Monat: März 2023

Abgehakt | Kurzrezensionen März 2023

Abgehakt | Kurzrezensionen März 2023

Kurzrezensionen März 2023

 

Friedrich Ani | Bullauge

Kay Oleander ist Polizist bei der Schutzpolizei in München. Bei einer Demonstration von „besorgten Bürgern“ eskaliert die Lage leicht, er wird von einer Glasflasche am Kopf getroffen, in der Folge verliert er ein Auge. Immer noch krank geschrieben, traumatisiert, allein stehend, verschafft er sich Zugang zu den Ermittlungsakten. Ein Täter wurde bislang nicht ermittelt, allerdings einige Zeugen vernommen, die sich verdächtig verhalten haben. Eine davon ist Silvia Glaser, auf die Oleander vor ihrem Haus trifft. Beide kommen ins Gespräch. Glaser offenbart ihm, dass sie in den Dunstkreis einer extremen Partei geraten ist, und bittet ihn, ihr dort herauszuhelfen.

Friedrich Ani ist der Mann der leisen Zwischentöne, der psychologischen Profile. Das zelebriert er hier auch ausgiebig. Sowohl Oleander als auch Glaser verbindet einiges, beide sind nach einem Unfall versehrt, noch etwas traumatisiert, ähnlich einsam und vom Leben enttäuscht. Das ist ohne Frage gut geschrieben, erschien mir von der Figurenkonstellation zu konstruiert und war mir auch irgendwie deutlich zu langatmig und spannungsarm. Doch im letzten Drittel bringt Ani dann einen Drive in die Story und am Ende noch einen bösen Twist, der den Leser nicht kalt lässt. Das hat mich dann doch überzeugt. Insofern ein Roman, bei dem man trotz der wenigen Seiten ein wenig dranbleiben muss, das Ende entschädigt dann aber für vieles.

 

Bullauge | Erschienen am 28.10.2022 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-7857-2811-6
366 Seiten | 16,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5
Genre: Krimi

 

Kim Young-ha | Aufzeichnungen eines Serienmörders

Byongsu Kim ist pensionierter Tierarzt, verbringt seine Zeit inzwischen mit Literatur, schreibt selbst gerne Gedichte. Der Siebzigjährige hat allerdings auch eine Vergangenheit als Serienmörder. Bis zum Alter von 45 Jahren hat er gemordet und wurde nie gefasst. Seit einem schweren Verkehrsunfall hat er dies beendet und die kleine Tochter seines letzten Opfers adoptiert und großgezogen. Zuletzt wurde bei ihm Demenz diagnostiziert, die stetig voranschreitet. Bei einer zufälligen Begegnung trifft Kim auf einen Mann, in dem er ebenfalls einen Serienmörder erkennt. Kurz danach kommt seine Tochter ausgerechnet mit diesem Mann als Verlobtem nach Hause. Kim versucht nun fieberhaft bei fortschreitender Demenz seine Tochter zu beschützen und wenn er bei diesem Mann nochmal selbst zum Mörder werden muss.

„Aufzeichnungen eines Serienmörders“ war in Korea ein Bestseller, auch die Verfilmung war erfolgreich und auch in der deutschen Übersetzung für den auf ostasiatische, insbesondere japanische Literatur spezialisierten Cass Verlag ein großer Erfolg. Der Titel ist dabei wörtlich zu nehmen. Byongsu Kim erzählt aus der Ich-Perspektive in kurzen, knappen Absätzen, in denen sich aktuelle Ereignisse, Erinnerungen aus naher oder ferner Vergangenheit und philosophische und lyrische Einschübe abwechseln. Dabei bringt der Erzähler auch immer blitzlichthaft wieder Einsichten in die koreanische Gesellschaft, vor allem der Vergangenheit. Der Reiz des Romans liegt zum großen Teil in der Person des Byongsu Kim, dem man zunehmend mitleidvoll beim „Verschwinden“ zusieht. Das Thema Demenz ausgerechnet bei einem ein Serienmörder ohne Reue durchzuspielen, ist eine ungemein pfiffige Idee, sehr virtuos umgesetzt. Aber Vorsicht an die Leser: Ob ein dementer Siebzigjähriger ein so zuverlässiger Erzähler ist? Mit weniger als 200 Seiten ein ziemlich schmaler, aber dafür aber umso feiner und nachhallender Roman.

 

Aufzeichnungen eines Serienmörders | Erschienen am 27.09.2020 im Cass Verlag
ISBN 978-3-944751-22-1
152 Seiten | 20,- €
Die gelesene Ausgabe erschien 2022 bei der Büchergilde Gutenberg
Originaltitel: Sakinja-ui gieok-beob | Übersetzung aus dem Koreanischen von Inwon Park
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 4,5 von 5,0
Genre: Spannungsroman

 

 

Peter Papathanasiou | Steinigung

Cobb ist eine vergessene, heruntergekommene Kleinstadt im heißen Outback Australiens. Landflucht, Alkohol, Drogen, Armut nagen am Gemeinwohl, die Installierung eines Internierungslagers für Asylsuchende hat zudem auch nicht wirklich neue Jobs gebracht, stattdessen zusätzliche Probleme. Da wird Cobb von einer brutalen Gewalttat erschüttert. Molly Abbott, beliebte Grundschullehrerin, wird brutal gesteinigt aufgefunden. Aus der Großstadt kommt der Detective George Manolis, um die Dorfpolizisten zu unterstützen. Manolis ist selbst in Cobb aufgewachsen, ehe seine Familie überstürzt den Ort verlassen hat. Manolis sieht sich einer widerwilligen, feindseligen Atmosphäre ausgesetzt. Für viele Bewohner steht fest: Der Mörder kommt aus dem Internierungslager, dem „Braunenhaus“, in dem die Tote Englischunterricht gegeben hat – was vielen allerdings nicht gefallen hat.

Der Debütroman des australischen Autors Peter Papathanasiou führt den Leser tief in die gesellschaftlichen Probleme Australiens. Sehr spannend konstruiert er ein Setting, in dem Nachfolger der Ureinwohner (Constable Sparrow), der ersten Siedler (man erinnert sich: Das waren vor allem Strafgefangene), der Einwanderer im 20.Jahrhundert (Detective Manolis) und die Flüchtlinge von heute aufeinander treffen. Dabei kreiert der Autor eine Reihe interessanter Figuren.

Manolis muss gegen eine Reihe von Widerständen ankämpfen, ihm begegnet Hass, Aggression, verhüllter und offener Rassismus. Am Erschütterndsten erscheint aber der bürokratisch-unterdrückende Umgang des Staates mit den Asylsuchenden, denen keine echte Perspektive geboten wird und die im Lager von Wachpersonal umgeben sind, die allzu gerne ihre Macht missbrauchen. Insgesamt ein lohnendes Debüt mit stark gesellschaftskritischem Unterton aus Australien.

 

Steinigung | Erschienen am 15.03.2023 im Polar Verlag
ISBN 978-3-492-06345-6
304 Seiten | 17,- €
Als E-Book: ISBN 978-3-498392-70-3 | 12,99 €
Originaltitel: The Stoning | Übersetzung aus dem Englischen von Sven Koch
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5
Genre: Gesellschaftskritischer Krimi

Rezensionen 1-3 und Fotos von Gunnar Wolters.

 

Kathleen Kent | Der Weg ins Feuer

„Der Weg ins Feuer“ ist der zweite Thriller um die junge Polizistin Betty Rhyzyk vom Dallas Police Department und schließt einige Monate nach den traumatischen Erlebnissen aus dem ersten Band an. Betty, die immer noch unter den körperlichen wie psychischen Verletzungen leidet, darf endlich wieder ihren Dienst im Drogendezernat aufnehmen, wird von ihrem neuen Chef, dem ehemaligen Mordermittler Marshall Maclin erst mal in den Innendienst gesetzt. Auf die Straße darf sie erst wieder, wenn sie einige Therapiestunden beim Polizeipsychiater abgesessen hat. Doch Betty will sich keine Schwäche eingestehen, dabei hat sie auch den Freitod ihres Bruders noch nicht wirklich verarbeitet. Mit ihrer schroffen Art, die man schon aus dem ersten Band kennt, stößt sie auch ihrer geliebten Frau Jackie immer wieder vor den Kopf.

Im Fokus des ganzen Buches steht Betty und die Kriminalgeschichte gerät fast in den Hintergrund. In Dallas rivalisieren Drogenkartelle mitaneinander und Dealer werden auf offener Straße erschossen. Als ein Informant und Junkie ermordet wird und Gerüchte auftauchen, ein Cop wäre involviert, beginnt Betty auf eigene Faust zu ermitteln. Als Leser*in sind wir immer dicht bei ihr, wenn sie sich in die einschlägigen Clubs der Szene oder auch in den Untergrund und damit erneut in große Gefahr begibt. Ihre Kollegen werden von ihr genau beobachtet und es ist ausgerechnet ihr Freund und Kollege Seth, der scheinbar etwas zu verbergen hat. Wenn Betty wiederholt Maclins Anordnungen missachtet und Verdachtsmomente vorenthält, Sitzungen beim Psychologen absagt oder einen Tatort betritt, ohne Verstärkung anzufordern, ist das teilweise schwer zu ertragen. Dabei zeigt sie auch oft ihr weiches Herz, mischt sich in Fällen häuslicher Gewalt ein und nimmt Obdachlose auf.

Man kann diesen zweiten Teil ohne Vorkenntnisse des ersten Teils lesen, ich würde aber dazu raten, sie in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Trotz einiger Thriller-Klischees, die bedient werden, ist der Autorin ein spannender und temporeicher Thriller um eine außergewöhnliche Ermittlerin gelungen, der einen Blick in die Abgründe der Drogenkriminalität bietet. „Der Weg ins Feuer“ wird von den starken Charakterisierungen seiner Figuren getragen und zieht seine Intensität aus dem Drama in Bettys Leben, die zum Vorgänger eine glaubhafte Entwicklung durchmacht.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Der Weg ins Feuer | Erschienen am 13.02.2023 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-47296-5
359 Seiten | 16,95 €
Originaltitel: The Burn | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Andrea O’Brien
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 4 von 5
Genre: Thriller

 

 

Claudia Piñeiro | Kathedralen

Claudia Piñeiro | Kathedralen

Sobald ich lese, dass Ana zuletzt so etwas zugefügt wurde, vergesse ich es wieder. Am liebsten würde ich es nie wieder lesen müssen. Sosehr ich mich anstrenge, diese Lücke kann ich nur durch Erfindungen schließen, denn hierzu verfüge ich über keinerlei Erinnerungen, weder in meinem Kurzzeit- noch in meinem Langzeitgedächtnis. Mein Leben kann ich nur im Plusquamperfekt erzählen – alles, was vor dem Unfall passiert war. Ich war gegangen, ich hatte gesehen, ich war gewesen. Ana war in meinen Armen gestorben. (S. 113-114)

Lía Sardá ist Argentinierin, lebt aber schon seit einiger Zeit als Buchhändlerin in Santiago de Compostela. Zu ihrer Familie hat sie jeglichen Kontakt abgebrochen, lediglich zu ihrem Vater hält sie per Brief Kontakt. Auslöser war der Tod ihrer jüngsten Schwester Ana, die als 17jährige verbrannt und zerstückelt auf einer Müllhalde aufgefunden wurde. Der fatalistische, schicksalsergebene Umgang ihrer streng katholischen Familie mit Anas Tod hat Lía tief getroffen und innerhalb der Familie isoliert, sodass sie schließlich nach Spanien emigrierte. Sie hofft bis heute vergeblich, dass die Umstände von Anas Tod aufgeklärt werden. Da taucht nach dreißig Jahren plötzlich ihre älteste Schwester Carmen mit ihrem Mann Julián in der Buchhandlung auf. Sie vermissen ihren Sohn Mateo, der sich auf eine längere Europareise begeben hatte und auf Wunsch seines inzwischen verstorbenen Großvaters auch bei Lía vorbeikommen sollte. Mateos Mission war ursprünglich nur, den großen europäischen Kathedralen nachzuspüren, doch Carmen ahnt, dass nun das große Trauma der Familie nochmal endgültig auf den Tisch kommt.

Claudia Piñeiro kam mir zum ersten Mal mit „Der Privatsekretär“ in die Hände. Ein Politthriller, der mich genauso überzeugte wie später eine Lektüre des älteren Romans „Die Donnerstagswitwen“. Piñeiro zählt heute zu den erfolgreichsten argentinischen Autoren, arbeitet auch als Regisseurin und beim Theater. Ihre gesellschaftskritischen, dramatischen Romane sind oftmals in eine Kriminalgeschichte eingebettet und bewegen sich meist am Rande des Genres. Auch „Kathedralen“ ist ein solches Werk, dass sich einer klaren Genreidentifizierung verweigert. „Catedrales“ gewann 2021 den spanischen Krimipreis „Premio Hammett“.

Der Roman ist vielstimmig. Insgesamt sieben Personen kommen in eigenen Abschnitten zu Wort und erzählen als Ich-Erzähler:in aus ihrem Blickwinkel auf eine familiäre Tragödie. Der brutale Tod von Ana zerreißt die Familie Sardá, die Mutter und Carmen vergraben sich in ihrer tiefen Religiösität, der Vater bleibt lethargisch. Lía rebelliert gegen die Religiösität, will Antworten, will wissen, wie ihre Schwester ums Leben kam. Niemand gibt ihr Antworten, die Familie ist nicht mehr heil, aber die Fassade soll dennoch aufrecht erhalten werden. Nun ergibt sich mit Mateo, Carmens Sohn, mit der neuen Generation die Gelegenheit, doch noch Licht ins Dunkle zu bringen. Claudia Piñeiro gibt jeder Person eine eigene Stimme, einen eigenen Ton. Abstriche gibt es in Sachen Spannung, der Leser ahnt bald, worauf es hinausläuft, ohne dass aber dadurch die Enthüllung an Erschütterung verliert.

Das brauche ich aber nicht der ganzen Welt erklären, Rechenschaft über mein Tun muss ich ohnehin erst später, an anderer Stelle ablegen. […] Ich lasse mir von niemandem ausreden, dass unser Tun ein Akt der Liebe war, des Selbstschutzes. (S.263)

Wie schon in anderen Romanen erzählt die Autorin von Doppelmoral und Heuchelei, dieses Mal in direktem Bezug zur tiefen, fast fanatischen Religiösität und zum immer noch präsenten Machtanspruch der katholischen Kirche über die argentinische Gesellschaft. Dabei porträtiert sie eine Familie, die aufgrund dieser Umstände ein extremes Trauma erfährt und vollkommen zerrissen wird. Das ist wie immer bei Claudia Piñeiro präzise und tiefgründig erzählt und erhält durch die ausgewählten Erzähler:innen besonderen Reiz.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Kathedralen | Erschienen am 30.01.2023 im Unionsverlag
ISBN 978-3-293-00592-1
313 Seiten | 22,95 €
Originaltitel: Catedrales (Übersetzung aus dem Spanischen von Peter Kultzen)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Büchern von Claudia Piñeiro

Gu Byeong-Mo | Frau mit Messer

Gu Byeong-Mo | Frau mit Messer

Das Thema des dienstmüden, ausgebrannten Profikillers, der noch einen allerletzten Auftrag erledigen muss, ist nicht grade neu und wurde schon häufig in Kriminalromanen- und Filmen verarbeitet. Doch Gu Beyong-Mo kann dieser Ausgangslage noch eine ganz neue und frische Facette abgewinnen. Ihre Heldin mit dem Decknamen Hornclaw ist eine Frau und mit ihren 65 Jahren kurz vor dem Rentenalter.

Altwerden ist nichts für Feiglinge

Seit 40 Jahren tötet Hornclaw professionell im Auftrag einer Firma für „Schädlingsbekämpfung“. Die Kunden kommen aus Wirtschaft oder Politik und die mächtige Agentur ist für die Verwaltung und Vorbereitung der Auftragsmorde zuständig. In der Regel wissen die Killer nichts über die Hintergründe. Hornclaw fühlt sich für den Job noch fit genug, aber natürlich ist sie nicht mehr so gelenkig und schnell wie in jungen Jahren. Mit zunehmendem Alter spürt sie den Abbau der Kräfte und auch das Gedächtnis lässt sie ab und an mal im Stich. Vor allem entdeckt sie selbst Empathie und Mitgefühl an sich und ihr Blick auf die Menschen wird weicher.

So lernen wir sie auch gleich zu Beginn kennen. Als in der U-Bahn eine schwangere Frau von einem älteren Mann belästigt wird und dieser beim Aussteigen tot zusammenbricht, hat niemand die unscheinbare, ältere Dame in Verdacht. Mit ihrem Filzhut über dem grauen Haar fliegt sie unter dem Radar, auch weil sie sich so normal verhält, wie die Gesellschaft es von ihr erwartet.

Aber im Grunde ist es egal, wie man als älterer Mensch ist, die Leute wollen nicht über einen nachdenken. (Auszug Seite 6)

Sie hat keine Freunde oder auch nur Bekannte und lebt sehr zurückgezogen in einer kleinen Wohnung. Gesellschaft leistet ihr nur ihre alte Hündin Deadweight. Da sie nie weiß, ob sie den Job lebend übersteht, hat sie dem treuen Tier eine Tür eingebaut, damit es nicht verhungern muss, falls sie nicht mehr zurückkehrt. Ihr unauffälliges Aussehen nutzt sie, um nahe an ihre Opfer heranzukommen, um dann am liebsten mit ihrem scharfen Messer, an deren Spitze sich eine Zyankali-Verbindung befindet, für einen schnellen Tod ihrer Opfer zu sorgen.

Altersgrenze für Killer*innen

Vor einem Monat wurde sie bei ihrem letzten Mord durch eine minimale Nachlässigkeit schwer verletzt. Es gelingt ihr noch, die Zielperson zu erledigen und sich in jene Klinik zu schleppen, in der sie üblicherweise vom Arzt der Agentur, Dr. Choi untersucht wird. Doch dieser ist in der Nacht nicht da und so kümmert sich der diensthabende Arzt Dr. Kang um die bewusstlose Hornclaw. Dabei entdeckt er zwangsläufig ihre Messer, verspricht aber die Polizei nicht zu informieren. Eigentlich müsste Hornclaw ihn als Zeugen liquidieren, aber seit langer Zeit findet sie einen Menschen sympathisch. Auch mit der Familie des Arztes, die in der Nähe einen winzigen Marktstand haben, freundet sie sich an.
Das macht sie verletzlich und sie bringt sich dadurch in Gefahr. Denn in der Agentur fühlt sie sich nur noch geduldet und nach 40 erfolgreichen Jahren scheint man nur auf einen Fehler von ihr zu warten. Wie einem Auslaufmodell, dem man nur noch einfache Jobs gibt, um ihr subtil deutlich zu machen, dass es Zeit wird, aus dem Geschäft auszusteigen. Doch wird man sie einfach gehen lassen? Mit ihrem enormen Firmenwissen stellte sie ein Risiko da, dass beseitigt werden müsste. Probleme bereitet ihr auch ein junger Kollege, Bullfight, der sie ständig provoziert und herablassend Oma nennt. Hornclaw kann sich sein enorm respektloses Benehmen nicht erklären. Der Leserin werden die Gründe für seinen Hass in Rückblenden erklärt und auch Hornclaws Werdegang zur eiskalten Killerin wird nach und nach präsentiert.

Meine Meinung

Diese Enthüllungen bringen den Leser intensiver in die Geschichte ein und erhöhen den Spannungsbogen. Trotzdem ist es kein actiongeladener Thriller, sondern eine unaufgeregte Geschichte, eine präzise Analyse der koreanischen Gesellschaft.

Dabei ist es dank der hohen literarischen Erzählweise und des feinen aber sehr schwarzen Humors nie dröge oder deprimierend. Das liegt auch daran, dass sie den Job der Auftragskiller*in wie jeden anderen schildert. Von Anfang an mochte ich den pointierten Schreibstil sowie den scharfsinnigen Blick der südkoreanischen Autorin. In Form eines Thrillers klagt sie das kapitalistische Gesellschaftssystem an, greift gesellschaftliche Übel wie Altersdiskriminierung, festgefahrene Rollenbilder und das Verdrängen kleiner traditioneller Geschäfte durch große Supermarktketten auf. Missstände, die man ja auch in der westlichen Welt findet. Ihre Heldin ist ein Charakter, den die Gesellschaft für schwach hält, belastend und unwichtig. Byeong-mo Gus Blick auf ihre Figuren ist distanziert, aber wenn Hornclaw anfängt, über ihr Leben zu resümieren, wenn sie durch das Abnehmen ihrer körperlichen Fähigkeiten Schwäche zeigen darf, sind wir ihr sehr nah.

Das arrangiert Gu Byeong-Mo, eine in Südkorea preisgekrönte Autorin auf innovative und durchaus amüsante Art und Weise, wenngleich sie zum Schluss doch Zugeständnisse an das Thriller-Genre macht. Am Ende gibt es dann doch ganz klassisch einen actiongeladenen Showdown mit großer Gewaltentwicklung und vielen Toten.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Frau mit Messer | Erschienen am 19.10.2022 im Ullstein Verlag
ISBN  978-3-550-20150-9
288 Seiten | 22,99 €
Originaltitel: 파과 (Pagwa) | Englischer Titel: The Old Woman with the Knife | Übersetzung aus dem Englischen von Wibke Kuhn
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Flynn Berry | Northern Spy – Die Jagd

Flynn Berry | Northern Spy – Die Jagd

Als ich aus dem Wasser steige, klappern mir die Zähne. Blut rinnt über meinen Fuß und folgt den erhabenen Linien meiner Venen. Ich muss mich an einem Stein im Wasser verletzt haben. Ich bücke mich und spüle das Blut ab.
Ich weiß nicht, warum ich aufschaue. Meine Beine werden plötzlich leichter, als wäre ich an den Rand einer Klippe getreten.
Meine Schwester steht nur ein paar Meter von mir entfernt. Ihr Haar ist blond gebleicht und bis auf die Schultern gekürzt. Sie sieht erschöpft aus, die Sehnen an ihrem Hals stehen hervor. Ihre Haut liegt straff über Stirn und Wangenknochen.
„Was hast du getan?“ (Auszug Kapitel 13)

Tessa lebt vor den Toren Belfasts. Ihr Sohn Finn ist erst wenige Monate alt. Sie genießt die Zeit mit ihm, arbeitet aber bereits wieder als Produzentin für die BBC. Sie und der Kindsvater haben sich bereits wieder getrennt, dennoch hilft Tom ihr mit Finn, genauso wie ihre Mutter und ihre Schwester Marian, eine Rettungssanitäterin. Tessa hat sich ihr Leben also ganz gut eingerichtet, als sie plötzlich eines Tages während der Arbeit ein Video sieht, mit der die Polizei nach IRA-Terroristen sucht, die eine Tankstelle überfallen. Einer der Terroristen ist kurz unmaskiert zu sehen – und Tessa sieht ihre Schwester Marian.

Von jetzt auf gleich ist Tessas Leben auf den Kopf gestellt. Sie wird von der Polizei verhört. Tessa ist schwer enttäuscht von ihrer Schwester, die sie offenbar seit langem belogen hat und sie und Finn in Gefahr gebracht hat. Doch Tessa hatte immer ein sehr enges Verhältnis zu Marian und als die beiden Schwestern sich wieder gegenüberstehn, ist Tessa gezwungen, sich zu entscheiden. Will sie sich aus allem heraushalten und Finn nicht gefährden oder steht sie weiterhin zu ihrer Schwester?

Leider habe ich erst nach dem Lesen erfahren, dass dieses Buch von Reese Witherspoon in ihrem Buchclub empfohlen wurde. Hätte ich das eher gewusst, hätte ich einen weiten Bogen darum gemacht. Das letzte Buch, dass mit einer Empfehlung von Mrs. Witherspoon bei mir ankam, war „Der Gesang der Flußkrebse“ – und das war für mich ein sehr enttäuschender Roman. Und leider fand ich „Northern Spy“ auch enttäuschend.

Den Hauptvorwurf, den man der Autorin machen muss, ist, dass sie das Setting Nordirland benutzt und dann sehr unakkurat hiermit umgeht. Der Roman spielt offensichtlich in der aktuellen Zeit, so erzählt Tessa zu Beginn des Buches, dass sie das Karfreitagsabkommen als Kind erlebt hat. Im Laufe des Plots tut Flynn Berry allerdings mehr oder weniger so, als hätte es das Abkommen nie gegeben. Nein, sie tut so als würden die Troubles immer noch so laufen wie vor 1998, es gibt regelmäßige Bombenattentate, Mordanschläge und Entführungen. Überhaupt behandelt sie den Konflikt erstaunlich unterkomplex, es geht eigentlich nur um die IRA gegen die britischen Sicherheitskräfte. Untergruppierung der IRA, protestantische Loyalisten oder weitere Gruppen werden nicht mit einem Wort erwähnt. Der Background des Konflikts wird auf das Simpelste reduziert. Wird ein Terrorist nach seiner Motivation gefragt, fällt meist nur ein Wort: „Freiheit“. Viel mehr kommt da nicht und das ist insgesamt nicht nur schade, sondern grob fahrlässig. Aber vermutlich reicht das für die amerikanische Zielgruppe.

Des Weiteren vermute ich, dass entweder die Autorin selbst oder jemand aus ihrem Umfeld während der Schreibphase Nachwuchs bekommen hat. Der Umfang, den Tessa mehrere Monate alter Sohn Finn in diesem Roman einnimmt, ist mehr als üppig. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Finn die am besten beleuchtete Figur des Romans ist. Es mag ja interessant sein, eine junge Mutter in die im Roman beschriebene Situation zu katapultieren, aber muss es gleich ein Erfahrungsbericht „Mein erstes Jahr mit meinem Baby“ werden? Auf Goodreads meinte eine Leserin süffisant: „Over half the book was about babies. It claimed to be about spies“.

Das alles hat mich bei der Lektüre sehr gestört, dass ich auf die ganzen anderen Punkte gar nicht weiter eingehen möchte. Die schleppende Spannung, Logiklücken und so weiter. Sicherlich ist auch nicht alles schlecht. So ist der Grundansatz der Figurenkonstellation mit den zwei Schwestern durchaus reizvoll. Aber insgesamt bleibt „Northern Spy“ eine herbe Enttäuschung für einen Leser, der sich einen gut recherchierten und der komplexen Lage vor Ort angemessenen Thriller versprochen hat.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Northern Spy – Die Jagd | Erschienen am 14.02.2023 im Aufbau Verlag
ISBN 978-3-7466-3988-8
362 Seiten | 13,- €
Originaltitel: Northern Spy | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Wolfgang Thon
Bibliografische Angaben & Leseprobe