Willem Frederik Hermans | Die Dunkelkammer des Damokles

Willem Frederik Hermans | Die Dunkelkammer des Damokles

Als ich ihn zum ersten Mal sah, dachte ich: So wie dieser Mann ist, so müßte ich sein. Verstehst du, es ist gar nicht so leicht, das auszudrücken, aber ich meine so ungefähr wie in einer Fabrik, wo ein bestimmter Gegenstand hergestellt wird: Hin und wieder mißlingt einer, ein zweiter wird gemacht, der in Ordnung ist, und das mißlungene Exemplar wird weggeworfen…
Nur, mich haben sie nicht weggeworfen, ich habe weitergelebt, wenn auch mißlungen. Ich habe nie gewußt, daß ich das mißlungene Exemplar bin, bis ich Dorbeck begegnet bin. Von da an wußte ich es. Von da an wußte ich, daß er das gelungene Exemplar ist, daß ich im Vergleich mit diesem Mann keine Existenzberechtigung hatte, daß ich mich nur zu einem annehmbaren Menschen entwickeln konnte, indem ich genau das tat, was er wollte. Ich habe alles getan, was er von mir verlangt hat, und das ist nicht wenig…nein, nicht wenig… (Auszug Seite 196-197)

Henri Osewoudt betreibt einen kleinen Tabakladen in Voorschoten, als wenige Tage nach dem deutschen Überfall auf die Niederlande im Mai 1940 der niederländische Offizier Dorbeck sein Geschäft betritt und ihn bittet, einen Film zu entwickeln und seine Uniform zu verstecken. Von da an erhält Osewoudt weitere Anweisungen von Dorbeck, die er zuverlässig ausführt, sogar als Dorbeck ihn zum Mord anstiftet. Osewoudt wird sogar von den Deutschen verhaftet, kann aber fliehen und sich im April 1945 in den bereits befreiten Teil der Niederlande durchschlagen. Dort angekommen wähnt er sich als Held des Widerstands und muss fassungslos feststellen, dass er als Verräter verhaftet wird.

Die Dunkelkammer des Damokles gilt als einer der bekanntesten und bedeutendsten niederländischen Romane. Der Autor Willem Frederik Hermans zählt zu den „Groten Drie“ der niederländischen Nachkriegsliteratur (zusammen mit Harry Mulisch und Gerard Reve). Er wurde 1921 in Amsterdam geboren. Seine Kindheit war geprägt durch eine schwieriges Verhältnis zu seinem Vater und seiner älteren Schwester. Ihr Selbstmord und der deutsche Einmarsch in die Niederlande im Mai 1940 bildeten eine Zäsur in seinem Leben. Hermans veröffentlichte während der Besatzungszeit Erzählungen und Gedichte in Untergrundzeitschriften. Mit seinem zweiten Roman Die Tränen der Akazien (1949) stellte er zum ersten Mal den heroischen niederländischen Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht in Frage, was er später in Die Dunkelkammer des Damokles wieder aufgreifen wird. Beide Romane zeugen außerdem von einer zutiefst pessimistischen, misanthropischen Weltsicht des Autors. Hermans war zeitlebens eine streitbare Figur, der vor Provokation und Polemiken nicht zurückschreckte. So war 1952 sein Roman über die Rolle der Niederlande im indonesischen Unabhängigkeitskrieg Ik heb altijd gelijk Gegenstand eines Gerichtsverfahrens. Er ignorierte unter anderem den kulturellen Boykott des südafrikanischen Apartheidregimes und schied 1973 im Streit mit der Universität Groningen, wo er Geografie lehrte, und verfasste als Abrechnung den Schlüsselroman Unter Professoren. Im gleichen Jahr kehrte er unter großem Getöse der Niederlande den Rücken und ging nach Paris ins Exil, später nach Brüssel. Kurz vor seinem Tod kehrte er in sein Heimatland zurück und starb am 27. April 1995 in Utrecht. Zu den Hobbys des Autors zählten neben dem Sammeln von Schreibmaschinen auch das Fotografieren und die Entwicklung von Filmen, ein Thema, das er in „Die Dunkelkammer des Damokles“ einbaut.

Sein Protagonist Henri Osewoudt ist zu Beginn des Buches gerade mal zwölf Jahre alt, als er nach Hause kommt und eine Menschenmenge vor dem Tabakladen seines Vaters vorfindet. Sein Vater wurde von seiner Mutter erstochen, diese wurde in die Psychiatrie eingewiesen. Er wächst bei seinem Onkel Bart auf und wird von seiner deutlich älteren, hässlichen Cousine Ria verführt beziehungsweise missbraucht. Als er 18 wird, heiratet er Ria, übernimmt den Tabakladen und holt seine Mutter aus der Psychiatrie. Dies geschieht auf wenigen Seiten und zeigt bereits den Charakter Osewoudts als vom Schicksal gebeutelt und antriebslos. Als der Offizier Dorbeck sein Geschäft betritt, ist es für Osewoudt, als begegne er einem besseren Ebenbild. Dorbeck sieht ihm frappierend ähnlich, aber im Gegensatz zu ihm hat er dunkles Haar, einen Bart (während bei ihm kein Barthaar wächst) und einen Plan, eine Lebensvorstellung. Völlig arglos lässt sich Osewoudt von seinem Doppelgänger ohne eigenen ideologischen Antrieb instrumentalisieren und setzt damit ohne es zu wollen eine Maschinerie in Gang, die ihm später zum Verhängnis wird.

Er drehte sich um, noch ehe Moorlag das Zimmer verlassen hatte. Vaterland, was ist das? Dachte er. Die blaue Straßenbahn? Die gelbe Straßenbahn? Sie fahren heute ebensogut wie früher, nur abends mit weniger Licht. (Seite 78)

Denn als er später als Verräter verhaftet wird, versucht Osewoudt verzweifelt, Dorbeck als Auftraggeber anzugeben. Niemand kennt Dorbeck oder will niemand ihn kennen? Ist Dorbeck gar nur eine Ausgeburt Osewoudts Fantasie? Die Ankläger sind durchaus gewissenhaft, gehen Osewoudts Angaben nach, aber letztendlich bleibt Dorbeck unauffindbar. Ein faszinierender, alptraumhafter Plot, bei dem sich auch der Leser fragt: Was ist denn jetzt die Wahrheit, was ist Paranoia? In seinem Nachwort beschreibt Cees Noteboom dies als Quintessenz: „Unbeweisbare Unschuld, Personenverwechslungen, Rätsel, die nicht gelöst werden, unentrinnbares Schicksal, surreale Plots und immer wieder Menschen in ihrer hilflosen Kleinheit als Opfer von ‚Mutwillen und Mißverständnis‘, ohne dass eine Katharsis in Sicht wäre.“

Was ist der Sinn meines Lebens, erwiderte Osewoudt, wenn ich mit einem Fluch geboren werde und diesen Fluch nicht anders als durch Gnade loswerden kann? Soll ich dafür leben: um zwei Geschenke zu bekommen, die sich gegenseitig aufheben, obwohl ich überhaupt nicht um Geschenke gebeten habe? Ich habe um nichts gebeten. Ich habe auch nicht darum gebeten, zu leben. Ich habe nicht darum gebeten, geboren zu werden, ich habe nicht darum gebeten, bei meiner Geburt verflucht zu werden, und bitte bei meinem Tod auch nicht darum, begnadigt zu werden. Wenn mir ohnehin keine andere Möglichkeit bleibt, als zu sterben, bin ich auf Gnade nicht mehr angewiesen: Mit dem Ende meines Lebens endet auch der Fluch. (Seite 367)

Ist Die Dunkelkammer des Damokles auf den ersten zwei Dritteln überwiegend ein thrillerhafter Weltkriegsroman, dominieren vor allem im letzten Teil die existentialistischen und philosophischen Aspekte. Die Frage nach der eigenen Identität, nach Schuld und Moral, beziehungsweise deren Nichtexistenz. Ich habe den Roman für dieses „Niederlande/Flandern“-Wochenende nun schon zum zweiten Mal gelesen und bin immer noch fasziniert.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

 

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Die Dunkelkammer des Damokles | Erstmals erschienen 1958, die gelesene Ausgabe erschien am 15. August 2016 im Aufbau Verlag
ISBN 978-3-35103-657-7
383 Seiten | 22,95 Euro

Bibliographische Angaben & Leseprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen des Mini-Spezials Ein langes Wochenende mit … Spannungsliteratur aus den Niederlanden und Flandern.

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  1. Ein durchaus „heftiger“ Roman – ich brauchte einige Anläufe, bis ich ihn ganz durchgelesen habe – einerseits hat er mich fasziniert, andererseits auch weggestoßen … die Besprechung ist klasse, erläutert sie mir doch auch noch einiges über den Autoren, das zum Gesamtbild einfach gehört.

  2. Ich habe die ersten beiden Drittel geschafft, aber irgendwie geht es nicht so recht weiter… obwohl sich das letzte dann doch interessant anhört. Mal sehen, ob ich am Wochenende noch einen Versuch starte, solange der Rest noch präsent ist. Deine Rezension gibt nochmal etwas Auftrieb, danke 🙂

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