Kategorie: gesellschaftskritischer Krimi

Abgehakt | Kurzrezensionen März 2023

Abgehakt | Kurzrezensionen März 2023

Kurzrezensionen März 2023

 

Friedrich Ani | Bullauge

Kay Oleander ist Polizist bei der Schutzpolizei in München. Bei einer Demonstration von „besorgten Bürgern“ eskaliert die Lage leicht, er wird von einer Glasflasche am Kopf getroffen, in der Folge verliert er ein Auge. Immer noch krank geschrieben, traumatisiert, allein stehend, verschafft er sich Zugang zu den Ermittlungsakten. Ein Täter wurde bislang nicht ermittelt, allerdings einige Zeugen vernommen, die sich verdächtig verhalten haben. Eine davon ist Silvia Glaser, auf die Oleander vor ihrem Haus trifft. Beide kommen ins Gespräch. Glaser offenbart ihm, dass sie in den Dunstkreis einer extremen Partei geraten ist, und bittet ihn, ihr dort herauszuhelfen.

Friedrich Ani ist der Mann der leisen Zwischentöne, der psychologischen Profile. Das zelebriert er hier auch ausgiebig. Sowohl Oleander als auch Glaser verbindet einiges, beide sind nach einem Unfall versehrt, noch etwas traumatisiert, ähnlich einsam und vom Leben enttäuscht. Das ist ohne Frage gut geschrieben, erschien mir von der Figurenkonstellation zu konstruiert und war mir auch irgendwie deutlich zu langatmig und spannungsarm. Doch im letzten Drittel bringt Ani dann einen Drive in die Story und am Ende noch einen bösen Twist, der den Leser nicht kalt lässt. Das hat mich dann doch überzeugt. Insofern ein Roman, bei dem man trotz der wenigen Seiten ein wenig dranbleiben muss, das Ende entschädigt dann aber für vieles.

 

Bullauge | Erschienen am 28.10.2022 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-7857-2811-6
366 Seiten | 16,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5
Genre: Krimi

 

Kim Young-ha | Aufzeichnungen eines Serienmörders

Byongsu Kim ist pensionierter Tierarzt, verbringt seine Zeit inzwischen mit Literatur, schreibt selbst gerne Gedichte. Der Siebzigjährige hat allerdings auch eine Vergangenheit als Serienmörder. Bis zum Alter von 45 Jahren hat er gemordet und wurde nie gefasst. Seit einem schweren Verkehrsunfall hat er dies beendet und die kleine Tochter seines letzten Opfers adoptiert und großgezogen. Zuletzt wurde bei ihm Demenz diagnostiziert, die stetig voranschreitet. Bei einer zufälligen Begegnung trifft Kim auf einen Mann, in dem er ebenfalls einen Serienmörder erkennt. Kurz danach kommt seine Tochter ausgerechnet mit diesem Mann als Verlobtem nach Hause. Kim versucht nun fieberhaft bei fortschreitender Demenz seine Tochter zu beschützen und wenn er bei diesem Mann nochmal selbst zum Mörder werden muss.

„Aufzeichnungen eines Serienmörders“ war in Korea ein Bestseller, auch die Verfilmung war erfolgreich und auch in der deutschen Übersetzung für den auf ostasiatische, insbesondere japanische Literatur spezialisierten Cass Verlag ein großer Erfolg. Der Titel ist dabei wörtlich zu nehmen. Byongsu Kim erzählt aus der Ich-Perspektive in kurzen, knappen Absätzen, in denen sich aktuelle Ereignisse, Erinnerungen aus naher oder ferner Vergangenheit und philosophische und lyrische Einschübe abwechseln. Dabei bringt der Erzähler auch immer blitzlichthaft wieder Einsichten in die koreanische Gesellschaft, vor allem der Vergangenheit. Der Reiz des Romans liegt zum großen Teil in der Person des Byongsu Kim, dem man zunehmend mitleidvoll beim „Verschwinden“ zusieht. Das Thema Demenz ausgerechnet bei einem ein Serienmörder ohne Reue durchzuspielen, ist eine ungemein pfiffige Idee, sehr virtuos umgesetzt. Aber Vorsicht an die Leser: Ob ein dementer Siebzigjähriger ein so zuverlässiger Erzähler ist? Mit weniger als 200 Seiten ein ziemlich schmaler, aber dafür aber umso feiner und nachhallender Roman.

 

Aufzeichnungen eines Serienmörders | Erschienen am 27.09.2020 im Cass Verlag
ISBN 978-3-944751-22-1
152 Seiten | 20,- €
Die gelesene Ausgabe erschien 2022 bei der Büchergilde Gutenberg
Originaltitel: Sakinja-ui gieok-beob | Übersetzung aus dem Koreanischen von Inwon Park
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 4,5 von 5,0
Genre: Spannungsroman

 

 

Peter Papathanasiou | Steinigung

Cobb ist eine vergessene, heruntergekommene Kleinstadt im heißen Outback Australiens. Landflucht, Alkohol, Drogen, Armut nagen am Gemeinwohl, die Installierung eines Internierungslagers für Asylsuchende hat zudem auch nicht wirklich neue Jobs gebracht, stattdessen zusätzliche Probleme. Da wird Cobb von einer brutalen Gewalttat erschüttert. Molly Abbott, beliebte Grundschullehrerin, wird brutal gesteinigt aufgefunden. Aus der Großstadt kommt der Detective George Manolis, um die Dorfpolizisten zu unterstützen. Manolis ist selbst in Cobb aufgewachsen, ehe seine Familie überstürzt den Ort verlassen hat. Manolis sieht sich einer widerwilligen, feindseligen Atmosphäre ausgesetzt. Für viele Bewohner steht fest: Der Mörder kommt aus dem Internierungslager, dem „Braunenhaus“, in dem die Tote Englischunterricht gegeben hat – was vielen allerdings nicht gefallen hat.

Der Debütroman des australischen Autors Peter Papathanasiou führt den Leser tief in die gesellschaftlichen Probleme Australiens. Sehr spannend konstruiert er ein Setting, in dem Nachfolger der Ureinwohner (Constable Sparrow), der ersten Siedler (man erinnert sich: Das waren vor allem Strafgefangene), der Einwanderer im 20.Jahrhundert (Detective Manolis) und die Flüchtlinge von heute aufeinander treffen. Dabei kreiert der Autor eine Reihe interessanter Figuren.

Manolis muss gegen eine Reihe von Widerständen ankämpfen, ihm begegnet Hass, Aggression, verhüllter und offener Rassismus. Am Erschütterndsten erscheint aber der bürokratisch-unterdrückende Umgang des Staates mit den Asylsuchenden, denen keine echte Perspektive geboten wird und die im Lager von Wachpersonal umgeben sind, die allzu gerne ihre Macht missbrauchen. Insgesamt ein lohnendes Debüt mit stark gesellschaftskritischem Unterton aus Australien.

 

Steinigung | Erschienen am 15.03.2023 im Polar Verlag
ISBN 978-3-492-06345-6
304 Seiten | 17,- €
Als E-Book: ISBN 978-3-498392-70-3 | 12,99 €
Originaltitel: The Stoning | Übersetzung aus dem Englischen von Sven Koch
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5
Genre: Gesellschaftskritischer Krimi

Rezensionen 1-3 und Fotos von Gunnar Wolters.

 

Kathleen Kent | Der Weg ins Feuer

„Der Weg ins Feuer“ ist der zweite Thriller um die junge Polizistin Betty Rhyzyk vom Dallas Police Department und schließt einige Monate nach den traumatischen Erlebnissen aus dem ersten Band an. Betty, die immer noch unter den körperlichen wie psychischen Verletzungen leidet, darf endlich wieder ihren Dienst im Drogendezernat aufnehmen, wird von ihrem neuen Chef, dem ehemaligen Mordermittler Marshall Maclin erst mal in den Innendienst gesetzt. Auf die Straße darf sie erst wieder, wenn sie einige Therapiestunden beim Polizeipsychiater abgesessen hat. Doch Betty will sich keine Schwäche eingestehen, dabei hat sie auch den Freitod ihres Bruders noch nicht wirklich verarbeitet. Mit ihrer schroffen Art, die man schon aus dem ersten Band kennt, stößt sie auch ihrer geliebten Frau Jackie immer wieder vor den Kopf.

Im Fokus des ganzen Buches steht Betty und die Kriminalgeschichte gerät fast in den Hintergrund. In Dallas rivalisieren Drogenkartelle mitaneinander und Dealer werden auf offener Straße erschossen. Als ein Informant und Junkie ermordet wird und Gerüchte auftauchen, ein Cop wäre involviert, beginnt Betty auf eigene Faust zu ermitteln. Als Leser*in sind wir immer dicht bei ihr, wenn sie sich in die einschlägigen Clubs der Szene oder auch in den Untergrund und damit erneut in große Gefahr begibt. Ihre Kollegen werden von ihr genau beobachtet und es ist ausgerechnet ihr Freund und Kollege Seth, der scheinbar etwas zu verbergen hat. Wenn Betty wiederholt Maclins Anordnungen missachtet und Verdachtsmomente vorenthält, Sitzungen beim Psychologen absagt oder einen Tatort betritt, ohne Verstärkung anzufordern, ist das teilweise schwer zu ertragen. Dabei zeigt sie auch oft ihr weiches Herz, mischt sich in Fällen häuslicher Gewalt ein und nimmt Obdachlose auf.

Man kann diesen zweiten Teil ohne Vorkenntnisse des ersten Teils lesen, ich würde aber dazu raten, sie in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Trotz einiger Thriller-Klischees, die bedient werden, ist der Autorin ein spannender und temporeicher Thriller um eine außergewöhnliche Ermittlerin gelungen, der einen Blick in die Abgründe der Drogenkriminalität bietet. „Der Weg ins Feuer“ wird von den starken Charakterisierungen seiner Figuren getragen und zieht seine Intensität aus dem Drama in Bettys Leben, die zum Vorgänger eine glaubhafte Entwicklung durchmacht.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Der Weg ins Feuer | Erschienen am 13.02.2023 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-47296-5
359 Seiten | 16,95 €
Originaltitel: The Burn | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Andrea O’Brien
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 4 von 5
Genre: Thriller

 

 

Claudia Piñeiro | Kathedralen

Claudia Piñeiro | Kathedralen

Sobald ich lese, dass Ana zuletzt so etwas zugefügt wurde, vergesse ich es wieder. Am liebsten würde ich es nie wieder lesen müssen. Sosehr ich mich anstrenge, diese Lücke kann ich nur durch Erfindungen schließen, denn hierzu verfüge ich über keinerlei Erinnerungen, weder in meinem Kurzzeit- noch in meinem Langzeitgedächtnis. Mein Leben kann ich nur im Plusquamperfekt erzählen – alles, was vor dem Unfall passiert war. Ich war gegangen, ich hatte gesehen, ich war gewesen. Ana war in meinen Armen gestorben. (S. 113-114)

Lía Sardá ist Argentinierin, lebt aber schon seit einiger Zeit als Buchhändlerin in Santiago de Compostela. Zu ihrer Familie hat sie jeglichen Kontakt abgebrochen, lediglich zu ihrem Vater hält sie per Brief Kontakt. Auslöser war der Tod ihrer jüngsten Schwester Ana, die als 17jährige verbrannt und zerstückelt auf einer Müllhalde aufgefunden wurde. Der fatalistische, schicksalsergebene Umgang ihrer streng katholischen Familie mit Anas Tod hat Lía tief getroffen und innerhalb der Familie isoliert, sodass sie schließlich nach Spanien emigrierte. Sie hofft bis heute vergeblich, dass die Umstände von Anas Tod aufgeklärt werden. Da taucht nach dreißig Jahren plötzlich ihre älteste Schwester Carmen mit ihrem Mann Julián in der Buchhandlung auf. Sie vermissen ihren Sohn Mateo, der sich auf eine längere Europareise begeben hatte und auf Wunsch seines inzwischen verstorbenen Großvaters auch bei Lía vorbeikommen sollte. Mateos Mission war ursprünglich nur, den großen europäischen Kathedralen nachzuspüren, doch Carmen ahnt, dass nun das große Trauma der Familie nochmal endgültig auf den Tisch kommt.

Claudia Piñeiro kam mir zum ersten Mal mit „Der Privatsekretär“ in die Hände. Ein Politthriller, der mich genauso überzeugte wie später eine Lektüre des älteren Romans „Die Donnerstagswitwen“. Piñeiro zählt heute zu den erfolgreichsten argentinischen Autoren, arbeitet auch als Regisseurin und beim Theater. Ihre gesellschaftskritischen, dramatischen Romane sind oftmals in eine Kriminalgeschichte eingebettet und bewegen sich meist am Rande des Genres. Auch „Kathedralen“ ist ein solches Werk, dass sich einer klaren Genreidentifizierung verweigert. „Catedrales“ gewann 2021 den spanischen Krimipreis „Premio Hammett“.

Der Roman ist vielstimmig. Insgesamt sieben Personen kommen in eigenen Abschnitten zu Wort und erzählen als Ich-Erzähler:in aus ihrem Blickwinkel auf eine familiäre Tragödie. Der brutale Tod von Ana zerreißt die Familie Sardá, die Mutter und Carmen vergraben sich in ihrer tiefen Religiösität, der Vater bleibt lethargisch. Lía rebelliert gegen die Religiösität, will Antworten, will wissen, wie ihre Schwester ums Leben kam. Niemand gibt ihr Antworten, die Familie ist nicht mehr heil, aber die Fassade soll dennoch aufrecht erhalten werden. Nun ergibt sich mit Mateo, Carmens Sohn, mit der neuen Generation die Gelegenheit, doch noch Licht ins Dunkle zu bringen. Claudia Piñeiro gibt jeder Person eine eigene Stimme, einen eigenen Ton. Abstriche gibt es in Sachen Spannung, der Leser ahnt bald, worauf es hinausläuft, ohne dass aber dadurch die Enthüllung an Erschütterung verliert.

Das brauche ich aber nicht der ganzen Welt erklären, Rechenschaft über mein Tun muss ich ohnehin erst später, an anderer Stelle ablegen. […] Ich lasse mir von niemandem ausreden, dass unser Tun ein Akt der Liebe war, des Selbstschutzes. (S.263)

Wie schon in anderen Romanen erzählt die Autorin von Doppelmoral und Heuchelei, dieses Mal in direktem Bezug zur tiefen, fast fanatischen Religiösität und zum immer noch präsenten Machtanspruch der katholischen Kirche über die argentinische Gesellschaft. Dabei porträtiert sie eine Familie, die aufgrund dieser Umstände ein extremes Trauma erfährt und vollkommen zerrissen wird. Das ist wie immer bei Claudia Piñeiro präzise und tiefgründig erzählt und erhält durch die ausgewählten Erzähler:innen besonderen Reiz.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Kathedralen | Erschienen am 30.01.2023 im Unionsverlag
ISBN 978-3-293-00592-1
313 Seiten | 22,95 €
Originaltitel: Catedrales (Übersetzung aus dem Spanischen von Peter Kultzen)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Büchern von Claudia Piñeiro

Percival Everett | Die Bäume

Percival Everett | Die Bäume

Im laufenden Februar wird in den USA „Black History Month“ zelebriert. Ein ganzer Monat als Nabelschau auf die afroamerikanische Historie und Kultur und dadurch auch zwangsläufig auf die jahrhundertelange Diskriminierung durch die weißen Amerikaner. Wir Europäer schauen darauf mit einer gewissen morbiden Faszination und leicht kopfschüttelnd, ungeachtet unserer eigenen Diskriminierungsprobleme. Doch so richtig tief in die Historie schauen wir von dieser Seite des großen Teichs nicht unbedingt, doch das Schicksal von Emmett Till könnte auch bei uns ein Begriff sein.

Emmett Till war ein 14jähriger Junge aus Chicago. Im August 1955 war zu Besuch bei seinem Onkel in Money, Mississippi. Nach dem Einkauf in einem Lebensmittelladen wurde Emmett beschuldigt, sich der weißen Ladenbesitzerin Carolyn Bryant gegenüber unsittlich geäußert zu haben. Eine Lüge, wie die Frau Jahrzehnte später zugab. Ihr Mann Roy und sein Halbbruder John William Milam drangen einige Tage später mit Waffen ins Haus des Onkels ein und nahmen Emmett mit. Tage später wurde Emmetts misshandelter Leichnam von Angler entdeckt. Das Bild des toten Jungen ging um die Welt. Die Empörung wurde noch größer, als die beiden Täter in einem skandalösen Prozess von einer rein weißen Jury freigesprochen wurden. Wenig später verkauften die Täter ihre Story an ein Magazin und gestanden die Tat, für die sie nun nach amerikanischem Recht nicht mehr verurteilt werden konnten.

Der Roman beginn mehr als 60 Jahre später wieder in Money, Mississippi. Der Sheriff wird zu einem seltsamen Mordfall gerufen. Junior Junior Milam wurde in einem Hinterzimmer seines Hauses brutal ermordet und entmannt, im Zimmer befindet sich zudem die Leiche eines Schwarzen. Der Sheriff vermutet, dass die beiden sich gegenseitig umgebracht haben, warum auch immer. Doch das richtig Merkwürdige folgt erst noch: In der Gerichtsmedizin verschwindet plötzlich die Leiche des Schwarzen. Und taucht plötzlich an einem zweiten Tatort wieder auf. Diesmal wurde der weiße Wheat Bryant, weißer, arbeitsloser LKW-Fahrer, umgebracht. Wieder verschwindet die Leiche des Schwarzen. Die Staatspolizei MBI schickt die schwarzen Agenten Jim Davis und Ed Morgan nach Money, denen prompt ein Detail auffällt: Die schwarze Leiche sieht so aus wie Emmett Till und die beiden Toten sind die Kinder der damaligen Täter. Rächt sich der Geist an den Nachfahren seiner Peiniger? Als weitere mysteriöse Todesfälle geschehen, führt eine Spur die beiden Agenten und die Kollegin vom FBI Herberta Hind zu Mama Z, einer mysteriösen, hochbetagten Dame mit einem großen Archiv über alle Fälle von Lynchjustiz in den USA.

Percival Everett ist seit den frühen 1980er in seiner Heimat erfolgreicher Autor. Spätestens mit der Übersetzung seines Westerns „God`s Country“ vor etwa zehn Jahren ist er auch hierzulande kein Unbekannter mehr. Everett setzt sich in seinen Werken auch immer wieder mit der afroamerikanischen Identität und der Geschichte der Afroamerikaner in den USA auseinander. Sein aktuellstes Werk „The Trees“ zählt ebenfalls hierzu. Everett stand hiermit auf der Shortlist des Booker Prize 2022. Der Roman ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert und das liegt vor allem an Everetts Schreibstil, der brutale Geschehnisse mit sehr viel schwarzem Humor kombiniert.

„Ed“, sagte Jim, „das Feuer gestern Abend, das war ein brennendes Kreuz.“
„Ohne Scheiß?“, sagte der große Mann. „Etwa so was wie eine KKK-Kreuzverbrennung?“
Jim sah Jetty antwortheischend an. Der Sheriff nickte.
„Hätte ich das bloß gewusst“, sagte Jim. „So hab ich glatt vergessen, Angst zu kriegen.“
„Ja, zu blöd“, sagte Jetty.
Jim lächelte. „Vielleicht nächstes Mal.“ (Auszug E-Book, Pos. 1432)

Herausgekommen ist ein Genre-Mix, der seines Gleichen sucht. Ein komischer, politischer Mystery-Horror-Krimi-Pulp-Mix. Die Morde äußerst brutal, die Umstände morbide, die Hintergründe mysteriös, im weiteren Verlauf zunehmend horrormäßig, aber alles begleitend von einer üblichen Polizeiarbeit. Doch der wahre Elefant im Raum ist schnell enthüllt, bald ist klar, das die Lynchmorde an schwarzen Amerikanern und anderen Minderheiten im Hintergrund schweben und es einen Zusammenhang gibt. Everett beschreibt die immer noch schwierigen Verhältnisse in den amerikanischen Südstaaten mit bissigem und beißendem Humor, zieht die Rednecks, den White Trash, die degenerierten Reste des Ku-Klux-Klans und diesen orangenen (Ex-)Präsidenten deftig durch den Kakao und entlarvt den immer noch schwelenden Rassismus in Teilen der amerikanischen Gesellschaft. Everett schießt scharf und mit Schrot. Hier und da bleibt ein wenig offen, worauf er hinauswill. Allerdings habe ich die überzogenen Stellen immer als Aufrüttelung für ein immer noch schwelendes Thema verstanden.

Denn das Lachen gefriert dem Leser an anderer Stelle, etwa wenn die großen Aktenschränke in Mama Zs Haus die Orten und Namen der Lynchopfer enthüllen. Seitenlang werden Namen vorgelesen – und ja, auch wenn ich nur stichprobenartig gegoogelt habe, diese Namen, diese Orte sind echt, die Taten unfassbar.

Solch ein unkonventionelles, politisch unkorrektes und gleichzeitig sehr unterhaltendes Werk liest man wirklich selten. Ein echtes Highlight, weil Percival Everett dieser wahnsinnige Spagat zwischen unglaublich komisch und sehr verstörend eindrucksvoll gelingt.

Im Raum wurde es plötzlich still, während sich die allgemeine Aufmerksamkeit der Bühne zuwandte. Eine hochgewachsene Frau mit Irokesenschnitt schloss ein Mikrofon am Verstärker an, was ein kurzes und lautes Rückkopplungsgeräusch hervorrief, richtete sich dann auf und steckte das Mikrofon auf den Ständer. Sie fixierte das Publikum und stand fast eine halbe Minute lang schweigend da. Dann sang sie, ihre Stimme männlich tief, der Verstärker voller Hall:
Southern trees bear strange fruit. […] (Auszug E-Book, Pos. 2827)

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Die Bäume | Erschienen am 20.02.2023 im Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-27625-3
368 Seiten | 26,- €
Als E-Book: ISBN 978-3-446-27692-5 | 19,99 €
Originaltitel: The Trees | Übersetzung aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Eine abweichende Meinung zum Buch gibt es bei buch-haltung.com.

Adam LeBor | District VIII

Adam LeBor | District VIII

Budapest, Spätsommer 2015: Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise stranden viele Flüchtlinge in der ungarischen Hauptstadt. Besonders prekär ist die Situation rund um den Bahnhof Keleti pályaudvar. Der Kommissar Balthazar Kovács erhält von einer unbekannten Nummer eine Nummer mit einer Adresse und einem Foto, das einen leblosen, wahrscheinlich toten Mann zeigt, den äußeren Merkmalen nach vermutlich ein Flüchtling. Doch als Balthazar das Gelände erreicht, ein Trümmergrundstück, ist dort keine Leiche. Stattdessen tauchen ein paar finstere Gestalten der Gendarmerie auf, eine neue Polizeieinheit direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt, und macht Balthazar klar, dass er hier nicht zu suchen hat. Doch er konnte vorher unbemerkt noch eine SIM-Karte sicherstellen.

Zeitgleich hat auch Eniko Szalai, Journalistin eines erfolgreichen Online-Magazins und Exfreundin von Balthazar, das Foto erhalten und kann bei Recherchen rund um den Keleti eine junge Syrerin ausfindig machen, die ihren Mann vermisst. Wie sich herausstellt, ist auf dem Foto Simon Nazir aus Aleppo. Er konnte seiner Frau nur noch einen Zettel mit dem Wort „Gärtner“ hinterlassen. Hinter dem „Gärtner“ verbirgt sich ein Krimineller, Folterer und Islamist, der nun offenbar in Budapest gesehen wurde. Als Balthazar im Keleti-Bahnhof von Unbekannten verprügelt wird und Enikos Handy im Tumult entwendet wird, arbeiten beide zusammen. Sie müssen nach und nach feststellen, dass die ganze Sache viel größere Ausmaße hat als angenommen, bis hin zum Ministerpräsidenten und der Justizministerin.

Dem Leser wird dies schon früher klar, denn Adam LeBor erzählt aus verschiedenen Perspektiven und schnell wird klar, das Ministerpräsident Pálkovics und Justizministerin Bárdossy ihr eigenes Süppchen kochen, es geht um Geschäfte mit arabischen Investoren, Schwarzgeldkonten, offizielle ungarische Pässe, die illegal ausgestellt werden, radikale Islamisten, die mit dem Flüchtlingsstrom in den Westen einreisen, Geschäfte mit illegalen Schleppern. Auch ausländische Geheimdienste sind involviert sowie kriminelle Banden in Budapest. In dieser Gemengelage stechen Balthazar und Eniko in ein Wespennest, werden aber auch teilweise von Dritten zum eigenen Vorteil benutzt.

„Aber jetzt zählte Budapest wieder, was bedeutete, sie brauchten sie. Internationale Verbrecherbanden hatten ihre Hauptquartiere in der Stadt aufgeschlagen, […]. Budapest war ein Tor zum Westen – für jeden, von den Triaden Hongkongs bis zu korrupten amerikanischen Konzernen… und jetzt auch noch für Dschihadisten.“ (Auszug E-Book, Pos. 3999)

Das Herausstechende an diesem Roman ist sicherlich die verschiedenen prägnanten Figuren, allen voran die Hauptfigur Balthazar Kovács. Balthazar zählt als Rom zu den Minderheiten in Ungarn und Außenseitern im Polizeiapparat. Umgekehrt aber auch als Polizist in der eigenen Familie, zumal sein Bruder Gáspár eine der Unterweltgrößen Budapests ist. Der Autor beschreibt diese Verhältnisse sehr versiert, gibt immer wieder Einblicke in die Kultur und die Tradition der Roma, ohne Probleme zu verklären. Gleichzeitig zeichnet er ein facettenreiches Bild von Budapest, insbesondere vom titelgebenden XIII. Bezirk, ein Gründerzeitviertel, immer noch zahlreich von Minderheiten bewohnt.

„District VIII“ beginnt mit der Suche nach einer verschwundenen Leiche und einem Mörder, weitet sich aber schnell zu einem rasanten Politthriller mit Verschwörungsszenario aus. Trotz zahlreicher Spannungsszenen nimmt sich Adam LeBor aber Zeit für die Hintergründe seiner Figuren und der Schilderung einer sehr ambivalenten ungarischen Gesellschaft zwischen Demokratie, Korruption, Freiheit, Gastfreundschaft und Rassismus sowie den wachsenden Einflüssen von außen. LeBor widersteht dem simplen Manöver, die Figur des fiktiven Ministerpräsidenten Victor Orban nachzuempfinden, sondern installiert stattdessen einen fiktiven Sozialdemokraten (und Ex-Kommunisten), um zu zeigen, dass das Problem der schwierigen Demokratie und kleptokratischen Politikerkaste mitnichten an einer Partei festzumachen ist. Bei minimalen Abstrichen (etwa der Überspitzung mancher Szenen oder etwas zu ausführlichem kulturellem Dozieren) gelingt dem Autor, der viele Jahre als britischer Korrespondent in Ungarn tätig war, eine lesenswerte Mischung aus Krimi und politischem Thriller mit einem sehr spannenden Setting. Drei Romane um Balthazar Kovács (der englische Verlag scheut nicht den Begriff „Gypsy Cop“) hat Adam LeBor bereits veröffentlicht, bleibt zu hoffen, dass diese bald ebenfalls in deutscher Übersetzung erscheinen.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

District VIII | Erschienen am 15.01.2023 im Polar Verlag
ISBN 978-3-948392-66-6
400 Seiten | 26,- €
Originaltitel: District VIII | Übersetzung aus dem Englischen von Jürgen Bürger
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Attica Locke | Pleasantville (Band 2)

Attica Locke | Pleasantville (Band 2)

Attica Lockes Debütroman „Black Water Rising“, erschienen 2009 im Original und 2021 in deutscher Übersetzung im Polar Verlag war der erste Titel mit dem schwarzen Anwalt Jay Porter als Hauptfigur. Der Roman spielte in Houston im Jahr 1981. Mit „Pleasantville“ ist nun der zweite Roman mit Jay Porter in deutscher Übersetzung von Andrea Stumpf erschienen (im Original bereits 2015). Diesmal sind 15 Jahre vergangen, es ist November 1996, gerade wurde Bill Clinton erneut zum Präsidenten gewählt.

Jay Porter hatte im letzten Jahr einen schweren Schicksalsschlag. Seine Frau Bernie ist an Krebs verstorben. Nun ist er allererziehender Vater der 15jährigen Ellie und des 10jährigen Ben. Die Trauer um seine Frau ist noch allzu gegenwärtig, geht aber meist in der Arbeit und im Familientrubel unter. Jay ist inzwischen ein respektierter Anwalt, insbesondere in der schwarzen Community. Er hat wiederholt Sammelklagen gegen große Firmen wegen Umweltverschmutzung und Gesundheitsgefährdung eingereicht und dabei zumindest Vergleiche erwirkt. Allerdings kommt das Geld nicht so rein wie erhofft. Die Firmen halten Jay teilweise hin, die Kläger sind zunehmend besorgt. Seit dem Tod seiner Frau hat Jay in seinem Beruf nur noch das Nötigste unternommen, war in keinem Gerichtssaal mehr. Und irgendjemand versucht, ihm seine Mandanten abspenstig zu machen.

Im trüben Abendlicht liegen die Straßen verlassen da. Die Ledwicke Street, die Jay im Rückspiegel sieht, ist die Nord-Süd-Achse durchs Viertel. Sie führt um das Samuel P. Hathorne Community Center, das Schwimmbad und den Fußballplatz und endet an einer großen, wild überwucherten Brache. Eine der wenigen unbebauten Flächen in einer Stadt, die sich mit ihrer Geringschätzung für eine gute Stadtplanung rühmt und den Glauben an industrielles Wachstum als demokratisches Geburtsrecht begreift, das gleich nach dem Streben nach Glück kommt.“ (Auszug S.53)

Zeitgleich zur Präsidentenwahl findet in Houston auch die Wahl des Bürgermeisters statt. In die kommende Stichwahl kommen der Favorit Axel Hathorne, einst erster schwarzer Polizeichef der Stadt, der nun der erste afroamerikanische Bürgermeister werden könnte, und die Staatsanwältin Sandy Wolcott, die allerdings in den Umfragen gut aufgeholt hat. Besonders seitdem Hathorne in Verbindung zu einem umstrittenen Stadtentwicklungsprojekt gebracht wurde.

Am Abend des ersten Wahlgangs verschwindet im gutbürgerlichen, schwarzen Stadtteil Pleasantville, einer Hochburg Hathornes, das junge Mädchen Alicia Nowell. Es gibt Parallelen zu zwei getöteten Mädchen in früheren Jahren. Doch das Mädchen war Wahlkampfhelferin. Eine Nummer auf ihrem Pager und ein Wahlkampfauftritt bringt den Neal Hathorne, Neffe und Wahlkampfmanager von Axel Hathorne unter Verdacht und unter Anklage. Hathornes Kampagne droht den Bach herunterzugehen. Sam Hathorne, Vater des Kandidaten und heimlicher Herrscher über Pleasantville und viele schwarze Wählerstimmen, verlangt von Jay, das er dessen Verteidigung übernimmt. Jay wagt ein riskantes Manöver: Er will die Stichwahl gerichtlich aufschieben lassen. Ein Manöver, dass Jay sofort mehrere ernstzunehmende Drohungen einbringt. Doch diesmal ist Jay bereit zu kämpfen.

Im Morgengrauen stand er vor dem Badezimmerspiegel, musterte die blutverkrusteten Folgen des gestrigen Abends, suchte die dunkelste Stelle des dunkelsten Blutergusses, bohrte seinen Mittelfinger hinein und spürte nichts, worauf ihn ein Jahr ohne seine Frau nicht ausreichend vorbereitet hätte. Was bedeutete schon ein Kratzer auf der Oberfläche eines Körpers, der innen ausgehöhlt war? (Auszug S.247)

Wie schon der Vorgänger ist „Pleasantville“ ein ungemein komplexer Roman, der verschiedene Ebenen bedient. Zunächst ein tief politischer Roman, der um die afroamerikanische Community kreist und ihre Entwicklung und Erfolge, nimmt aber auch interne Strukturen und Machtmissbrauch in den Fokus. Die schwarze Gemeinschaft ist inzwischen in den 1990ern eine starke Wählergruppe und hat maßgeblich zum Erfolg Clintons beigetragen. Das hat die Gegenseite auch erkannt und versucht nun, in solche demokratischen Wahlkreise einzudringen – mit allen möglichen Mitteln. Eine Entwicklung, die damals ihren Anfang nahm und die maßgeblich zu heutigen Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft beigetragen hat. Trotz der höherrangigen Bedeutung bleibt Locke aber im lokalen Bezug und stellt Houston und Pleasantville als Schauplatz in den Vordergrund. Des Weiteren ist der Roman auch sehr eng an Jay Porter und seiner Familie, seiner Trauer, der Liebe zu seinen Kindern, seine Zweifel als Alleinerziehender. Zuletzt geht es aber auch noch um den Mord an Alicia Nowell, letztlich ist das Buch auch ein Whodunit, wenngleich dies zum Teil ein wenig in den Hintergrund rückt.

Gerade die Mischung aus politisch-gesellschaftlicher Relevanz gepaart mit starken, lebensechten Figuren machen den Reiz von Attica Lockes Romanen aus. Jay Porter ist eine solche starke Figur, die von der Autorin in einen wahren Kraftakt geschickt wird: als Trauernder, als Vater, als Anwalt, als Afroamerikaner. Jetzt ist es ein paar Tage zu spät, aber „Pleasantville“ hätte durchaus noch einen Platz in meinen Jahreshighlights 2022 verdient. Das ist starke Kriminalliteratur.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Pleasantville | Erschienen am 15.11.2022 im Polar Verlag
ISBN 978-3-948392-56-7
456 Seiten | 26,- €
Originaltitel: Pleasantville | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Andrea Stumpf
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Besprechung zu „Black Water Rising