Monat: Februar 2024

Stephen King | Holly

Stephen King | Holly

Holly Gibney, Privatermittlerin und Inhaberin der Detektei Finders Keepers bekommt den Auftrag, eine vermisste junge Frau zu finden. Penny Dahl, die Mutter, hat ihre Tochter Bonnie seit drei Wochen nicht mehr gesehen, die Polizei ist wegen der anhaltenden Corona-Pandemie überlastet. Holly beginnt ohne ihren Partner, den an Corona erkrankten ehemaligen Polizistin Pete Huntley, mit den Ermittlungen. Sie recherchiert in der Nähe des Ortes, an dem Bonnie zuletzt gesehen wurde und an dem nur ihr Fahrrad gefunden wurde. Am Sattel klebte lediglich ein Zettel: „Ich habe genug“. Holly befragt Zeugen, findet Hinweise und stößt in der Gegend auf weitere Vermisstenfälle in den letzten Jahren, welche ein ähnliches Muster aufweisen. Beweisen kann sie es noch nicht, weswegen sie auch erst mal die Polizei aus dem Spiel lässt und den Großteil der Ermittlungen allein erledigt.

Sie weiß, wer sie beide sind und dass Roddy und Em sie nicht gehen lassen können, weil man sie sonst wegen Entführung verhaften würde (was nur einer von vielen Anklagepunkten wäre), aber trotzdem hat sie weder zu verhandeln versucht noch gebettelt. Nur dieser Hungerstreik. Wie sie Em gesagt hat, würde sie breitwillig einen Salat essen, aber das kommt absolut nicht infrage. Ein Salat, ob mit oder ohne Dressing, ist kein Sakrament. Fleisch ist ein Sakrament. Leber ist ein Sakrament. (Auszug Seite 83)

Als Leser*in weiß man allerdings von Anfang an, was passiert ist. Denn jedes zweite Kapitel des 630 Seiten starken Romans ist aus der Sicht eines bereits emeritierten Professorenpaares geschrieben. Emily und Rodney Harris sind ein altes Ehepaar, als Akademiker gehören sie der bürgerlichen Oberschicht an. Miteinander gehen sie sehr liebevoll um. Aber die durchgeknallte Professorin für Englische Literatur und der Biowissenschaftler sind Rassisten und homophob. Sie geben sich als hilflose alte Menschen, die ein Problem mit dem Rollstuhl haben. Gutmütige Helfende finden sich bald im Keller der Harris in einem Stahlkäfig wieder. Der Autor macht von Anfang an klar, um was es geht. Ich möchte das aber hier nicht spoilern. Die Entführungen der Opfer spielen sich immer wieder in der gleichen Weise ab, es gibt keine Überraschungen, keine Twists.

„Holly“ ist bereits der sechste Roman, in dem die Protagonistin Holly Gibney vorkommt. Wir begegneten ihr zuerst 2014 in „Mr. Mercedes“ als beliebte Nebenfigur. Stephen King scheint sich in die eigentlich als schrullige Statistin gedachte Figur verliebt zu haben. Nach der gesamten Bill-Hodges-Trilogie hatte sie Auftritte in „Der Outsider“ sowie in dem Kurzgeschichten-Band „Blutige Nachrichten“. Jetzt ist die Neurotikerin mit Zwangsstörungen und Marotten die Hauptfigur in einem Crime-Thriller, der ganz ohne übernatürliche Elemente auskommt. Dabei befindet sie sich in ihrer Spleenigkeit und ihren Verhaltensauffälligkeiten in guter alter Detektivtradition. In dieser klassischen Ermittlergeschichte baut sich der Schrecken allmählich auf, die Spannung entsteht, zu verfolgen, wie Holly Spuren findet und die ganze Dimension des Grauens erkennt.

Stephen King glänzt auch hier wieder mit seinen schriftstellerischen Qualitäten, findet in knappen Worten beeindruckend plastische Bilder in vielen stimmigen Passagen und hat seine Charaktere immer fest im Blick. Was ich nicht so gelungen fand, war das simplifizierte Bild von Gut und Böse. Seine Welt ist einfach strukturiert ohne jegliche Grautöne. Wenig subtil gibt es die Covidleugner, die Trump-Wähler, die alle rassistisch oder zumindest dumm sind. Dagegen die Guten, die mindestens doppelt geimpft sind und ständig Maske tragen und Körperkontakte vermeiden.

Der amerikanische Autor hat den Roman 2021 während des Lockdowns geschrieben und deshalb fehlt auch nicht der für King typische Blick aufs Weltgeschehen. Die Handlung spielt sich während der Pandemie ab, dominiert jedes Kapitel und thematisiert auch die tiefen Gräben zwischen Impfgegnern und Befürwortern. Das muss man mögen, mich hat es nicht groß gestört, es war vielleicht noch zu früh. Die Menschen begrüßen sich mit Ellbogencheck, stellen sich mit Namen vor und mit welchen Impfstoff sie versehen sind. Hollys Mutter, auch eine Corona-Leugnerin ist an Covid verstorben und der Roman beginnt mit ihrer Beerdigung in Form einer Zoom-Konferenz.

Dann gibt es noch eine Nebenhandlung, in der die junge Barbara Robinson ihren Weg von der unbekannten Verfasserin von Gedichten zur Preisträgerin amerikanischer Lyrik macht, während ihr Bruder Jerome zeitgleich zum Bestsellerautor aufsteigt. Dieses rührende Künstlermärchen war nicht nur dramaturgisch total entbehrlich sondern auch teilweise sehr kitschig garniert mit Phrasen. Und was ist eigentlich mit „Show, don’t tell“? Die Analogie zu Amanda Gorman, um nur ein Beispiel zu nennen, wird selbst angesprochen, ohne dass wir diese selbst ziehen können. Als wenn King diese Schlussfolgerungen seinen Leser*innen nicht zutraut. 2024 soll tatsächlich der nächste Roman erscheinen, wieder mit Holly Gibney und ihrer Gang.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Holly | Erschienen am 20.09.2023 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-45327-433-4
640 Seiten | 28,- €
Originaltitel: Holly | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Romanen von Stephen King auf Kaliber.17

Les Edgerton | Primat des Überlebens

Les Edgerton | Primat des Überlebens

Das Wörtchen „Noir“ wird manchmal dann doch im Genre etwas inflationär gebraucht, leider auch von mir. Doch nicht alle Romane mit permanentem Nieselregen in heruntergekommenen Großstadtkulissen, in denen für die Hauptfigur ein paar Dinge schiefgehen, sind gleich ein Noir. Man sollte doch etwas engere Maßstäbe anlegen, doch wie genau definiert man „noir“? Im (übrigens sehr zu empfehlenden) Podcast „Abweichendes Verhalten“ (von Sonja Hartl) zitiert Pulp Master-Verleger Frank Nowatzki seinen Autor Jim Nisbet wie folgt: „Noir ist, wenn man auf Seite 1 schon am Arsch ist und dann geht’s nur noch bergab“.

Sehr angenehm natürlich, wenn sich der Verleger dann auch an diese Maxime hält, denn selten passte eine Beschreibung so gut wie auf die aktuelle Neuerscheinung aus dem Hause Pulp Master. Wobei ganz zu Beginn ist Jake Bishop, Ich-Erzähler von „Primat des Überlebens“, noch nicht am Boden. Er ist vielmehr resozialisiert, nach einigen Jahren im Gefängnis wegen Raub und Diebstahls hat er geheiratet. Seine Frau Paris ist schwanger, er arbeitet erfolgreich als Friseur und plant bereits konkret den Aufbau eines eigenen Salons. Seine Knastvergangenheit kennen jedoch nur wenige. Bereits im ersten Kapitel erfolgt der erste Schlag in die Magengrube: Jake erhält einen Telefonanruf von Joy Walker, seinem ehemaligen Zellengenossen, der inzwischen auch draußen ist und ihn zu einem Drink treffen will. Jake schwant Übles und er soll so was von Recht behalten.

Er hielt inne, wandte den Blick von mir weg, starrte hinüber zu den Typen am Pooltisch. „Ich könnte einen Gefallen gebrauchen.“
Ein Gefallen… ich dachte an was Drolliges, was ich mal von jemandem gehört hatte. „Ein Gefallen“, hatte dieser Jemand gesagt, „ist im Französischen ein Ausdruck für ‚lass mich dich ficken‘.“ (S.14)

Aufgrund diverser Umstände im Gefängnis hat Walker noch was gut bei Jake, doch dieser wäre noch bereit, seinem Knastbruder dies auszuschlagen. Dummerweise hat Walker bei seinem neuen Boss, dem zwielichtigen Juwelier Sydney Spencer, einige Anekdoten über sich und Jake ausgeplaudert – Anekdoten, die Jake erneut ins Gefängnis bringen könnten. Das wäre dann zum dritten Male – und dann wäre es beim unbarmherzigen US-Justizsystem lebenslänglich. Zudem kennt Spencer eine weitere Schwachstelle von Jake – dessen kleinen, noch nicht volljährigen Bruder Bobby. So wird Jake in einen Einbruch im Haus eines anderen Juweliers gezwungen. Vermeintlich ein einfacher Job. Ein guter Witz, denn der Leser bekommt nun Murphy’s Law in Reinkultur zu lesen: Der Job geht natürlich nicht glatt und alles, was Jake nun tut, um den Schaden zu begrenzen, reitet ihn nur noch tiefer in den Abgrund.

Dieses verschissene Lebenslänglich beeinflusste alles, was ich tat. Oder nicht tat. (S.124)

Diese Bedrohung, die permanent über Jake schwebt, ist der Knackpunkt für den Lauf der Geschichte. Er wie tausende weitere Verurteilte in den USA stehen unter permanenter Anspannung, dass das kleinste, weitere Delikt sie für ewig hinter Gittern bringen kann. Diese Unfreiheit und Angst macht ihr Leben zu einem Tanz auf der Rasierklinge. Jake treibt dies in einen Zustand, in dem er am Ende Dinge tut, die er zu Beginn weit von sich gewiesen hätte.

Autor Les Edgerton war selbst einmal inhaftiert, ehe er später eine Karriere als Autor einschlug. Bei Pulp Master erschien bislang „Der Vergewaltiger“ von ihm, ein weiterer Roman ist in Vorbereitung. Edgerton starb im August letzten Jahres. In diesem Roman erweist er sich als Meister des Noirs. Durch die Perspektive als Ich-Erzähler bleibt der Leser eng bei Jake Bishop. Anfangs noch durch Rückblenden unterbrochen, wird die Story letztlich erbarmungslos, kompromisslos, zynisch bis zum bitteren Ende in kurzen Kapitel vorangetrieben. Vielleicht packt er die eine oder andere böse Wendung zu viel aus, aber geschenkt. Les Edgerton serviert dem Leser hier noir pur. Kein Kitsch, kein Geplauder, kein Happy End, reiner Noir bis zum wahrhaft-wahnhaft blutigen Ende. Das mag nicht jedem schmecken, ich goutiere das hingegen sehr. Pulp Master bleibt bei Noir das Maß der Dinge.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Primat des Überlebens | Erschienen am 06.12.2023 bei Pulp Master
ISBN 978-3-927734-93-7
342 Seiten | 16,- €
Originaltitel: The Bitch | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Ango Laina und Angelika Müller
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Doug Johnstone | Eingefroren (Band 2)

Doug Johnstone | Eingefroren (Band 2)

„Wenn man immer in dem Universum endet, in dem man überlebt, bedeutet das nicht, dass man alles tun kann, was man will?“
„Ich glaube, das bringt uns nicht weiter.“
„Vielleicht ist es das, was mein Dad dachte“, sagte Hannah. „Vielleicht glaubte er, er könnte einfach alles tun, worauf er Bock hätte, und käme damit durch.“
Rita seufzte. „Männer brauchen keine Quantenphysik, um zu meinen, sie kämen mit allem durch.“ (Auszug S.21)

Beim letzten Mal sind sie noch gerade davongekommen, die Skelfs. Dorothy, die Großmutter, Jenny, die Mutter und Hannah, die Enkelin. Bestattungsunternehmerinnen in Edinburgh und gleichzeitig – interessante Kombination – Inhaberinnen einer Detektei. Im ersten Band „Eingeäschert“ (Vorsicht: Spoiler) werden die drei Frauen von Craig, Jennys Ex und Hannahs Vater und ein Mörder und Psychopath, attackiert und teilweise schwer verletzt. Jetzt, ein halbes Jahr später ist zumindest oberflächlich etwas Ruhe eingekehrt, doch sie haben noch ganz schön dran zu knapsen. Doch die Ruhe ist nicht von langer Dauer, denn auch aus dem Gefängnis heraus, kann Craig das Seelenleben der Frauen attackieren.

Daneben belastet sich dieses Frauen-Trio aber auch noch mit anderen Dingen. Direkt der Beginn ist spektakulär, als während einer Bestattung sich ein Auto auf dem Friedhof mit der Polizei eine Verfolgungsjagd liefert, Dorothy beinahe überfährt und schließlich in ein offenes Grab stürzt. Der Fahrer, ein Autodieb, überlebt nicht, allerdings sein Hund auf der Rückbank. Dorothy nimmt sich des Tieres an und recherchiert nach dessen verstorbenen Herrchen, den niemand identifizieren kann und den scheinbar niemand vermisst. Gleichzeitig macht sie sich Sorgen um eine ihrer Schülerinnen beim Schlagzeug-Unterricht, die offenbar von zuhause ausgerissen ist. Hannah hingegen ist noch stark von den Ereignissen aus „Eingeäschert“ angegriffen und gerät erneut aus dem Tritt, als sich ein Professor an der Uni das Leben nimmt und sich keiner das so recht erklären kann. Somit will Hannah überdingt die Hintergründe aufklären.

„Ich muss es einfach verstehen.“
Edward gestikulierte über den leeren Hörsaal. „Es gibt so vieles, was wir nicht verstehen.“
„Was das Universum betrifft. Aber was ist mit hier?“ Hannah klopfte auf ihre Brust. „Sicher müssen wir uns doch verstehen, oder nicht?“ (Auszug S.188)

Die verschiedenen Handlungsstränge werden parallel erzählt und immer wieder mischt sich Craig ein, der die Frauen in der Familie immer noch nicht in Ruhe lassen will. Dieser Strang bedient die vertikale Erzählweise in dieser Serie und dient immer wieder als Bindeglied zwischen den anderen kleinen Dramen, die die Skelfs umgeben. Doug Johnstone wechselt von Kapitel zu Kapitel die Perspektiven zu Dorothy, Jenny und Hannah und nimmt uns mit in ihr Seelenleben. Drei starke Frauen, vom Leben angeknockt, aber nicht gebrochen, sondern eine warme Menschlichkeit aussendend. Johnstone versteht es, seinen Figuren eine enorme Tiefe und Authentizität zu geben, auch den Nebenfiguren, wie etwa Hannahs Partnerin Indy, die sich bei den Skelfs zur Bestatterin ausbilden lässt, der Polizist Thomas, der zu der verwitweten Dorothy eine enge Beziehung aufzubauen scheint, oder Archie, Angestellter mit großem Talent, versehrte Leichen wieder zur Bestattung ansehnlich herzurichten und dabei unter dem Cotard-Syndrom leidend, d.h. dass er nicht an die eigene Existenz glaubt.

Auch Anspielungen auf die moderne Physik kommen hier nicht zu kurz, schließlich ist der Autor von normalem Beruf Atomphysiker. Der Originaltitel „The Big Chill“ verweist dann auch auf eine Theorie zum Ende des Universums. Jetzt steht natürlich die Frage im Raum, ob das hier überhaupt noch ein Krimi ist. Es ist auch ein Krimi, schon allein mit der Story um Craig, die hier in diesem Roman weiter eskaliert. Aber es ist vor allem auch ein starkes Buch über komplexe Familiensituationen, um den Umgang mit dem Tod und über drei starke Frauen. Und das lässt mich auf den nächsten Band mit den Skelfs freuen.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Eingefroren | Erschienen am 01.11.2023 im Polar Verlag
ISBN 978-3-948392-87-1
384 Seiten | 26,- €
Originaltitel: The Big Chill | Übersetzung aus dem Englischen von Jürgen Bürger
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezensionen zu Doug Johnstones „Eingeäschert“ und „Der Bruch“