Autor: Nora

Mick Herron | Down Cemetery Road

Mick Herron | Down Cemetery Road

Mick Herron ist dem Genreleser – und darüber hinaus – seit einigen Jahren natürlich ein Begriff. Mit seiner Reihe um die „Slow Horses“, einer Gruppe abgehalfteter und vom britischen Geheimdienst aufs Abstellgleis geschobener Agenten um den kauzigen Chef Jackson Lamb, die allerdings doch nicht so ineffektiv sind und dem MI5 „pain in the ass“ sind, erreichte Herron einen großen Erfolg bei Lesern und Kritikern gleichermaßen. Die Popularität der Serie stieg noch einmal an, seitdem Apple TV die Serie mit Gary Oldman in der Hauptrolle fürs Streaming adaptierte. Eine Serienverfilmung ist nun auch der Grund, warum Herrons Debütroman „Down Cemetery Road“ nach über 20 Jahren ins Deutsche übersetzt wurde. Wiederum war es Apple TV, die diesen Roman als Serie verfilmt und im Oktober veröffentlicht hat, mit Emma Thompson in der Hauptrolle als Privatdetektivin Zoë Boehm. Der Diogenes Verlag hat das Buch auch mit dem Untertitel „Zoë Boehm ermittelt in Oxford“ versehen, um damit zu unterstreichen, dass es sich hier um eine Serie mit vier Bänden handelt, die Herron bis 2009 vor seiner Slow Horses-Reihe verfasst hat. Allerdings Zoë Boehm als Hauptfigur in diesem ersten Band zu bezeichnen, wäre ein wenig übertrieben, denn eigentlich greift die Detektivin nach zwei Kurzauftritten erst im letzten Viertel des Romans so richtig in die Handlung ein. Doch der Reihe nach.

Sarah Trafford ist auf der Suche: Nach abgeschlossenem Studium lebt sie nun in einem Haus in einer guten – aber nicht sehr guten – Gegend von Oxford, ihr Mann Mark macht irgendwas im Bereich Finanzen, bringt gutes Geld nach Hause, während sie noch nicht so recht den nächsten Schritt ins Berufsleben geschafft hat. Es gibt keine Kinder, sie will auch (noch) gar keine. Sie vertreibt sich irgendwie die Zeit, mit Hausputz oder so. Im Studium hingegen war Sarah Tucker wild und ungestüm – bis zu einem schweren Unfall unter Drogeneinfluss. „BHS – Boring Housewife Syndrom“, so bringt es in der Eingangsszene Gerard Inchon, ein unangenehmer Geschäftspartner ihres Mannes, dann doch irgendwie auf den Punkt. Zu Beginn hat Mark Inchon samt Partnerin zum Essen nach Hause eingeladen, um die Geschäftsbeziehung möglichst zu vertiefen. Sarah darf auch jemanden dazuladen, ihre Wahl fällt auf ihre eher linksalternative Freundin Wigwam und ihren ähnlich schluffigen neuen Freund Rufus. Ein gefundenes Fressen für den konservativ-zynischen Inchon – und der Leser darf sich an einem höchst vergnüglichen Anfangskapitel ergötzen. Doch noch etwas anderes passiert während des Dinners: In der Nachbarschaft gibt es eine Explosion mit zwei Toten, ein kleines Mädchen hat es überlebt.

Sarah ist sofort fasziniert und interessiert. Sie meint sich an das Mädchen Dinah zu erinnern. Ihr kommt die Explosion seltsam vor, sie findet, dass das allgemeine Interesse an der Sache schnell heruntergespielt wird. Am Unglücksort glaubt sie einen verdächtigen Mann gesehen zu haben. Bei der Polizei wird ihr nichts über den Verbleib von Dinah verraten und so reift in ihr der Entschluss, Dinah unbedingt finden zu müssen. Der Leser fragt sich schon irgendwie warum, aber da geht es der Hauptfigur nicht anders. Dennoch bleibt sie dran und engagiert sogar einen Privatdetektiv – Joe Silvermann, Partner von Zoë Boehm. Und selbstverständlich steckt hinter der Explosion sehr viel mehr, und ohne groß spoilern zu wollen, schlittert Sarah in eine Geheimdienstoperation, in der manche ungelegene Beweise und Zeugen im Zusammenhang mit dem Irakkrieg beseitigt werden sollen.

Die Detektei war zwischen einem Pub und einem Zeitungskiosk eingezwängt, und obwohl die Anzeige in den Gelben Seiten „Hightech“ versprochen hatte, hielt dieses Versprechen nicht mal bis zur Türklingel. (Auszug E-Book Pos. 866)

Obwohl Mick Herron hier im Jahr 2002 eine Reihe mit einer Oxforder Privatdetektivin einführt, wirkt der Roman schon als kleine Blaupause für den später folgenden „Slow Horses“-Kosmos. Auch hier gibt es schmutzige Geheimdienstaktionen und es werden einige sehr seltsame Figuren aus dem Geheimdienstmilieu eingeführt. Allerdings bleibt der Autor eng bei seiner Hauptfigur Sarah, die völlig konfus sich in eine Sache einmischt, die ein paar Nummern zu groß für sie ist, aber – und das nötigt dem Leser dann doch Respekt ab – sie zieht es durch (wenn auch irgendwann dann doch Zoë Boehm so richtig in die Geschichte einsteigt). Irgendwann wird Sarah selbst zur Gejagten, eine wilde Flucht mit einem unerwarteten Begleiter beginnt und dennoch bleibt die Suche nach dem verschwundenen Kind immer präsent.

„Down Cemetery Road“ ist auch in der heutigen Betrachtung nach Kenntnis der „Slow Horses“-Romane ein bemerkenswerter Debütroman. Mick Herron entwickelt aus der gediegenen Oxford- und Hausfrauen-Atmosphäre einen temporeichen und intelligenten Geheimdiensthriller. Dabei ist auch hier schon der hervorragende literarische Stil Herrons durchsetzt mit typisch britischem Humor zu beobachten. Insofern ein echter Gewinn, dass es dieser Roman nach 23 Jahre zu einer gelungenen deutschen Übersetzung durch Stefanie Schäfer geschafft hat. Und vielleicht taucht Zoë Boehm in den weiteren Bänden dann auch etwas häufiger auf.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Down Cemetery Road | Erschienen am 22.10.2025 im Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-30115-1
560 Seiten | 19,- €
Originaltitel: Down Cemetery Road | Übersetzung aus dem Englischen von Stefanie Schäfer
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu Mick Herrons Roman „Slow Horses“

Jake Lamar | Viper’s Dream

Jake Lamar | Viper’s Dream

„Also Viper“, sagte die Baroness, „was sind deine drei Wünsche?“. (Auszug S. 9)

Mit dieser ungewöhnlichen Frage beginnt dieser historische Jazz-/Gangsterroman und setzt stilistisch und strukturell die Vorgabe für diesen vom Umfang zwar schmalen, aber inhaltlich sehr prallen Kriminalroman. Die Frage stellt die Baroness Pannonica de Koenigswarter, eine reiche, adlige Europäerin und Mäzenin der New Yorker Jazzszene der 1950er bis 1980er Jahre, an Clyde Morton, genannt Viper, einflussreicher Gangster und Geschäftsmann in Harlem und eng mit der Jazzszene verbandelt. Wir sind im November 1961 im sogenannten Cathouse, einem Refugium der Jazzszene und hunderter Katzen in Newark. Wir erfahren auf den ersten Seiten, dass Viper vor Kurzem seinen dritten Mord begangen hat und sich ins Cathouse zurückgezogen hat, anstatt die Flucht zu ergreifen, wie ihm sein Geschäftspartner und Kontaktmann Detective Carney beim NYPD nahegelegt hat. Stattdessen raucht Viper Marihuana, wie die meisten im Cathouse, und grübelt über sein Leben. Die Baroness stellt ihm diese Frage und Viper wird diese im Laufe des Buches beantworten. Allerdings stellt die Baroness am Ende fest:

„…du wünscht dir nichts, du bereust.“ „Wo ist der Unterschied?“, sagte Viper. „Gute Nacht, Nica.“ (Auszug S.201)

Über einen unbekannten Erzähler wird nun abwechselnd aus dem Cathouse 1961 und von der Vergangenheit von Clyde Morton alias Viper erzählt. Clyde beschließt 1936 als junger Mann Alabama und seine schwangere Freundin Hals über Kopf zu verlassen, weil ihm sein Onkel in den Kopf gesetzt hat, er könne in New York als Trompeter Geld verdienen. In Harlem angekommen betritt er den nächsten Nachtclub und erhält sofort die Rückmeldung, dass er sich eine Karriere als Musiker abschminken kann. Doch er wird quasi direkt in die Welt des Marihuanas eingeführt, daher erhält Clyde vom zischenden Geräusch des Zugs am Joint auch den Spitznamen Viper. Wenig später wird Viper dem jüdischen Geschäftsmann, Clubbesitzer und Drogenhändler Orlinsky vorgestellt, der in seiner Organisation auch direkt einen Platz für ihn findet.

Clyde war begeistert. Fühlte sich mächtig. Noch nie in seinem Leben hatte er einem Weißen ins Gesicht geschlagen. Falls das der Job war, für den ihn Mr. O angeheuert hatte… daran konnte er sich gewöhnen. Und noch etwas kam hinzu. Nach langer Zeit hatte Clyde Morton sich endlich für den Mord an seinem Vater gerächt. (Auszug S. 43)

Und so begleiten wir Clyde Morton, wie er sich in der Gangster- und Jazzszene in Harlem bewegt und sein Einfluss immer weiterwächst, bis er eines Tages mit der richtigen Mischung aus Geschäftssinn und Härte an der Spitze der Nahrungskette angekommen und zum wichtigsten Händler von Dope aufgestiegen ist. Doch die Luft ist rau in Harlem, zudem kommt der Krieg dazwischen und außerdem gibt es da noch diese unglaublich attraktive Jazzsängerin Yolanda, Vipers große, aber äußerst tragisch verlaufende Liebe.

Autor Jake Lamar hatte im letzten Jahr seinen Durchbruch im deutschsprachigen Raum, als er mit „Das schwarze Chamäleon“ den deutschen Krimipreis gewann. Lamar lebt seit 1993 in Paris und ist dort Dozent für Kreatives Schreiben. „Viper’s Dream“ erschien tatsächlich zunächst 2021 in der französischen Übersetzung, erst zwei Jahre später im Original und gewann 2024 den Dagger für den besten historischen Kriminalroman.

Bei Jazz bin ich wahrlich kein Experte. Und dennoch war ich sehr begeistert, wie Lamar hier eine Geschichte der New Yorker Jazzszene der 1930er bis Anfang der 1960er Jahre im einem Gangsterroman erzählt. Immer wieder betreten ganz natürlich Jazzgrößen wie Miles Davis, Charlie Parker und Thelonious Monk die Szene. Großes Thema ist unter anderem die Drogenszene rund um die Jazzmusiker und die Bedrohung des Jazz durch das aufkommende Heroin. Viper versucht mit aller Macht die Verbreitung dieses tödlichen Gifts in seinem Revier zu verhindern. Vergeblich.

Und auch die Anfangsfrage von Baroness „Nica“ de Koenigswarter hat einen historischen Hintergrund. Tatsächlich stellte die Baroness den Jazzkünstlern in den 1960ern diese Frage mit den drei Wünschen, verwahrte ihre Antworten und schoss zudem zahlreiche Polaroids, um diese Jahre zu dokumentieren. Zu ihren Lebzeiten wurde das Projekt allerdings nicht mehr umgesetzt. Erst 2006 veröffentlichte ihre Großnichte die Dokumentation „Die Jazzmusiker und ihre drei Wünsche“.

„Viper’s Dream“ ist ein historischer Gangsterroman, in dem der Autor sowohl visuell als auch musikalisch den Schauplatz Harlem auferstehen lässt. Jake Lamar hat eine umfangreiche Playlist am Ende des Romans ergänzt, die in den einschlägigen Streamingplattformen ebenfalls gefunden werden kann. Dabei gerät die Verbindung zwischen Krimi und Jazz niemals gezwungen, sondern wirkt sehr organisch. Dieser Kriminalroman ist eine sehr lesenswerte Mischung aus flirrendem Jazz, melancholischer Nabelschau eines grübelnden Gangsters und hartgesottener Erzählung von den rauen Straßen von Harlem. Große Leseempfehlung.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Viper‘s Dream | Erschienen am 03.09.2025 bei der Edition Nautilus
ISBN 987-3-96054-470-8
205 Seiten | 20,- €
Originaltitel: Viper’s Dream | Übersetzung aus dem Englischen von Robert Brack
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Susanne Tägder | Die Farbe des Schweigens (Band 2)

Susanne Tägder | Die Farbe des Schweigens (Band 2)

Plötzlich überkommt ihn ein solches Gefühl von inszenierter Normalität, dass er überzeugt ist, Matti oder jemand, der aussieht wie Matti, werde im nächsten Moment von der Angerstraße kommend auf die Wallstraße einbiegen, und er beginnt bereits, mit den Augen die Gehwege nach einem schmalen Jungen im wattierten Anorak abzusuchen. (Auszug Seite 30)

An einem dunklen Winterabend 1992 verschwindet der elfjährige Matti Beck auf dem kurzen Weg zum Einkaufen. Hauptkommissar Arno Groth, der erst vor ein paar Monaten von Hamburg nach Wechtershagen in Mecklenburg gewechselt ist, sucht gemeinsam mit seinem kleinen Team fieberhaft nach dem Jungen. Allerdings erfolglos! In der Siedlung ist es schwer für die Beamten, da keiner etwas gesehen haben will und die Bewohner den Polizisten mit Misstrauen begegnen. Auch kann Groth nicht mehr auf seinen Partner Gerstacker setzen, der aufgrund verschwiegener Kontakte zur Stasi suspendiert wurde.

Das Mönkebergviertel ist eine Plattenbausiedlung mit Jugendclub, Kleingärten, einer kleinen Kaufhalle und den Schleichwegen, auf denen die Kinder relativ unbeobachtet unterwegs sind. Erst nach ein paar Tagen wird die Leiche von Matti in einem Keller eines offiziell unbewohnten Wohnblocks gefunden. Der Verdacht fällt auf einen stadtbekannten Alkoholiker, bei dem die rote Einkaufstasche des Jungen gefunden wird. Obwohl viele Indizien gegen ihn sprechen, ist für Kommissar Groth die Lösung nicht stimmig. Er war bei den Ermittlungen auf einen bisher ungelösten Mordfall gestoßen, der sich bereits vor sechs Jahren ereignete. Als sein Vorgesetzter geht und Groth Interimsleiter der Kriminalinspektion wird, gründet er die Einsatztruppe „Nachtschatten“ und holt seinen alten Kollegen Gerstacker als externen Ermittler an Bord, da er als Einzige mit dem alten Fall vertraut ist. Parallel dazu lernt man die Taxifahrerin Ina kennen, die hier mit Sohn Benno einen Neuanfang wagt. Sie ist vor ihrem gewalttätigen Mann geflüchtet und geht deshalb viel zu spät mit ihren Beobachtungen zur Polizei.

Während er vorne auf der Straße steht, passieren die Dinge hinten in den Höfen und auf den Wegen, die er nicht kennt. Hat er sie nicht gesehen, all die Zeichen der Zeit, die drei Buchstaben auf den Handknöcheln von Elfjährigen? Er steht hier, und die Rechten treffen sich fröhlich im Kutter. (Auszug Seite 306)

Schon Susanne Tägders gefeierter Debütroman „Das Schweigen des Wassers“ spielte kurz nach der Wende in der fiktiven Stadt Wechtershagen in Ostdeutschland. Mit „Die Farbe des Schattens“ geht es nahtlos weiter mit Kommissar Groth, der hier aufgewachsen ist, aber über 20 Jahre in Hamburg lebte und nun als Aufbauhelfer Ost agieren soll. Eine Entscheidung, die er nicht ganz freiwillig getroffen hat, aber nach einem Zusammenbruch aufgrund des Unfalltods seiner Tochter möchte er sich wieder in den Polizeidienst integrieren. Er fühlt sich immer noch nicht wirklich angekommen sondern als Fremdkörper, als Eindringling aus dem Westen.

Die Handlung spielt vor allem in einem Brennpunktbezirk namens Mönkebergviertel. Viele, die in der Plattenbausiedlung leben, die typische Strukturen eines beginnenden Verfalls aufweist, haben in der Folge der Wende ihren Job verloren. Aufgrund der Perspektivlosigkeit sehen sich die Menschen als Verlierer der Wiedervereinigung, in den Familien herrscht Hoffnungslosigkeit. Besonders die Jugendlichen hadern mit ihrer Situation, treffen sich im Jugendclub, der allen politischen Einstellungen offen steht und sind von den rechtsradikalen Aktivitäten der Älteren fasziniert.

Tägder schreibt sehr ungeschönt und versteht es, die Atmosphäre der früheren 90er Jahre, die nicht unbedingt von Freude und Aufbruchsstimmung sondern eher von Sorgen und Zukunftsängsten geprägt war, einzufangen. Die düstere Stimmung im dunklen, kalten Januar hat mich sofort gepackt und ich konnte gut in die Geschichte eintauchen. Ein großer Pluspunkt ist die Figurenzeichnung. Die Autorin trifft mit ihren ausgefeilten Charakteren, ob Ermittler, Zeugen, Kinder und Erwachsene, stets den richtigen Ton. Die Hilflosigkeit der Ermittler aufgrund ständiger Rückschläge sowie die Resignation der Bewohner waren direkt greifbar und auch die Ablehnung gegen die Polizei wird gut beschrieben. Die mühsame Arbeit der Kriminalpolizei wird akribisch und glaubhaft geschildert. Wir sind immer ganz nah bei den Verhören und Konferenzen der Polizei. Äußerst gelungen ist auch die Aktualität des Kriminalromans, der zwar kurz nach der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland spielt aber viele Anknüpfungspunkte, zum Beispiel die zunehmende Radikalisierung der Kinder und Jugendlichen, an die Gegenwart aufweist.

„Die Farbe des Schattens“ ist ein eher ruhiger Krimi, der von der psychologischen Spannung, der mühevollen Polizeiarbeit und auch der emotionalen Belastung, die so ein Mordfall mit sich bringt, lebt. Obwohl der Grundton eher bedacht und melancholisch ist, entwickelt die Geschichte, die nicht nur ein Kriminal-, sondern auch ein Gesellschaftsroman ist, einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Er gibt die zerrissene Stimmung der Wendejahre gekonnt wieder und bietet mit hoher Sprachkunst ein literarisch ansprechendes Lesevergnügen.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Die Farbe des Schattens | Erschienen am 13.09.2025 im Tropen Verlag
ISBN 978-3-60850-273-2
336 Seiten | 17,- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu Band 1 „Das Schweigen des Wassers“

Rezensions-Doppel Philippinen

Rezensions-Doppel Philippinen

Die Philippinen sind in diesem Jahr das Gastland der Frankfurter Buchmesse und wir hatten hier auf dem Blog eine Zeit lang eine Tradition, zur Buchmesse dann auch ein paar Krimis aus oder über das Gastland zu präsentieren. Das wollte ich dieses Jahr gerne wieder aufgreifen, war allerdings nicht so einfach, denn der bevölkerungsreiche asiatische Inselstaat ist literarisch international, was Übersetzungen betrifft, eher unterrepräsentiert und im Krimigenre sowieso. Letztlich habe ich auf meinem umfangreichen SuB aber noch etwas gefunden. Zum einen ein erst von kurzem übersetztes Werk des in seiner Heimat sehr erfolgreichen Autors Jose Dalisay und zum anderen ein Krimi aus den 1980ern mit Schauplatz Manila des australischen Autors William Marshall.

Jose Dalisay | Last Call Manila
Ein Sarg trifft am Flughafen Manila ein. Eine tote philippinische Gastarbeiterin in Saudi-Arabien. Das Schild sagt, in ihm liegt „Aurora V. Cabahug“. Doch der Polizist Walter Zamora in der Provinzstadt Paez, der ein Telegramm erhält, um die Angehörigen zu informieren, weiß sofort: Das kann nicht stimmen. Denn Aurora, genannt Rory, ist die Sängerin und Hauptattraktion im „Flame Tree“, im örtlichen Nachtclub. Dort hat er sie erst gestern quicklebendig gesehen.

Und so macht sich Walter auf, um hier Licht ins Dunkle zu bringen – auch wenn ihm nur bedingt gelingt. Irgendwann machen sich Walter und Rory auf nach Manila, um den Sarg abzuholen und dabei geschehen weitere unvorhergesehene Dinge. Währenddessen wird in Rückblicken die Geschichte von Soledad erzählt, Rorys Schwester, die mit dem Pass ihrer Schwester als Arbeitskraft nach Saudi-Arabien gegangen und nun in einem Sarg zurückgekommen ist.

Das war es, worum es in diesem Land wirklich ging: Distrikte, Grenzen, Absperrungen, die dich daran erinnerten, wo du hingehörtest und wo du standest. Diese Dinge zu vergessen, war der Anfang vom Ende, und Walter hatte nicht vor, noch einmal diesen Weg zu gehen, Besonnenheit war nun seine Parole, Besonnenheit und Umsicht, das Vermeiden von unnötigen Konflikten – von denen es, Gott wusste das am besten, mehr als genug gab in Walters Welt. (Auszug Seite 88)

Autor Jose Dalisay ist in seiner Heimat einer der bekanntesten Autoren und Herausgeber und schrieb diesen Roman bereits 2008. 2023 erschien „Last Call Manila“ in deutscher Übersetzung, laut Tobias Gohlis, Chefjuror der Krimibestenliste, der vermutlich erste übersetzte philippinische Kriminalroman. Obwohl man den Begriff schon weit dehnen muss, zwar kommt ein Kriminalbeamter, eine Leiche und eine Reihe von Verbrechen vor, aber ansonsten geht es hier eher nicht genretypisch zu.

Aber das soll hier nicht als Kritik gemeint sein. Lakonisch und mit schwarzem Humor erzählt der Autor über den schwierigen Alltag, vor allem über seine Hauptfiguren. Walter ist ein besonnener, abgestumpfter Polizist, der sich möglichst konfliktfrei durchs Leben manövrieren will. Rory ist die junge Frau mit Talent und Träumen, die es aber bisher nur in den Nachtclub ihrer Heimatstadt geschafft hat. Und Soledad erzählt vom unglaublich entbehrungsreichen Leben der Filipinos, die im Ausland harte Arbeit verrichten, um die Daheimgebliebenen zu versorgen. Mit möglichem bösem Ende inklusive. Jose Dalisay hat hier einen kurzweiligen Roman verfasst, der interessante Einblicke in die philippinische Gesellschaft bietet.

William Marshall | Manila Bay
Lieutenant Felix Elizalde von der Manila Metro Police muss in einem schwierigen Mordfall ermitteln. Während eines Hahnenkampfes mit dem bekannten Champion „Battling Mendez“, dem wohl bekanntesten Hahn der Philippinen und ein lukrativer Werbeträger, hat ein Unbekannter den Kampfleiter und Buchmacher im Ring erschossen. Trotz hunderter Zeugen gibt es zwar eine Beschreibung, aber keine klaren Hinweise auf die Identität des Täters. Der Tote gehörte zu einem Konsortium, dem „Battling Mendez“ gehörte. Hierzu zählt auch der Bruder des Toten, der sich bei einem Telefonat mit Elizalde seltsam verhält. Doch bevor Elizalde ihn aufsuchen kann, wird auch der Bruder durch eine Granate getötet, die auf seine Wohnung abgefeuert wird, mehrere Passanten sind ebenfalls unter den Opfern. Elizalde vermutet, dass noch weitere Personen in Gefahr sind und dass es mit der Verbindung zu „Mendez“ zu tun hat. Doch das Firmengeflecht rund um diesen lukrativen Hahn ist schwer zu durchschauen und wird auch von anderer Seite gut geschützt.

Wie üblich war der uninteressanteste Teil an einem Verbrechen in Manila das Verbrechen selbst. Wahrhaft faszinierend war es, wie sich die Zeugen in Luft auflösten, sobald etwas passierte, und nie wieder gesehen wurden. (Auszug S. 30)

Währenddessen haben Elizaldes Untergebene Sergeant Baptiste Bontoc und Detective Sergeant Jesus-Vicente Ambrosio zwei Spezialaufgaben. Während Bontoc abkommandiert wurde, um vermeintlich japanischen Grabräuber in einem Dinosaurierpark, unter dem noch Kriegsgräber aus dem zweiten Weltkrieg vermutet werden, aufzuspüren, mischt sich Ambrosio unter die Taxifahrenden Manilas, denn es gibt einen Räuber, der mit Hilfe von Stinkbomben der Durianfrucht Taxis ausraubt.

Diese beiden Episoden, die sich regelmäßig mit der Mordserie, die Elizalde bearbeitet, ablösen, sorgen für Exzentrik und Humor in diesem Kriminalroman, der im Original bereits 1983 erschien. Autor William Marshall, Australier, aber Kosmopolit, schrieb vor allem eine erfolgreiche Reihe von Krimis mit Schauplatz Hongkong, aber eben auch zwei Krimis über Manila. Marshall sorgt durch die mehreren Plotstränge für ein hohes Erzähltempo und viel Abwechslung, schafft es aber zum Ende hin, die beiden Stränge um Bontoc und Ambrosio so zu beenden, dass danach alle Beteiligten zum Showdown des Hauptplots zusammenkommen.

„Manila Bay“ ist aktuell leider vergriffen und nur noch antiquarisch erhältlich, ist aber auch heute noch ein absolut lesenswerter Krimi, der letztlich einen klassischen Plot über Korruption und Rache enthält, aber trotz seines hohen Tempos und der schnellen Schnitte interessante Geschichten und Einblicke in die philippinische Gesellschaft bereithält.

 

Rezensionen und Foto von Gunnar Wolters.

Last Call Manila | Erschienen am 14.02.2023 im Transit Verlag
ISBN 978-3-88747-399-0
210 Seiten | 22,- €
Die gelesene Ausgabe erschien als Lizenzausgabe bei der Büchergilde Gutenberg
Originaltitel: Soledad’s Sister | Übersetzung aus dem Englischen von Nico Fröba
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Wertung: 3,5 von 5

Manila Bay | Erschienen am 07.09.2000 im Unionsverlag
ISBN: 978-3-293-20190-3;
288 Seiten | nur noch antiquarisch erhältlich
Originaltitel: Manila Bay | Übersetzung aus dem Englischen von Anke Caroline Burger
Bibliografische Angaben
Wertung: 4 von 5

Harlan Coben | In tiefster Nacht

Harlan Coben | In tiefster Nacht

Sami Kierce, ehemaliger Detective beim Morddezernat des NYPD gibt an der Abendschule Kriminologie-Kurse. Geschockt entdeckt er eines Abends ein ihm vertrautes Gesicht unter seinen Schülern. Anna, ein Urlaubsflirt, die er vor 22 Jahren in Spanien kennenlernte und die er eigentlich für tot hielt.

Da sehe ich Anna. Ich halte inne, blinzle. Fast hätte ich den Kopf geschüttelt, um die Spinnweben loszuwerden. Ich weiß, dass das unmöglich ist, daher reagiere ich einige Augenblicke lang praktisch gar nicht. Ich will warten bis der Moment vorbei ist. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich verstorbene Menschen sehe. (Auszug Seite 28/29)

Der Prolog schildert die damaligen, folgenschweren Ereignisse. 2003 ist Sami 21 Jahre jung und will nach College-Abschluss und vor dem Studium noch mit Rucksack und Freunden quer durch Europa reisen. An der spanischen Costa del Sol lernt er in einem Club die bezaubernde Anna kennen und verliebt sich Hals über Kopf. Er lässt die Kumpels weiterziehen und verbringt berauschende Tage und Nächte mit Anna in Màlaga. Bis zu jenem alptraumhaften Morgen, als er nach einer Partynacht mit dröhnendem Schädel und einem Messer in der Hand aufwacht, neben ihm die blutverschmierte Leiche von Anna. Sami meldet sich bei der Polizei, doch bei der Rückkehr zum Tatort ist der Leichnam verschwunden. Die schnelle Flucht aus dem Land schien für den jungen Mann pakistanischer Herkunft die einzige Option.

Dieses Ereignis warf den jungen Mann völlig aus der Bahn, da er sich für ein Verbrechen schuldig hält, dessen Ablauf er sich nicht vollständig erklären kann. Das geplante Medizinstudium hat er geschmissen und stattdessen eine Laufbahn beim NYPD eingeschlagen. Vom Polizeidienst wurde er inzwischen suspendiert, da seine Handlungen oft zu impulsiv und oft nicht regelkonform waren. Besonders als seine damalige, ebenfalls bei der Polizei arbeitende Verlobte Nicole von einem Verbrecher getötet wird, wurde ihm sein übermäßiger Alkoholgenuss fast zum Verhängnis. Inzwischen hat er sich gefangen, ist glücklich mit Molly verheiratet und Vater eines Sohnes. Er hält sich mit Gelegenheitsjobs für eine renommierte Anwaltskanzlei über Wasser und unterrichtet als Dozent an der „Academy Night Adult School“.

Sami setzt alles daran, die mysteriöse Frau zu finden, um zu erfahren, was in der verhängnisvollen Nacht in Spanien wirklich geschah. Dabei spannt er einige seiner Seminarteilnehmer ein, die ihn gerne unterstützen. Bei seinen Nachforschungen stößt er auf die schwerreiche Familie Belmond, dessen Tochter Viktoria vor Jahren nach der Silvesterparty 1999 verschwand und nach ihrem Auftauchen keinerlei Erinnerung an die Zeit ihres Verschwindens hat. Zur gleichen Zeit wird der verurteilte Mörder seiner damaligen Verlobten wegen eines Formfehler Kierces vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Ted Grayson hatte immer seine Unschuld beteuert und verlangt, dass der Fall neu aufgerollt wird.

Die Geschichte wird aus Sami Kierce Perspektive in der Ich-Form erzählt. Auch weil er die Leser oft direkt anspricht, kommt man dem ambivalenten Protagonisten mit seinen Widersprüchen, Zweifeln und moralischen Konflikten sehr nah. Während Sami Kierce sehr gut ausgearbeitet ist, bleiben andere Charaktere wie seine Ehefrau Molly eher blass. Die Idee, seine Kursteilnehmer an den Ermittlungsarbeiten zu beteiligen und das auch noch erfolgreich, ist natürlich sehr unrealistisch, jedoch auch ausgesprochen unterhaltsam. Dafür sorgt die Gruppe aus Hobbydetektiven, Rentnerinnen und Podcasterinnen, die an seinem Seminar „No shit, Sherlock“ teilnehmen, für ein wenig Komik und Leichtigkeit. Überhaupt ist der Ton trotz der dramatischen Geschichte oft sarkastisch und mit trockenem Humor behaftet.

Etwas zwiespältig fand ich die Parallelhandlung um den entlassenen Straftäter und ich befürchtete erst, Coben macht mit der ermordeten Verlobten und ihren Täter Ted Grayson sowie der Entführungsgeschichte der steinreichen Viktoria Belmond zu viele Töpfe auf. Mit seinem Talent für packende Spannung schafft es der amerikanische Autor jedoch sehr souverän eine Geschichte mit gekonnter Raffinesse zu kreieren. Die Verknüpfungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart schaffen eine dichte Dramaturgie. Stilistisch hält Coben sich an einen klaren, schnörkellosen Ton. Die Spannung wird durch eine Reihe überraschender Twists hochgehalten und ja auch einige konstruierter Zufälle im Plot, ohne dass die Geschichte wohl nicht funktionieren würde.

Ich hatte tatsächlich noch nichts von Harlan Coben gelesen, dabei gehört der amerikanische Schriftsteller weltweit zu den bekanntesten und erfolgreichsten Thrillerautoren seiner Generation. Als erster Autor gewann der ehemalige Politikwissenschaftler die drei bedeutendsten amerikanischen Krimipreise. Zahlreiche seiner Romane wurden als Miniserien verfilmt. Dadurch wurde ich auf ihn aufmerksam, interessanterweise taucht die Figur des Detektives Sami Kierce auch in dem Thriller „Fool me once“, deutscher Titel „In ewiger Schuld“ auf, den ich 2024 auf Netflix gesehen habe. Der Thriller hat mich mit viel Tempo bestens unterhalten.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

In tiefster Nacht | Erschienen am 11. Juni 2025 im Goldmann Verlag
ISBN 978-3-44220-687-2
448 Seiten | 17,– Euro
Originaltitel: Nobody‘s Fool | Übersetzung aus dem Englischen von Gunnar Kwisinski und Friedo Leschke
Bibliografische Angaben & Leseprobe