Monat: Mai 2020

Simon Beckett | Die ewigen Toten Bd. 6

Simon Beckett | Die ewigen Toten Bd. 6

Die Fledermaus war sofort wieder verschwunden, doch sie hatte den Rechtsmediziner so erschreckt, dass er nach hinten stolperte und mit den Armen ruderte, als sein Fuß von den Trittplatten abrutschte… Whelan schaffte es, Conrads Handgelenk zu packen, und eine Sekunde lang glaubte ich, er hätte ihn. Dann gab, begleitet von einem lauten Krachen von Holz und Gips, ein Stück des Bodens nach, und Conrad verschwand.( Auszug Seite 36)

Es ist ein wirklich schauriger Ort, den Simon Beckett sich als Setting für seinen sechsten Band ausgesucht hat. Das alte, schon seit Jahren leerstehende stillgelegte Krankenhaus in einem heruntergekommenen Viertel im Norden Londons beherbergt mittlerweile nur noch Fledermäuse und manchmal Obdachlose oder Junkies. Gegen die Proteste von Tierschützern soll das verfallene St. Jude demnächst abgerissen werden, aber bevor die Abbrucharbeiten tatsächlich beginnen, wird eine Leiche auf dem Dachboden gefunden. Die Tote ist in Plastikfolie eingewickelt und aufgrund des vorherrschenden trockenen Klimas ist der Körper zu großen Teilen mumifiziert.

Auftritt David Hunter

Der forensische Anthropologe David Hunter wird als Sachverständiger hinzugezogen. Er entdeckt sofort, dass die Tote schwanger war. Die Bergung in dem baufälligen Gebäude gestaltet sich schwierig. Und so passiert es, dass der Rechtsmediziner Dr. Conrad bei der Begutachtung der Leiche durch die Decke in einen anderen Raum stürzt. Bei der Rettung des Kollegen treten große Probleme auf, denn dieser Raum ist nicht nur auf keiner Karte eingezeichnet, sondern verfügt auch über keine Fenster, Türen oder irgendeinen Durchgang. Als es der Rettungsmannschaft endlich gelingt, in die komplett zugemauerte Kammer einzudringen, treffen sie auf einen weiteren grausigen Fund. Eine männliche sowie eine weibliche Leiche liegen komplett bekleidet und gefesselt in den Krankenhausbetten und zeigen deutliche Anzeichen von Folterungen.

Ein Lost Place

Der Autor zieht alle Register um die unheimliche, bedrückende Atmosphäre des Lost Place darzustellen. Wir begleiten den Ich-Erzähler David Hunter durch die dunklen, schmutzigen, teilweise noch nicht leergeräumten Gänge in dem baufälligen Kasten bis zum Dachboden, in dem sich die Hitze wie in einer Sauna staut. Durch die düsteren, detailreichen Beschreibungen des Labyrinths entstehen beim Leser Bilder im Kopf und man riecht förmlich den feuchten Dreck und Staub, spürt die Spinnweben und man kann die grauenvollen Ereignisse der Vergangenheit fast spüren.

Mit Hilfe eines Leichenspürhundes wird das alte Hospital nach weiteren Opfern durchsucht. Das zieht sich über viele Seiten und generiert eine morbide Spannung. Hinter jeder Ecke könnten weitere Tote oder andere schreckliche Überraschungen lauern. Während sich die Medien auf den Fall stürzen, beginnt Dr. Hunter mit seiner akribischen Arbeit, die daraus besteht, dass er Schicht für Schicht die Geheimnisse der Leichen freilegt und aus den Knochen die Todesart und den Todeszeitpunkt herauslesen kann. Typisch für Simon Beckett werden die Untersuchungen der sterblichen Überreste detailliert beschrieben und dadurch schleppt sich der Plot im bedächtigen Erzähltempo mit wenigen Actionszenen voran. Das mag für den ein oder anderen eklig sein oder auch ermüdend. Man kennt es bereits aus den vorherigen Bänden und man muss es mögen. Jedenfalls wird hier der Thriller gehörig ausgebremst.

Der Gutmensch

Sehr viel Raum wird auch wieder David Hunter und seinen Befindlichkeiten gewidmet. Ein privates Forensik-Team wird ihm vor die Nase gesetzt und er muss sich mit einem jungen, sehr selbstbewussten Kollegen rumschlagen. Daniel Mears ist auch kein stinknormaler forensischer Anthropologe, sondern bezeichnet sich als forensischer Taphonom und was ihm an Erfahrung fehlt, macht er durch Arroganz wieder wett. Hunter hat endlich in Rachel eine neue Lebensgefährtin gefunden, die aber beruflich unterwegs ist und alleine leidet er immer wieder unter Panikanfällen und Albträumen, aufgrund eines Attentats auf ihn in einem früheren Band. Ich meine mich zu erinnern, dass das im zweiten Band Kalte Asche passierte und ich finde dieser Erzählfaden wird schon zu lange gesponnen.

Etwas anstrengend fand ich die Bemühungen des gutherzigen David um eine ältere Dame, die in einem Waldgebiet in der Nähe des Krankenhauses umherirrt. Die total verbitterte Lola Lennox, die mit der Pflege ihres schwerkranken, bettlägerigen Sohnes überfordert scheint, lehnt seine Hilfe aber ab und hier fand ich Davids Verhalten fast übergriffig. Natürlich begibt er sich durch seine Alleingänge auch wieder in Gefahr und muss zum Schluss noch einiges einstecken. Diese Szenen waren für mich am Rande des Erträglichen und ich wünschte, der Autor hätte endlich mal Mitleid mit seinem Protagonisten.

Ich habe diesen Mainstream-Thriller gerne gelesen, denn Simon Beckett erfindet hier nicht das Rad neu, aber er versteht sein Handwerk und führt routiniert durch die Story. Bis zum Ende gibt es noch einige Twists, die ich zwar nicht besonders glaubwürdig fand, die mich aber doch sehr überrascht und unterhalten haben.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Die ewigen Toten | Erschienen am 12. Februar 2019 bei Wunderlich im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-8052-5002-3
480 Seiten | 22.95 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Auch bei uns: Rezensionen zu den Simon Beckett-Titeln Der HofVoyeur und Totenfang.

R. P. Hahn | Der Korndämon

R. P. Hahn | Der Korndämon

Annika fuhr fort: „Also der Korndämon wartet im Feld auf Eltern mit kleinen Kindern. Und wenn die Eltern ihr Kind aus den Augen lassen, und sei es nur für einen winzigen Moment, zieht der Dämon es ins Feld. Und dann sieht man es nie wieder.“ (Auszug Seite 105)

Der Alkoholiker Richard Dreifürst sieht beim Überqueren einer Straße in Garz auf Rügen ein Auto, in dem ein Junge sitzt, dem Todesangst ins Gesicht geschrieben ist. Mit dieser Entdeckung geht Richard sofort zur Polizei, doch die Beamten glauben ihm nicht, da er in der Vergangenheit schon des Öfteren wegen Trunkenheit aufgegriffen wurde und nun vermuten sie, dass es sich bei dem Jungen auch nur um eine Wahnvorstellung im Suff handelt. Richard lässt sich davon aber nicht abbringen und versucht das Kind auf eigene Faust zu retten.

Keine Ermittlung von Polizisten

Der Korndämon von R. P. Hahn hat mich angesprochen, weil er auf der Ostseeinsel Rügen spielt. Interessant fand ich auch, dass es eben kein klassischer Kriminalroman ist, bei dem es um die Ermittlungen der Polizei geht, sondern dass sich eine Privatperson auf die Suche macht. Nach den ersten siebzig Seiten habe ich dann gedacht, wie der Autor mit dieser Geschichte über dreihundert Seiten füllen möchte, denn eigentlich ist schon fast alles erzählt. Ich habe aber weitergelesen, denn oft wurde ich schon nach solchen Gedanken überrascht. Diese Überraschung blieb hier allerdings aus.

Das Leben eines Alkoholikers

Im Grunde empfand ich das Buch weniger als einen Krimi, sondern eher als „Aus dem Leben eines Alkoholikers“. Natürlich geht es Richard in erster Linie um die Suche nach dem Jungen, aber immer wieder kommt ihm seine Sucht in die Quere und somit ist sein Tun schon von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Am Anfang fand ich es noch ganz interessant, aus dem Leben eines Alkoholikers zu lesen, aber spätestens nach der Hälfte fand ich es nur noch anstrengend. Richards persönliche Ermittlung wird zu einer Besessenheit und der Alkoholismus artet komplett aus. Keiner glaubt ihm so recht, Hilfe bekommt er trotzdem zeitweise.

Bis zum bitteren Ende

Das Mantra des Protagonisten „Und wenn ich Recht habe?“ treibt ihn trotz aller Widerstände weiter und auch obwohl der Spannungsbogen für mich auf der Strecke geblieben ist, wollte ich wissen, wie es ausgeht und ob er wirklich Recht hatte. So habe ich tapfer weitergelesen. Im Grunde kann man das Ende aber bereits erahnen, sonst hätte die Geschichte wirklich nach siebzig Seiten zu Ende sein können. Auf den letzten Seiten kommt dann doch noch etwas Spannung auf, also hat sich das Durchhalten gelohnt.

Fazit: Die Geschichte eines besessenen Alkoholikers, die am Schluss doch noch punkten kann.

R. P.Hahn stammt aus Niedersachsen und lebt heute mit seiner Familie in Fulda. Seine ersten Autorenarbeiten waren für das Fernsehen, wo er für Krimireihen wie „Tatort“, „Der Fuchs“ oder „Hubert und Staller“ zahlreiche Drehbücher schrieb. Auch der Pro Sieben-Thriller „Götterdämmerung“ stammt aus seiner Feder. Für sein Skript „Das letzte Streichholz“ bekam er 2007 den hessischen Drehbuchpreis.  Inzwischen hat R. P.Hahn sich vom Filmgeschäft weitestgehend zurückgezogen. Sein Schwerpunkt liegt heute auf dem Recherchieren und Schreiben von Romanen.

 

Rezension und Foto von Andrea Köster.

Der Korndämon | Erschienen am 2. März 2020 bei Piper
ISBN 978-3-492-50329-2
328 Seiten | 14.- Euro
Bibliographische Angaben und Leseprobe

Olga Tokarczuk | Gesang der Fledermäuse

Olga Tokarczuk | Gesang der Fledermäuse

Ich entschloss mich, heute trotz Schmerzen den Abhang hinaufzugehen und alles von oben zu betrachten. Sicher wäre die Welt noch an ihrem Ort. Vielleicht würde mich das beruhigen und bewirken, dass sich meine Kehle lockerte und es mir besser ginge. […] Ich blickte auf die schwarz-weiße Landschaft des Hochplateaus, und mir war klar, dass Traurigkeit ein wichtiges Wort bei der Definition der Welt war. Sie liegt allem zugrunde, sie ist das fünfte Element, die Quintessenz. (Auszug Seiten 59-60)

In einer kleinen Siedlung auf einem Hochplateau an der polnisch-tschechischen Grenze leben im Winter nur wenige Menschen, unter anderem Janina Duszejko und ihr Nachbar Matoga. Beide finden einen dritten Nachbarn jämmerlich an einem Rehknochen erstickt in seiner Hütte vor. Ein Unfall, wenngleich unter merkwürdigen Umständen. Die Polizei ermittelt nur kurz. Wenig später findet Janina die nächste Leiche, der ermittelnde Kommissar ist kopfüber in einen alten Brunnen am Wegesrand gestürzt. Rund um den Brunnen finden sich ganz viele Rehspuren. Janina ist sich sicher, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Schlägt etwa die Natur zurück? Sie ermittelt auf eigene Faust.

Janina Duszejko ist eine ältere Dame, die als Lehrerin für Englisch einige Stunden noch arbeitet. Sie lebt in einer kleinen Hütte in der abgelegenen Siedlung, in der die meisten Häuser nur im Sommer bewohnt werden. Regelmäßig besucht sie noch ein ehemaliger Schüler, mit dem sie Gedichte des von ihr geschätzten englischen Lyrikers William Blake (Auszüge aus den Gedichten ziehen sich symbolträchtig durch das ganze Buch) übersetzt. Ansonsten bleibt sie lieber unter sich und im Einklang mit der Natur. Sie gilt den meisten Mitmenschen als verschroben oder sogar Schlimmeres, denn sie spricht unter anderem mit den Tieren und widmet sich ausführlich der Astrologie. Vor allem prangert sie den Umgang der Menschen untereinander und vor allem gegenüber der Tierwelt an. Doch Gehör findet sie nicht.

Ich ging bis in den Wald hinein, dort hätte ich endlos herumstromern können. Im Wald war es plötzlich still, eine riesige und behagliche Tiefe tat sich auf, in der man sich gut verstecken konnte. Der Wald schaukelte meine Gedanken. Hier musste ich mein unangenehmstes Leiden nicht verstecken – mein Weinen. Ich konnte die Tränen fließen lassen, sie konnten die Augen spülen und die Sicht verbessern. Vielleicht konnte ich deshalb mehr sehen als Menschen mit trockenen Augen. (Seite 174)

Autorin Olga Tokarczuk ist Psychologin und die wohl aktuell wichtigste polnische Schriftstellerin. Im letzten Jahr gewann sie rückwirkend für 2018 den Literaturnobelpreis. Leider ging ihre Würdigung ein wenig im Streit um den anderen Preisträger dieser Doppelverleihung – Peter Handke – etwas unter. Das Nobelkomitee würdigte „ihre erzählerische Vorstellungskraft, die mit enzyklopädischer Leidenschaft das Überschreiten von Grenzen als Lebensform darstellt“. Eine Überschreitung sämtlicher Genregrenzen ist dabei ihr 2009 im Original erschienener Roman Gesang der Fledermäuse. Neben philosophischen und moralischen Betrachtungen, ein wenig Mystik, Gesellschafts- und Zivilisationskritik, handelt es sich hier in Teilen auch um einen Kriminalroman mit der schrulligen Janina als Ich-Erzählerin und Ermittlerin. Diese Figur mit ihrer Melancholie, dem immer mal durchscheinenden trockenen Humor, der verschrobenen Liebenswürdigkeit und großen Moral trägt für mich auch den Roman, der an manchen Stellen vielleicht etwas pathetisch und mystisch wird, aber in seiner kritischen Haltung für mehr Respekt gegenüber den Tieren und seinen Mitmenschen dennoch überzeugt. Insgesamt aber eine lesenswerte Begegnung mit der polnischen Nobelpreisträgerin.

Das Buch wurde übrigens von der bekannten polnischen Regisseurin Agnieszka Holland verfilmt. Die Spur (Originaltitel: „Pokot“) wurde 2017 bei der Berlinale uraufgeführt und gewann dort den Silbernen Bären. Der Film hält sich grundsätzlich an die Romanvorlage, Olga Tukarczuk war auch am Drehbuch beteiligt. Besonders eindrucksvoll war für mich die Inszenierung der Landschaft und Tierwelt und das Spiel von Agnieszka Mandat-Grąbka als Janina Duszejko. Ich fand den Film generell etwas plakativer in Sachen Feminismus, Zivilisationskritik und vor allem Kritik am Umgang mit Tieren. Die Kriminalhandlung, die im Buch noch deutlicher aufblitzt, kam mir im Film etwas zu kurz. Dennoch hat mir auch der Film gefallen.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Gesang der Fledermäuse | Erstmals erschienen 2010
Die aktuelle Ausgabe erschien am 28. November 2019 im Kampa Verlag
ISBN 987-3-311-10022-5
310 Seiten | 24.- Euro
Originaltitel: Prowadź swój pług przez kości umarłych
Bibliographische Angaben & Leseprobe, Filmtrailer „Die Spur“

Tawni O’Dell | Wenn Engel brennen

Tawni O’Dell | Wenn Engel brennen

„Da draußen ist ein Typ, der Sie unbedingt sprechen will.“ „Hat das mit unserem Mädchen zu tun?“ „Nein. Er will seinen Namen nicht nennen, aber er sagt, er hat ihre Mutter getötet.“ Er lässt die Schwere dieser Aussage wirken. Bestimmt erwartet er eine Reaktion von mir, aber von mir kommt nichts. „Alles in Ordnung, Chief? Glauben Sie, der Witzbold meint das ernst? Sollen wir mal nach ihrer Mutter sehen?“ „Meine Mutter wurde ermordet, als ich fünfzehn war.“ (Auszug Seite 26)

Wenn Engel brennen liegt jetzt schon etwas länger auf meinem SuB, irgendwie konnten mich der reißerische Titel und das Cover nicht so richtig überzeugen. Ein Fehler, denn der Kriminalroman hat mich restlos begeistert und zählt zu meinen absoluten Highlights. Es ist der sechste Roman der amerikanischen Schriftstellerin und ihr erster eindeutiger Kriminalroman. Tawni O’Dell stammt aus dem ländlichen Pennsylvania und hier in einer ehemaligen Bergbauregion ist auch die Geschichte verortet.

In dem fiktiven Städtchen Buchanan ist die 50-jährige Dove Carnahan Polizeichefin. Seit 27 Jahren ist sie in dem ländlichen Ort ihrer Kindheit tätig und meistens für Bagatellfälle zuständig. Das tote Mädchen, das in Campbell’s Run gefunden wird, ist nicht nur für sie das Schlimmste, was sie je gesehen hat. Die Geisterstadt ist eine von denen, in der früher der Bergbau und damit die Industrie florierten und vielen Menschen Arbeit gab. Schon seit langem verrotten hier die Maschinen, die Einwohner wurden umgesiedelt und ganze Siedlungen verfielen. Unter der Erde brennen seit Jahrzehnten noch etliche Kohleflöze, die nicht gelöscht werden können und dadurch wurden ganze Regionen unbewohnbar gemacht. An einigen Stellen bilden sich an der Außenseite Risse, schwelende Brände und giftige Rauchschwaden dringen an die Oberfläche.

In dieser verwüsteten Landschaft wird der Teenager mit eingeschlagenem Schädel und in eine Decke gehüllt in einer Erdspalte gefunden. Vorher wurde sie mit Benzin übergossen und angezündet. Dieser grausame Mordfall ist kein Fall für die kleine Polizeieinheit des Countys und der übergeordnete State Trooper Nolan Greely übernimmt.

Er wirkt wie der große, stämmige, humorlose Trooper, bei dem einem Autofahrer mulmig wird, wenn er ihn in seinem Außenspiegel sieht. Tatsächlich ist der Detective bei der Kriminalpolizei und trägt keine Uniform mehr, aber die braucht er auch gar nicht. Vom stahlgrauen Bürstenhaarschnitt bis zum gemessenen, zielstrebigen Gang ist er durch und durch Cop, da gibt es kein Vertun. Er bleibt vor mir stehen und mustert mich mit regloser Miene durch eine verspiegelte Sonnenbrille. (Auszug Seite 9)

Aber Chief Carnahan kennt das Milieu und die Menschen ihrer Gegend besser und sie findet schnell heraus, dass es sich bei dem Opfer um die junge Camino Truly handelt, Mitglied einer in der Gegend Polizei bekannten Familie der weißen Unterschicht. Die Lebensumstände dieser für den Landstrich typischen White-Trash-Familie werden durch Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, Drogen und Gewalt dominiert. Dabei schlug die hübsche und intelligente Camio aus der Art. Trotz der desolaten Familienumstände war sie ehrgeizig, wollte aufs College gehen und studieren. Sie hatte einen Job und einen gutaussehenden Freund aus der Mittelschicht. Diesen machen die Trulys sofort als Täter aus und wählen Selbstjustiz als geeignetes Mittel, während sich Camios Mutter Shawna in eine destruktive Gleichgültigkeit flüchtet. Die Trulys misstrauen der Polizei und verweigern trotzig die Zusammenarbeit. So treten die Ermittlungen lange auf der Stelle und Chief Carnahan beißt sich die Zähne aus.

Von diesen Kindern erreichten sechs das Erwachsenenalter, fünf kamen nicht ins Gefängnis, vier hielten sich vom Crack fern, drei arbeiteten zeitweise, zwei tranken nicht, und einer fand zu Jesus. Alle pflanzten sich eifrig fort. (Auszug Seite 47)

Der Fall weckt bei der Ich-Erzählerin Dove Carnahan lang verdrängte Erinnerungen, denn auch sie stammt aus schwierigen Verhältnissen. Ihre promiskuitive Mutter hatte sich mehr für sich und ihre Schönheit interessiert und Dove und die jüngeren Geschwister Neely und Champ stark vernachlässigt. Als Dove 15 Jahre alt war, wurde ihre Mutter von einem ehemaligen Liebhaber erschlagen. Dieser hatte immer seine Unschuld beteuert und kommt jetzt nach 35 Jahren aus dem Gefängnis frei. Er taucht sofort in Buchanan bei Chief Carnahan auf und will wissen, warum Dove und Neely ihn damals durch ihre Lügen ins Gefängnis gebracht haben.

Wenn die 50-jährige Polizeichefin zusammen mit Nolan Greely in diesem Konglomerat aus Familienstreitereien, Gewalt und Inzest herausfindet, wer für die Tat verantwortlich ist, werden die Schicksale beider Familien, die Trulys und die Carnahans, nach und nach enthüllt. Dabei wird deutlich, dass die meisten Tragödien in der Familie als eingeschworene Gemeinschaft passieren.

Tawni O’Dell ist hier nicht nur ein wendungsreicher, spannender Kriminalroman und ein lupenreiner Whodunnit gelungen, sondern auch eine Sozial- und Milieustudie. Sie erzählt pointiert und empathisch von einem heruntergewirtschafteten Landstrich, dem sogenannten „Rust Belt“ und dessen Einwohnern, die keine Hoffnung auf eine Zukunft mehr haben, die sich abgehängt und von der Politik verraten fühlen.

Ihr Kriminalroman lebt dabei von seinen Kleinstadtfiguren, die Tawni O’Dell mit viel Menschenkenntnis, Einfühlungsvermögen sowie einem messerscharfem Blick porträtiert. Sie punktet besonders mit der unkonventionellen, taffen Single-Frau Dove Carnahan. Die Protagonistin hat sich durch ihr tragisches Schicksal nicht unterkriegen lassen und, obwohl sie teilweise abgebrüht und zynisch wirkt, Mitgefühl und Selbstironie beibehalten.

Fast lässig und mit einem intensiven, literarischen Erzählstil schiebt die 55-jährige Autorin diese Geschichten ineinander und macht daraus einen intelligent geplotteten Country Noir. Eine grandiose Hauptfigur hat Tawni O’Dell hier geschaffen, die das Zeug zur Serienfigur hat und folgerichtig schreibt sie schon an einer Fortsetzung.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Wenn Engel brennen | Erschienen am 15. Juli 2019 bei Ariadne im Argument Verlag
ISBN 978-3-8675-4239-5
352 Seiten | 21.- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Rieke Husmann | Inselerbe Bd. 4

Rieke Husmann | Inselerbe Bd. 4

Hella rollte mit den Augen. „Mach es nicht so spannend!“
„Fünf Personen sollen erben. Vier von ihnen leben auf Wangerooge. Ich vermute, es sind Freunde oder etwas Ähnliches. Eine Person wohnt in Wittmund. Ich habe sie noch auf einer anderen Liste gefunden.“
„Mitarbeiterin des Pflegeheims?“
„Richtig! Annette Petersen. Sie erbt zwanzigtausend Euro. (…)“ (Auszug Seite 28)

Im Wittmunder Pflegeheim wird die Bewohnerin Edda Detlefsen tot aufgefunden. Die Ärztin, die den Totenschein ausstellen soll, stellt bei der Untersuchung allerdings fest, dass es sich um keinen natürlichen Tod handelt, Frau Detlefsen wurde erstickt. Die Ermittlungen übernimmt Hella Brandt, die Leiterin der Kriminalpolizei in Wittmund, und ihr Kollege Lars Mattes. Nach den ersten Recherchen stellt sich heraus, dass die Seniorin noch bis vor kurzem mit einigen Künstlerfreunden auf Wangerooge gelebt hat. Ist das Motiv des Mordes das Erbe?

Ermittlungen an erster Stelle

Inselerbe von Rieke Husmann ist bereits der vierte Fall um die Kommissarin Hella Brandt. Es handelt sich hier um einen klassischen Kriminalroman in dem die Ermittlung absolut im Vordergrund steht. Ich bekam einen guten Einblick in die Polizeiarbeit, vor allem wie viel Arbeit einzelne Recherchen bedeuten und dieser Aufwand oft nicht mit Erfolg gekrönt wird. Etwas auffällig fand ich, dass bei ganz vielen Informationen, die benötigt wurden, irgendeiner noch einen alten Schulfreund hat, der schnell weiterhelfen kann oder einen ehemaligen Kollegen, der unter der Hand eben mal Auskunft gibt.

Eine schwangere Kommissarin

Das Privatleben der Protagonistin wird ab und zu gestreift. Sie wohnt außerhalb von Wittmund direkt hinter dem Deich in einer alten Kate mit ihrem Freund zusammen und ist aktuell schwanger. In den gemeinsamen Gesprächen geht es oft um die zukünftigen Elternrollen, da Hella recht schnell nach der Geburt in den Job zurück möchte und ihre Arbeit nicht ganz ungefährlich ist. Grundsätzlich sind mir Hella und auch ihr engster Kollege Lars sehr sympathisch. Besonders gut finde ich, wie Hella mit ihrem Stellvertreter umgeht, der sich aufgrund der Schwangerschaft schon auf ihrem Posten sieht, nämlich sehr direkt und klar.

Guter Lesefluss

Die Geschichte liest sich sehr flüssig und leicht und die Autorin verliert keine Zeit mit unnötigen Landschaftsbeschreibungen oder schmückt Szenen besonders umfangreich aus. Das treibt die Handlung recht gut voran und es kommt zu keinen Längen beim Lesen, aber ab und zu ein paar Sätze oder gar Seiten mehr hätte ich auch nicht schade gefunden.

Fazit: Gut zu lesender Kriminalroman, in dem die Ermittlungen im Vordergrund stehen und sich nicht mit umständlichen Beschreibungen aufgehalten wird.

 

Rezension und Foto von Andrea Köster.

Inselerbe | Erschienen am 20. Februar 2020 im Emons Verlag
ISBN 978-3-7408-0867-9
240 Seiten | 12.- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe