Monat: Oktober 2022

Oliver Bottini | Einmal noch sterben

Oliver Bottini | Einmal noch sterben

Sein Leben kann nur so enden. Hier, an diesem Tag, die Mündung seiner eigenen Pistole am Kopf. Weil er nichts versteht von dem Leben, das er sich ausgesucht hat.
Er wartet auf die Kraft der Verzweiflung, doch sie kommt nicht. Wie auch, er ist in diesem einen langen Krieg zu viele Tode gestorben.
Einmal noch sterben, denkt er fast erleichtert. Dann ist dieser lange Krieg endlich vorbei.
Er hört den Tod, spürt ihn nicht. (Auszug E-Book Pos. 2666)

Am 05. Februar 2003 hatte US-Außenminister Colin Powell einen großen Auftritt im UN-Sicherheitsrat. Anhand angeblicher Quellen und mit zahlreichen Fotos und Satellitenaufnahmen garniert, lieferte Powell vermeintlich die Beweise für ein Bio- und Chemiewaffenprogramm von Iraks Diktator Saddam Hussein. Damit war trotz Gegenmeinungen und Weigerung einiger Verbündeter (u.a. Deutschland) der Weg frei für den zweiten Irakkrieg und den Sturz des Saddam-Regimes. Stabilität und Demokratie hat dies nicht wirklich in die Region gebracht.

Die Hauptquelle für die Amerikaner war damals eine Quelle des BND, der irakische Asylbewerber Rafid Ahmed Alwan, genannt Curveball. Er lieferte aus Sicht des BND zunächst glaubhafte Aussagen, als Ingenieur am Bio- und Chemiewaffenprogramm des Irak beteiligt gewesen zu sein. Aussagen, die die Amerikaner mangels eigener Quellen gerne aufnahmen. Nach und nach wurde Curveballs Glaubwürdigkeit in Zweifel gezogen, zumal im Laufe des Irakkriegs keine entsprechenden B- und C-Waffenarsenale gefunden wurden. 2011 gab Alwan schließlich zu, hierüber gelogen zu haben. Soweit die historische Ausgangslage für Oliver Bottini, die er nun in seinem neuesten Politthriller verarbeitet hat und um eine interessante Variante ergänzt: Was, wenn BND und die Amerikaner schon früh von Curveballs Lügen wussten bzw. ihn bewusst zu einer falschen Quelle aufgebaut haben?

Im Frühjahr 2003 steckt die deutsche rot-grüne Regierung in einer ungünstigen Lage. Deutschland hat nach 9-11 am Feldzug gegen al-Qaida in Afghanistan teilgenommen, eine Beteiligung an einem Krieg im Irak aber auch aus wahltaktischen Gründen früh ausgeschlossen. Aber ausgerechnet eine Quelle des BND liefert den Amerikanern den Kriegsgrund. Das Kanzleramt und der Geheimdienstkoordinator möchten Curveball auf den Zahn fühlen und beauftragen die BKA-Beamtin Hanne Lay, Curveball zu befragen. Zeitgleich meldet sich der französische Geheimdienst: Eine Informantin in Bagdad kann angeblich Beweise gegen Curveball liefern. Die Deutschen sollen helfen, die Informantin und die Beweise zu sichern. Somit schickt der Geheimdienstkoordinator ein Team des BND nach Bagdad. Entwicklungen, die einigen Personen im deutschen Geheimdienstmilieu überhaupt nicht gefallen. Curveball als glaubwürdiger Zeuge muss unter allen Umständen geschützt werden. Dafür ist man auch bereit, eigene Leute zu opfern.

Drei Personen stellt Autor Oliver Bottini ins Zentrum der Geschichte, die sich vorwiegend in ihren Perspektiven abwechseln. Frank Jaromin ist BND-Agent, abkommandiert von der Bundeswehr und als Scharfschütze im Einsatz. Seine Familie weiß nichts von seinen Geheimoperationen, sie zerbricht so langsam unter den Heimlichkeiten und seinen Dämonen, die er mit Tabletten und Alkohol bekämpft. Jaromin ist vor allem von seiner Frau und seinem 14jährigen Sohn entfremdet, einzig seine 11jährige Tochter Alina hat noch eine enge Bindung zu ihm. Jaromin wird – so viel darf ich spoilern – zum Sündenbock für den verpatzten Einsatz in Bagdad. Hanne Lay ist Sonderermittlerin des BKA im Auftrag des Kanzleramts, muss sich aber der Täuschungs- und Tarnungsaktion des BND erwehren. Ihre Gegenmaßnahmen bringen sie selbst aber in hohe Gefahr. Persönlich leidet sich bis heute unter dem Trauma, dass als sie noch ein Kind war, ihre Eltern in ihrem Beisein von einem Einbrecher ermordet wurden und der Mörder nie gefasst wurde. Letztlich Hans Breuninger, ehemaliger Präsident des BND, immer noch gut vernetzt und Kopf einer Geheimgruppe, die eng mit konservativen Kräften in den USA zusammenarbeitet. Ein alter Mann, dem nicht viel bleibt außer seinem alten Hund und ein nicht zu unterschätzender Rest an Macht, und an dem der Tod seines Sohnes nagt, der beim Einsturz des World Trade Centers ums Leben kam.

Männer wie Sie, die gegen die Drachen kämpfen und dabei blind und taub geworden sind in ihrer vermeintlichen Unentbehrlichkeit. Blind tappen sie in schlichte Fallen, taub hören sie Wörter, die nicht gefallen sind, unfehlbar töten sie Menschen, die sie hätten beschützen müssen. Und damit sie bleiben, wie sie zu sein glauben, manipulieren sie ihren Körper mit Medikamenten, den Verstand mit Alkohol, die Seele mit ihren Legenden. (Auszug E-Book Pos. 3238)

Oliver Bottini ist neben seiner Reihe um die Freiburger Kommissarin Louise Boní (die auch immer sehr politisch war) als versierter Autor von Stand-Alone-Politthrillern bekannt, etwa „Ein paar Tage Licht“ über deutsche Waffenexporte ins instabile Algerien. Nun hat er sich des Falls „Curveball“ angenommen und präsentiert eine alternative fiktionale Version mit einer Geheimgruppe, einem Staat im Staate, der genug Macht besitzt, um offizielle Missionen des Kanzleramts und des BKA zu sabotieren und dabei den Tod deutscher Polizeibeamten oder Geheimdienstagenten in Kauf zu nehmen. Eine interessante Version, die man am Ende zumindest in Betracht zieht, wenn man die ganzen Lügen rund um den Irakkrieg im Nachhinein betrachtet.

Dabei entpuppt sich Bottini wieder einmal als begnadeter Autor, der die richtige Mischung aus spannenden und durchaus actionreichen Einsatzszenen, politisch-geheimdienstlichem Hintergrundplot und persönlichen Dramen der Betroffenen findet und auch mit literarischem Anspruch zu Papier bringt. „Einmal noch sterben“ beweist wieder einmal des Autors herausragender Stellung in diesem Genre.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Einmal noch sterben | Erschienen am 16.08.2022 im Dumont Verlag
ISBN 978-3-8321-8251-9
432 Seiten | 25,- €
als E-Book: ISBN 978-3-8321-8251-9 | 19,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Romanen von Oliver Bottini hier auf dem Blog

Rezensions-Doppel: Jacob Ross | Die Knochenleser & Cherie Jones | Wie die einarmige Schwester das Haus fegt

Rezensions-Doppel: Jacob Ross | Die Knochenleser & Cherie Jones | Wie die einarmige Schwester das Haus fegt

Die Literatur der Karibik ist hierzulande für viele Leser*innen sicherlich oft ein ziemlich unbeschriebenes Blatt. Auch im Krimigenre fiele mir, außer Leonardo Padura aus Kuba und Gary Victor aus Haiti nicht allzu viel ein. Dabei bieten die karibischen Inseln aufgrund der kolonialen Vergangenheit (und teilweise Gegenwart), das Aufeinanderprallen verschiedener politischen Systeme, Hautfarben und Klassengegensätzen genug Material für Spannungsliteratur. In der jüngsten Zeit haben es gleich zwei Autor*innen aus der Region in die Krimibestenliste geschafft: Jacob Ross, geboren auf Grenada, und Cherie Jones aus Barbados. Beide operieren mit fiktiven Namen für ihre Schauplätze, die Gegebenheiten sind aber dennoch mit ihrer Heimat stark verbunden. Was beide Romane vor allem verbindet ist die Marginalisierung von Frauen. Zeit für eine Doppelrezension.

Jacob Ross | Die Knochenleser

Michael „Digger“ Digson lebt auf der Karibikinsel Camaho in den Tag hinein. Als er Zeuge eines Verbrechens wird, kommt er in Kontakt mit Detective Superintendent Chilman, einem der höchsten Polizisten des Landes. Chilman rekrutiert Digger mehr unter Zwang als freiwillig für den Polizeidienst, lässt ihn später zum Forensiker ausbilden. Doch Digger hat noch eine eigene Agenda: Als er noch ein Kind war, verschwand seine Mutter spurlos. Sie nahm teil an einer Demonstration von Frauen aufgrund des brutalen Mordes und Vergewaltigung eines Schulmädchens. Die Polizei ließ die Demonstration gewaltsam auflösen, es gab einen Schießbefehl. Seitdem fehlt von seiner Mutter jede Spur.

Die Arbeit in der kleinen Einheit der Kriminalpolizei ist eher schwierig und hemdsärmelig. Moderne Polizeiarbeit hält erst langsam Einzug. Zudem verfolgt der Chef Chilman auch seine eigenen Pläne. Eines Tages stößt Miss Stanislaus zur Truppe, eine junge, etwas exzentrische, aber sehr fähige Frau. Sie bringt das Gleichgewicht der männlichen Führungspersonen erheblich durcheinander. Gemeinsam mit Digger untersucht sie das Verschwinden weiterer Personen und stößt auf einen christlichen Baptistenkults mit dem einflussreichen Diakon Bello Hunt an der Spitze.

„Wieso denkst du, dass es ein Kerl ist?“, fragte Caran.
„Hast du je gehört, dass hier eine Frau eine andere Frau umgebracht hätte?“
Caran schüttelte den Kopf. (Auszug Seite 141)

Autor Jacob Ross hat zwar den Schauplatz seines Romanes mit dem fiktiven Namen „Camaho“ anonymisiert, die Beschreibungen und geschichtlichen Andeutungen weisen jedoch stark auf seine Heimatinsel Grenada hin, eine Insel der kleinen Antillen, bekannt für seine Muskatnüsse. In der westlichen Wahrnehmung zuletzt präsent, als Ronald Reagan 1983 die politischen Entwicklungen auf der Insel nicht gefielen und er – gegen den Willen der Briten (Grenadas Staatsoberhaupt ist bis heute der britische Monarch) – Truppen entsendete. Ross zeichnet ein Bild einer sehr ungleichen Gesellschaft mit viel Armut und einem immer noch übermächtigen männlichen Einfluss. Gewalt gegen Frauen in vielerlei Formen bildet ein großes gesellschaftliches Problem.

Wer bei dem Titel „Die Knochenleser“ auf einen forensischen Thriller gehofft hatte, der wird ein wenig enttäuscht werden, denn die Forensik spielt nur eine Nebenrolle. Stattdessen geht es vielmehr um das gestörte Geschlechterverhältnis auf der Insel, auf der die Frauen immer noch weitgehend von Männern dominiert werden – bis hin zur Gewalt. Und diese Gewalt wird vom Staat dann auch oft genug nicht sanktioniert. Ein wenig kritisieren möchte ich den Plot, der vor allem bis zur Mitte des Buches mir etwas zu unfokussiert vorkam. Ansonsten ist der Roman aber auf jeden Fall lesenswert und bietet einen neuen, unverbrauchten Schauplatz und interessante Figuren für weitere Bände.

Cherie Jones | Wie die einarmige Schwester das Haus fegt

Das für den Außenstehenden paradiesische (fiktive) Baxter’s Beach auf Barbados im Jahr 1984: Stella, genannt Lala, ist hochschwanger, lebt mit ihrem kriminellen Ehemann Adan in einem schäbigen Häuschen über dem Strand. Als vorzeitig die Wehen losgehen, ist Adan nicht da. Lala irrt am Strand umher, klingelt schließlich bei einem herrschaftlichen Haus an der Dienstbotenpforte, um Hilfe zu erhalten. Doch es erscheint ihr Mann, der dort gerade einen Einbruch verübt hat und dabei den Hausbesitzer erschossen hat.

Diese Geschichte bildet den Ausgangspunkt für die unglückliche Geschichte von Lala, deren neugeborene Tochter nur wenige Wochen leben wird. Ihr Tod wird nochmals zusätzlich Aufmerksamkeit generieren. Aufmerksamkeit, die der gewalttätige und zunehmend rücksichtslose Adan überhaupt nicht gebrauchen, schließlich sucht die Polizei immer noch nach dem Einbrecher und Mörder. Was noch hinzukommt: Tone, ein Handlanger Adans und Lalas erste Liebe, will ihr helfen und nähert sich ihr wieder an.

Autorin Cherie Jones lebt auf Barbados und arbeitet dort auch als Anwältin. Sie gewann 1999 bereit einen Short Story-Preis, legte aber mit diesem Buch erst ihr Romandebüt vor. „How The One-Armed Sister Sweeps Her House“ stand direkt auf der Shortlist des „Woman’s Prize for Fiction“. Der ungewöhnliche Titel bezieht sich auf eine Geschichte, die Lalas Oma Wilma ihr erzählt, um dem Teenager zu beschwören, nicht auf die schiefe Bahn zu geraten.

Er drückt zu, und ihre Augen werden dunkel, verschleiern wie die Meeresoberfläche an einem regnerischen Tag, ein Meer, unter dessen Oberfläche sie weiter in die Stille sinkt. […] Lala denkt, wenn Sterben die ewige Achterbahn von Farbe bedeutet, den übermütigen Tanz auf Blau und Grün, Rot und Lila, dann könnte das Töten vielleicht ein Liebesdienst sein. (Auszug E-Book Pos. 3057)

Der Roman folgt nicht den Mustern eines klassischen Kriminalromans, sondern behandelt Verbrechen und Missstände eher im Gewand eines Gesellschaftsromans. Die Autorin schreibt in einem poetischen Ton vom harten Leben in Barbados, von reichen Männern, die sich Geliebte und deren Kinder halten, von sexuellem Missbrauch, Gewalt gegen und Unterdrückung von Frauen und von Frauen, die sich mangels Alternativen mehr oder weniger prostituieren. Dabei wechselt die Autorin immer wieder in die Vergangenheit, um Hintergründe zu erläutern, und auch die Perspektiven. Dies ist für meinen Geschmack hier aber nicht optimal gelungen, mehreren Personen wird Raum gegeben, ohne dass dies den Roman wirklich bereichert. Was für mich als Leser zudem schwierig ist: Mangels Kenntnis über die aktuellen Gegebenheiten vor Ort, tue ich mich schwer mit der Einordnung des Romans, der ja weitgehend Mitte der 1980er spielt. Dennoch ist er literarisch sicherlich interessant für Leser*innen, die die europäische Komfortzone verlassen wollen.

 

Die Knochenleser | Erschienen am 11.04.2022 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-47236-1
376 Seiten | 15,95 €
Originaltitel: The Bone Readers | Übersetzung aus dem karibischen Englisch von Karin Diemerling
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5
Genre: Gesellschaftskritischer Krimi

 

Wie die einarmige Schwester das Haus fegt | Erscheinen am 05.09.2022 bei Culturbooks
ISBN: 978-3-95988-185-2;
328 Seiten | 25,- €
Originaltitel: How The One-Armed Sister Sweeps Her House | Übersetzung aus dem Englischen von Karen Gerwig
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3 von 5
Gesellschaftskritischer Krimi

Val McDermid | 1979 – Jägerin und Gejagte (Band 1)

Val McDermid | 1979 – Jägerin und Gejagte (Band 1)

Die junge Reporterin Allie Burns fängt 1979 frisch bei einer Glasgower Zeitung an. Sie ist ehrgeizig und voller Ambitionen, aber Ende der 70er Jahre haben es Frauen in der männerdominierten Journalistenszene noch schwer. Bei dem fiktiven Boulevardblatt Clarion regiert der „Boys Club“ und die wenigen weiblichen Angestellten sind für die eher leichten Frauenthemen, Familiendramen oder das undankbare Witwenschütteln zuständig.

„Die Kleine hat recht. Wenn wir es auf diese Weise angehen, wird jede Frau in Dundee Gänsehaut bekommen. Ich mag das. Seht ihr, ich hab’s euch doch gesagt, Jungs. Die weibliche Perspektive mit einzubeziehen hat seine Vorteile.“ (Auszug Pos. 1211)

Allie findet in ihrem jungen Kollegen Danny Sullivan einen Verbündeten. Dieser recherchiert in einem brisanten Fall von Steuerbetrug und Geldwäsche im großen Stil, in deren Machenschaften ausgerechnet sein eigener Bruder verwickelt zu sein scheint. Er bittet Allie um Unterstützung und sie hilft ihm nicht nur mit ihren brillanten Formulierungskünsten. Auf einer Scottish National Party kommt Allie dann zufällig einer potenziellen Separatistengruppe auf die Spur, die mit logistischer Hilfe der IRA Anschläge planen, um die Unabhängigkeit Schottlands von Großbritannien voranzutreiben. Als Danny sich als angeblicher Finanzier in die Gruppe einschleust, geraten die beiden aufstrebenden Journalisten in Lebensgefahr.

Allie und Danny bilden ein gutes investigatives Team und betreiben ihre Recherchen typisch für die damalige analoge Welt noch mit Telefonbüchern und Straßenkarten. Mit großem Engagement wollen sie politische und gesellschaftliche Missstände aufdecken und nach den ersten Erfolgen fühlen sie sich schon auf den Spuren der „Watergate«-Journalisten Carl Bernstein und Bob Woodward.

Nostalgische Zeitreise in die 1970er Jahre
1979 ist der erste Band einer 5-teiligen Reihe über die Journalistin Allie Burns, die über 5 Jahrzehnte geplant ist und die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen Schottlands aufzeigt. Da die schottische Autorin selbst in dieser Zeit einige Jahre als Reporterin bei einer Lokalzeitung in Glasgow tätig war, kann sie wunderbar ihre persönlichen Erfahrungen aus der Welt der Medien einbringen. Auch wenn tatsächlich noch ein Mord passiert, steht in dem historischen Kriminalroman die journalistische Arbeit im Vordergrund und hat im Krimiteil schon seine Schwächen. So hatte ich noch mit einem Plottwist zum Ende gerechnet, der dann ausblieb. Der Erzählstil ist betont langsam, die Geschichte plätschert auch so vor sich hin, aber es ist dem Können der Bestseller-Autorin zu verdanken, dass ich es sehr genossen habe. 1979 ist vielmehr eine Zeitreise in ein Schottland, das neben wochenlangen Minusgraden, Schneestürmen sowie Stromausfällen auch mit immensen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hat. Die gesellschaftspolitischen Ereignisse dieser Zeit werden gekonnt wiedergegeben. Dabei wird Glasgow als eine Stadt der Gegensätze skizziert, in der extreme Armut neben unverhältnismäßigen Reichtum und Schönes neben Hässlichem existiert.

Speckbrötchen und klappernde Schreibmaschinen
Das erzählt Val McDermid sehr kleinteilig mit viel Nostalgie, wenn es um die tägliche Arbeit in den verrauchten Büros der Redaktion mit klappernden Schreibmaschinen und vielen fetttriefenden Speckbrötchen geht. Aber auch Homophobie, Frauenfeindlichkeit und andere Formen von Sexismus werden lebensnah beschrieben. 1979 steht Homosexualität in Schottland noch unter Strafe. Das erschwert die Lebensumstände des nicht offen schwul lebenden Danny erheblich und er steht auch privat unter permanentem Druck. Retro-Flair entsteht auch durch die Musik, die aus den Radios plärrt (es gibt eine Playlist am Ende des Buches) und Literatur, denn Val McDermid streut immer wieder Referenzen an Glasgows Literaten ein, zum Beispiel William McIlvanney, dessen legendärer Roman „Laidlaw“ 1977 den modernen schottischen Krimi begründete.

Der fesselnde Roman war für mich eine Wohltat in unserer schnelllebigen Zeit, in der sich alles verändert und vieles beängstigend oder zumindest unübersichtlich erscheint und man sich gerne der bereits abgeschlossenen Vergangenheit zuwendet. Die Geschichte, von McDermid souverän mit trockenem Humor erzählt, hat mich glänzend unterhalten und ich bin sehr neugierig auf nachfolgende Titel der Reihe, um zu sehen, wie Allie Burns sich weiterentwickelt, ihren eigenen Stil findet und sich in der männerdominierten Journalistenszene durchsetzt.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

1979 – Jägerin und Gejagte | Erschienen am 01.06.2022 bei Knaur
ISBN 978-3-426-52882-2
432 Seiten | 12,99 €
Als E-Book: ISBN B09KX9TTMT | 9,99 €
Originaltitel: 1979 | Übersetzung aus dem Englischen von Dr. Kirsten Reimers
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezension zu Val McDermids Roman „Das Grab im Moor

Ann-Helén Laestadius | Das Leuchten der Rentiere

Ann-Helén Laestadius | Das Leuchten der Rentiere

Man erzählte sich, dass am Vortag Schüsse vorm Dorf zu hören gewesen waren. Jemand behauptete, zwei, und jemand anders, drei gehört zu haben. Mitten am Tag. […] Es könnte sich um eine Person gehandelt haben, die einen tollwütigen Fuchs erschossen hatte, überlegte man im Laden. Oder es war jemand, der auf Rentiere schoss. Das sagte man nicht ganz so laut. (Auszug E-Book Pos. 2416)

Elsa ist neun Jahre alt, eine Sámi, lebt im Norden Schwedens, ihr Vater betreibt die traditionelle Rentierwirtschaft. Eines Tages im Januar 2008 fährt sie allein auf Skiern zum Rentiergehege und überrascht dort einen Wilderer aus dem Nachbardorf, der gerade ihr Ren Nástegallu gewildert hat. Der Mann bedroht Elsa mit der Geste einer durchgeschnittenen Kehle. Das Mädchen ist voller Angst und verschweigt den Namen des Täters, sowohl gegenüber ihrer Familie als auch bei der Polizei. Diese behandelt den Fall äußerst nachlässig als „Diebstahl“. Die Samen sind aufgebracht und fühlen sich schlecht behandelt. Die Nennung des Täternamens könnte endlich ernsthafte Ermittlungen in Gang setzen. Doch Elsa schweigt und setzt damit ungewollt die Zerreißprobe der Familie zwischen Tradition und Moderne fort.

Zehn Jahre später ist Elsa eine junge, moderne Erwachsene, die sich stärker mit den Verhältnissen auseinandersetzt. Die Rolle der Samen in der schwedischen Gesellschaft ist immer noch problematisch, die traditionelle Rentierwirtschaft stößt – auch aufgrund des Klimawandels – immer stärker an seine Grenzen, die Behörden handeln in Bezug auf die Samen weiterhin oftmals gleichgültig und innerhalb der samischen Gemeinschaft herrscht immer noch ein konservatives Familien- und Frauenbild. Das Problem der Wilderei ist immer noch virulent und endlich findet Elsa den Mut und die Kraft sich zu wehren und sucht die öffentliche Aufmerksamkeit. Doch dadurch bringt sie sich direkt ins Visier des Täters von damals.

Samisch zu sein bedeutete, seine Geschichte in sich zu tragen, als Kind vor dem schweren Rucksack zu stehen und sich zu entscheiden, ihn zu schultern oder nicht. Aber woher sollte man den Mut nehmen, sich für etwas anderes zu entscheiden, als die Geschichte der eigenen Sippe zu tragen und das Erbe weiterzuführen? (Auszug E-Book Pos. 2784)

Die Autorin Ann-Helén Laestadius ist selbst gebürtige Sámi und landete nach zahlreichen Kinder- und Jugendbüchern mit „Das Leuchten der Rentiere“ in ihrer Heimat einen großen Bestseller. Der Originaltitel „Stöld“ heißt übrigens ganz lakonisch „Diebstahl“ und bringt die enorme Diskrepanz zwischen den schwedischen Behörden, der Mehrheitsgesellschaft und den Samen auf den Punkt. Die Wilderei eines Rentiers wird schlicht als Diebstahl behandelt, für die Samen ist es aber viel mehr als das. Die Samen gehen mit ihren Tieren eine enge Verbindung ein, für sie ist die Wilderei ein direkter Anschlag auf ihre Lebensweise, auf ihre Identität.

Im Zentrum des Romans steht natürlich Elsa und ihre Familie, aber auch die Familie ihrer besten Freundin Anna-Stina. Beide Familien stehen noch für die klassische Lebensweise mit Rentierhaltung, bei der die ganze Familie hilft, aber in der Regel die Männer die Hauptarbeit erledigen und die Frauen überwiegend für Heim und Kinder sorgen. Doch Elsa ist gewillt dieses Schema zu durchbrechen, ihren eigenen Platz im Sameby, der samischen Gemeinschaft, zu finden, und sie lässt sich dabei nicht mehr den Mund verbieten. Als ihre beste Freundin sich fest liiert, schnell schwanger wird und sich offenbar freiwillig dem traditionellen Frauenbild unterwirft, ist Elsa sichtlich irritiert.

Der Roman ist in drei Teile unterteilt: Der erste endet – ohne zu viel spoilern zu wollen – mit dem Selbstmord eines Familienangehörigen, der alle Beteiligten in eine tiefe Krise stürzt, auch noch viele Jahre später. Die Frage der Identität, des Stolzes, aber vor allem der Last und Bürde, der Zukunftsängste, ist ein zentrales Element des Romans. Überhaupt dringt der Roman tief in die Köpfe der Figuren, die Bewältigung von Schuld und Angst, der schwierige Umgang zwischen Eltern und heranwachsenden Kindern, Selbstmordgedanken.

„Das Leuchten der Rentiere“ überzeugt auf vielerlei Ebenen, als Familiendrama, als Gesellschaftsroman und als Kriminalgeschichte. Die Autorin greift viele Themen auf, weiß diese aber effektiv im Roman zu verbinden. Die Gesellschaft der Samen wird dem Leser sehr eindrucksvoll nahegebracht. Dabei spielen Faktoren von außen oft eine entscheidende Rolle: Der latente Rassismus in Teilen der schwedischen Gesellschaft, mangelndes Interesse der Behörden, die Bedrohung durch den Klimawandel. Aber die Autorin verschweigt nicht die internen Probleme der samischen Gesellschaft: das Frauenbild, die „Rassismen“ innerhalb der Gemeinschaft, bei der immer noch stark auf Sippenzugehörigkeit abgestellt wird, die mangelnde Bereitschaft, sich bei psychischen Problemen Hilfe von außen zu holen. Und als roten Faden spinnt Ann-Helén Laestadius diesen Kriminalfall der Wilderei, der immer wieder hochkommt und am Ende eine wahrlich dramatische Wendung nimmt. Für mich ein sehr überzeugender Roman.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Das Leuchten der Rentiere | Erschienen am 04.10.2022 bei Hoffmann & Campe
ISBN 978-3-455-01294-1
448 Seiten | 25,- €
als E-Book: ISBN 978-3-455-01295-8 | 14,99 €
Originaltitel: Stöld | Übersetzung aus dem Schwedischen von Maike Barth und Dagmar Mißfeldt
Bibliografische Angaben & Leseprobe