenbei erwähnt, das Hauptaugenmerk bleibt auf dem Fall, was mir gut gefällt. Die Protagonistin ist mir in ihrer Handlungsweise sympathisch. Sie geht durchaus ab und zu über ihre Kompetenz und geht Risiken ein, bleibt dabei aber auf dem Boden. Sie sieht eventuelle Fehler im Nachhinein ein und gibt ihr Bestes, um es wieder geradezurücken.

Ende und gut

Die Geschichte liest sich leicht, aber durchgehend spannend. Die Polizisten müssen auch mit Rückschlägen klarkommen, es läuft also nicht immer alles glatt. Das Ende bekommt nochmal einen guten Spannungsbogen, ohne dass vom Autor zu viel gewollt wurde, auch das gefällt mir. Der Schluss bleibt eher offen, war aber zu vermuten, als die Zusammenhänge nach und nach klarer werden. Hätte ich das eigentliche Thema auf dem Klappentext gelesen, hätte ich das Buch nicht ausgesucht, aber so war es gut und ich habe es gern gelesen.

Fazit: Ein solider Küsten-Krimi, den man zwischendurch gut lesen kann, der mich aber dennoch nicht nachhaltig beeindruckt hat.

H. Dieter Neumann, Jahrgang 1949, war Offizier in der Luftwaffe der Bundeswehr und in verschiedenen internationalen Dienststellen der NATO. Anschließend arbeitete der diplomierte Finanzökonom als Vertriebsleiter und Geschäftsführer in der Versicherungswirtschaft, bevor er sich ganz aufs Schreiben verlegte. Der passionierte Segler ist verheiratet, hat zwei erwachsene Töchter und lebt in Flensburg.

 

Rezension und Foto von Andrea Köster.

Feuer in den Dünen | Erschienen am 22. August 2019 im Grafit Verlag
ISBN 978-3-89425-630-2
288 Seiten | 12.- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Jo Nesbø | Messer Bd. 12

Jo Nesbø | Messer Bd. 12

Das richtige Messer für die richtige Tätigkeit war entscheidend. Die Messer waren gut, zweckdienlich, von herausragender Qualität. Trotzdem fehlte ihnen, was Svein Finne an Messern besonders schätzte. Persönlichkeit, Seele, Magie. Bevor der groß gewachsene junge Polizist mit den störrischen Haaren alles kaputtgemacht hatte, war Svein Finne der stolze Besitzer einer stattlichen Sammlung von insgesamt sechsundzwanzig Messern gewesen. (Auszug Seite 15)

Die Rezension ist mir diesmal nicht ganz leicht gefallen. Ich bin ein großer Fan der Harry-Hole-Reihe und habe sämtliche Bände gelesen und geliebt, angefangen mit Der Fledermausmann bis zum elften Band Durst. In jenem letzten Band war Harry Hole Dozent an der Polizeihochschule und führte zusammen mit Ehefrau Rakel und Sohn Oleg nach vielen Höhen und Tiefen ein harmonisches Privatleben. Das fand ich zur Abwechslung mal ganz erfrischend, doch das holde Glück war nur von kurzer Dauer.

Harry Hole am Scheideweg

In Messer, dem zwölften Band und nur circa anderthalb Jahre später spielend, ist schon wieder alles vorbei. Harry wurde von seiner Frau rausgeschmissen, den genauen Grund erfährt man erst später. Und er ist wieder dem Alkohol verfallen, lässt sich total gehen und versinkt regelrecht in depressivem Selbstmitleid. Seinen Job als Dozent hat er verloren und arbeitet wieder in seiner alten Dienststelle, wird aber von seiner Chefin Katrine Bratt nur mit einfachen Ermittlungstätigkeiten beschäftigt. Im Laufe der zwölf Bände balancierte der schwierige Einzelgänger oft an der Grenze eines seelischen Abgrundes, aber diesmal befindet er sich endgültig auf einem Selbstzerstörungstrip. Dem wird im aktuellen Buch sehr viel Platz eingeräumt und das war teilweise wirklich schwer zu ertragen, aber ich befürchte dass es sich hierbei um eine realistische Darstellung eines alkoholkranken Menschen handelt. Ein Quartalssäufer funktioniert eine Zeitlang ganz gut und meistens auch abstinent, um dann nach einem totalen Kontrollverlust einen schlimmen Absturz zu erleiden.

Zeitgleich wird der 77-jährige Svein Finne nach langer Haftzeit entlassen. Hole war damals an seiner Verhaftung mitverantwortlich und der perverse, sadistische Serienvergewaltiger mit einer Vorliebe für Messer, schwor Harry und seiner Familie nicht nur aus diesem Grund Rache. Finne wird Der Verlobte genannt und war bekannt dafür, seine Opfer schwängern zu wollen. Er drohte den Frauen, sie umzubringen, wenn sie „sein Kind“ abtreiben wollten. Kaum entlassen, lebt er seine kranken Fantasien erneut aus und geht trotz seines fortgeschrittenen Alters sofort wieder auf die Jagd nach neuen Opfern.

Totaler Blackout

Hole wacht eines Morgens nach einer durchzechten Nacht mit blutverschmierten Klamotten und einem totalen Filmriss auf. Dann passiert etwas, was ihn endgültig aus der Bahn wirft. Einzelheiten möchte ich hier nicht spoilern, mich hat dieser Verlauf sehr geschockt und ich dachte, das kann Nesbø doch nicht machen. Aber der norwegische Autor hat keine Bedenken, den Leser zu verschrecken. So erklärte er einmal in einem Interview, dass er es nicht als seinen Job ansieht, die Erwartungen seiner Leser zu erfüllen, sondern dass ausschließlich Geschichten schreibt, die ihn selbst interessieren. Und so falsch kann er bei mittlerweile über 40 Millionen weltweit verkauften Exemplaren ja auch nicht liegen.

Messer ist ein Thriller, in dem die Gewalt deutlich weniger im Vordergrund steht als in manchen Vorgängerbänden und der sich komplett auf seinen charismatischen Protagonisten Harry Hole konzentriert, dessen Leben nun richtig aus den Fugen gerät. In einer weiteren spannenden Handlungsebene geht es um die Traumata von Soldaten eines Spezialkommandos in Afghanistan und es gibt auch ein Wiedersehen mit einigen Bekannten aus dem Harry-Hole-Kosmos, wie Kaja Solness, die Harry damals in Leopard aus der Drogenhölle Hongkongs holte.

Auch dieser Thriller ist ein düsterer Pageturner mit ständig wechselnden Erzählperspektiven, der mit vielen frappierenden Wendungen, falschen Spuren sowie melancholischer Stimmung glänzt und mit ergreifenden Emotionen überzeugt. Wenn es zum Schluss zur komplett unerwarteten aber logischen Auflösung kommt, kann man die intelligente Konstruktion nur bewundern. Wenn dann alle losen Fäden verknüpft werden, wird die Raffinesse des Plots deutlich. Selbst die sehr ausführlichen Beschreibungen über Musik haben ihre Berechtigung, denn Hole findet einen wichtigen Hinweis mitten zwischen seiner riesigen Plattensammlung, der dann sogar ihn selbst als Täter in den Fokus rückt.

Sung-mins Verdacht, dass Harry Hole im Affekt und umnachtet von Alkohol getötet hatte, war dadurch nur noch verstärkt worden. Er nahm an, dass Harry tatsächlich große Teile des Vorfalls vergessen oder verdrängt und die letzten Tage seines Lebens damit verbracht hatte, gegen sich selbst zu ermitteln. (Seite 462)

Fazit

Messer ist vielleicht der emotionalste, dramatischste Teil, für mich ein Band mit leichten Schwächen, aber für Fans der Reihe ein Muss. Nesbø zeigt sich wieder als gewiefter Meister von vertrackten Plots und rausgekommen ist ein tiefgründiger und vielschichtiger, hervorragend geschriebener Krimi der Extraklasse.

Funfact: Für seinen zerrissenen Helden Harry Hole hat Jo Nesbø die Storyline seines privaten und beruflichen Lebens schon vor Jahren festgelegt und hält sich im Groben auch an diesen Plan.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Messer | Erschienen am 27. August 2019 im Ullstein Verlag
ISBN 978-3-550-08173-6
576 Seiten | 24.- Euro
Originaltitel: Kniv
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Auch bei uns: Rezensionen zu den Jo Nesbø-Romanen Macbeth, Die Larve und Durst sowie einen Sonderbeitrag Lesung: Jo Nesbø | Blood on Snow. Das Versteck, Bericht von der Lesung in Schwerte

Joseph Incardona | Asphaltdschungel

Joseph Incardona | Asphaltdschungel

Frankreich, August, Sommer, eine Autobahn Richtung Süden. Flirrende Hitze, Stau, Schweiß, Stress, Ungeduld, Aggressivität. Kennt vermutlich jeder von uns. In diese Atmosphäre versetzt Autor Joseph Incardona nun einen perfiden, kaltblütigen Serienmörder. Einer, der junge Mädchen verschleppt, die danach nie wieder auftauchen. Doch der Reihe nach: Eine Familie auf dem Weg in den Urlaub. Die Eltern Marc und Silvie haben sich nicht viel zu sagen, Marcs Untreue lastet auf der Ehe. Ihre zwölfjährige Tochter Marie, weißes Spaghetti-Top, Hot Pants, Flipflops, sitzt ernüchtert auf der Rückbank. Essenspause an einer Raststelle, Marie darf nach draußen – „unter der Bedingung, dass du nicht zu weit weg gehst“. Dort streift sie über den Parkplatz und bleibt zufällig neben einem VW-Van stehen, weil sie eine Nachricht auf dem Smartphone erhält. Im Van sitzt Pascal, Koch des Autobahnrestaurants, der Marie eben bedient hat und auf so eine Gelegenheit nur gewartet hat.

Inzwischen arbeitet er in einer anderen Liga. Er arbeitet jetzt am Menschen.
Unsichtbar in der Masse aufgehen, immer da sein, ohne aufzufallen.
Dazu braucht es schon etwas.
Aufopferung. Verzicht. Demut. […]
Warten.
Die Ampulle mit dem Chloroform liegt auf der Platte des Ausziehtisches. (Auszug Seiten 58-59)

Dieser Pascal ist ein unscheinbarer Typ. Einer, der sich kleiner macht, sich schwächer gibt, als er tatsächlich ist. Einer, der nicht groß auffällt. Er arbeitet nun schon seit längerem an mehreren Autobahnraststätten eines Pächters. Einer der wenigen Konstanten bei viel Fluktuation unter den Mitarbeitern. Flexibel, zuverlässig, keine Gewerkschaft, so was mag der Chef. Er ist in einem Heim aufgewachsen, hatte schon damals Aggressionen, die er aber kontrollierte. Seit einem Motorradunfall mit anschließender schwieriger Operation am Gehirn ist das nicht mehr so. Er behielt zwar sein Leben, verlor aber sein Gehör, seinen Geschmacks- und Geruchssinn. Und noch etwas anderes:

„Man hatte ihn aufgeschnitten, um ihm das Böse einzupflanzen“ (Seite 16).

Zwei Mädchen hat er bereits entführt und ermordet. Marie wird die dritte sein. Doch die Leichen werden von ihm in Säure aufgelöst, die Mädchen sind offiziell verschwunden. Die Polizei hat die Zusammenhänge noch nicht erkannt. Doch diesmal wird Maries Verschwinden sehr schnell gemeldet, der Polizeiapparat hat sich für Entführungsfälle neu aufgestellt, die Maschinerie läuft schnell an. Und diesmal erkennt die leitende Kommissarin Julie Martinez die Verbindung. Diesmal wird es eng für Pascal.

Das alles könnte man zu einem Thriller zusammenrühren, doch Joseph Incardona macht es anders, macht es noir. Der Schweizer ist Autor verschiedenster Gattungen, Romane, Drehbücher,Theaterstücke, Comics. Und wie in einem Theaterstück lässt er hier die verschiedensten Personen auftreten, wechselt permanent die Perspektive. Schreibt in knappen kurzen Sätzen, stakkatohaft. Flirrend, hektisch, wie diese Atmosphäre im Roman. Die Figuren im Roman sind alle in irgendeiner Form mit den Geschehnissen verbunden, bilden ihren eigene Mikrokosmos, treffen in schicksalhaften Begegnungen zusammen.

Pierre, ein Vater eines der früheren Opfer, der seinen Glauben an die Behörden verloren und nun selbst auf die Jagd nach dem Mörder seiner Tochter Lucie geht. Seine Frau Ingrid, die sich völlig aufgegeben hat und den Schmerz in Alkohol und ungezügelter Sexualität ertränkt. Maries Eltern Marc und Sylvie, die das Verschwinden ihrer Tochter noch weiter auseinandertreibt. Pascals feister Chef Gérard, dem das Polizeiaufgebot aufgrund eigener Illegalitäten gar nicht schmeckt. Tía Sonora, eine Mexikanerin, frühere Prostituierte, die nun als Wahrsagerin an der Autobahn arbeitet und ein wenig auf die junge Lola achtet, die sich als Frau fühlt, obwohl als Mann geboren und noch ausgestattet, und sich auf den Rastplätzen prostitiuert. Julie und Thierry, die leitenden Beamten, die unter enormem Druck stehen. Und weitere, die nur kurz auftauchen. Doch alle sind vereint in einer tiefen Einsamkeit, Trauer, Niedergeschlagenheit, Ziellosigkeit. Hoffnungsvolle Momente verblassen schnell, Perspektivlosigkeit, Frust und eine unkontrollierte, schmerzhafte Sexualität schwingt in den Figuren mit.

Wir sind allein.
Als beschissene Kosmonauten treiben wir durchs Weltall.
Im Weltall hört dich niemand schreien, stand auf dem Filmplakat.
Genau das ist es. (Seite 224).

Asphaltdschungel ist einer dieser Romane, die man zunächst gar nicht so auf dem Schirm hat, die auch beim Lesen nicht ganz so bequem sind, die aber dafür umso mehr nachhallen. Der Autor kombiniert eine episodenhafte Struktur mit vielen Figuren und Perspektiven mit einem durchgehenden Handlungsstrang, der Suche nach dem Mörder Pascal. Dabei wird der Leser tief in die Düsternis der Figuren getragen. Der Roman gewann 2015 den renommierten französischen Krimipreis „Grand Prix de littérature policière“. Auf der Rückseite des Buches steht ein Zitat der französischen Zeitung Libèration: „Ein schöner Roman noir von einem besonders schwarzen Schwarz“. Dem ist nicht viel hinzuzufügen, für mich ist Asphaltdschungel einer der besten Romane des Jahres!

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Asphaltdschungel | Erschienen am 14. März 2019 im Lenos Verlag
ISBN 987-3-85787-494-9
340 Seiten | 22.- Euro
Originaltitel: Derrière les panneaux, il y a des hommes
Bibliographische Angaben & Leseprobe