Oliver Welter & Michael Gantenberg | Tief steht die Sonne
Mitten auf dem Campingplatz am Biggesee liegt die Leiche, einen Holzpflock tief ins Herz gerammt. Haufenweise Verdächtige im Wohnwagenidyll und Spuren von Magic Mushrooms machen Kommissarin Inka Luhmann das Leben schwer – zumal sie Camping-Hasserin ist. Während ihr Mann Henne wieder seiner einstigen Flamme Bianca begegnet, stößt Inka auf ein altes Verbrechen und eine neue Drogenspur. Und auf einmal ist ihre eigene Familie in tödlicher Gefahr …
Der Campingplatz „Vier Jahreszeiten“ am Biggesee ist eine riesige Anlage mit fast 300 Stellplätzen auf einem weitläufigen Gelände, mit kaum einsehbaren Reihen von Wohnwagen, Campingmobilen und Zelten und mit allen Annehmlichkeiten, die das Camperherz höher schlagen lassen. Inka Luhmann hasst Camping, für die leitende Ermittlerin der Dienststelle Kapitalverbrechen ist es so etwas wie „schlimmer wohnen“. Gerade ist sie von einem Familienurlaub in Dänemark zurück, den sie auch nicht wirklich genießen konnte, und nun soll sie sich mit den Kollegen Marlies Röggen, Bastian Kemperdick sowie dem jungen Forensiker des Teams, Klaus Porbeck, in der „Camping-Hölle“ einnisten, um vor Ort die langwierigen Befragungen möglicher Zeugen und die weitere Spurensuche am Tatort und der Umgebung durchzuführen.
Der Tatort ist ein kleiner hölzerner Bootsschuppen am See, in dem die Leiche eines Mannes gefunden wurde, dem man einen Holzpflock ins Herz gerammt hat. Er muss sich hier mit seinem Mörder getroffen haben, und der hat ihn mit einem äußerst brutalen Angriff überrascht und bestialisch abgeschlachtet. Aber wer macht sowas, und warum nur? Der Tote war Hausmeister, die Seele des Platzes, unersetzlich und bei allen beliebt, eine echte Legende unter den Dauercampern. Allerdings auch jemand, der vermutlich nicht gerade eine Vorzeigevita hatte, von der indes wenig bekannt ist, denn es gibt nichts Schriftliches, keine Bewerbungsunterlagen, keine Bankverbindung. Bernd Groschek, so der Name des Toten, hatte seinen Arbeitsvertrag per Handschlag geschlossen, seinen Lohn bekam er in bar. Die Ermittler finden einen gefälschten Ausweis, wozu Groschek den brauchte, ist ein Rätsel.
Ungeklärt bleibt zunächst auch die Frage, was Groschek in den Bootsschuppen getrieben hat. Die Spurensuche führt zu einem jugendlichen Liebespaar, das dort bei einem Rendezvous die Leiche entdeckt hatte, aber panisch geflohen war, ohne Alarm zu schlagen. Die Ermittler stellen fest, dass die beiden magic mushrooms, Psilos konsumieren, die sie von dem Platzwart bekommen haben und sie entdecken in einer unheimlichen, dramatischen Aktion in Groscheks abgelegenem Haus, das dieser nur am Wochenende aufsuchte, eine gut versteckte Pilzzucht. Das Mordmotiv allerdings muss ganz woanders liegen. Und der Leser ahnt schon früh, was das Team um Inka vorläufig nicht wissen kann: hier ist jemand durchgedreht, der schon früher durch rohe Gewalt und stumpfsinnige Brutalität auffällig geworden ist.
Das wird spannend erzählt, die albtraumhafte Szene in Groscheks verwahrlostem Haus ist nicht die einzig aufregende, gar schockierende Aktion bei der mühsamen Aufklärung des Verbrechens, die ihren Höhepunkt natürlich in einem wie gewohnt atemberaubenden Schlussakkord findet, bei dem die Kulissen wieder einmal wie gemalt sind für ein Ende mit Schrecken. Über weite Strecken aber steht eher nüchterne, sachliche, realistische Polizeiarbeit im Mittelpunkt. So ist das im Sauerland, das Team um Inka ermittelt gründlich und gewissenhaft, der Umgang ist rau aber herzlich, das Verhältnis kollegial bis freundschaftlich, man redet Klartext, unverstellt und geradeaus, mit der nötigen deutlichen Ansage aber auch mit dem trockenen Humor, der alles erträglich und alle verträglich macht, mitunter politisch nicht korrekt, aber ausgesprochen sympathisch. Die Wortgefechte zum Beispiel, die sich Inka mit ihrem bisherigen Assistenten und jetzigen Vorgesetzten Georg Pfeil liefert, zu dem sie ein eher unentspanntes Verhältnis hat, „ein Arschloch, aber eins, das an der richtigen Stelle sitzt“, sind ebenso witzig wie das Duell mit einem schmierigen Winkeladvokaten während einer Zeugenvernahme.
Es gibt aber neben solch ausgesprochen geglückten Abschnitten auch merkwürdig missratene Sätze, seltsam bemühte Beschreibungen von Banalitäten, auffällige Wiederholungen und überflüssige Plattitüden. Der Gegensatz zwischen genialen Einfällen und brillanten Bildern und andererseits uninspirierten, unbeholfenen Formulierungen und sogar sachlichen wie sprachlichen Fehlern ist tatsächlich erstaunlich. Aber trotz einiger arg konstruierter Zusammenhänge und sehr zufälligen Verbindungen ist der Plot letzten Endes durchaus logisch und absolut stimmig, glaubhaft und nachvollziehbar, und wenn man über ein paar holprige Stellen hinwegsieht, macht das Lesen großen Spaß, auch wenn einige Fragen offen bleiben.
Eine Frage allerdings ist nach bewährtem Strickmuster des Autorenduos ziemlich rasch geklärt. „ER“, Leser der ersten beiden Romane um das Polizisten-Team aus Brilon wissen das, ist der Mörder. In den so überschriebenen Kapiteln wird der Täter vorgestellt und nach und nach seine Sozialisation geschildert, beginnend mit einem frühkindlichen Trauma über die Entwicklung zu einem verhaltensgestörten, hasserfüllten Jugendlichen bis zu einer erstaunlichen Wandlung und schließlich einem ebenso unerwarteten Rückfall in längst überwunden geglaubte Verhaltensmuster.
Die Frage für den Leser ist also vordergründig nicht „wer ist der Mörder“ sondern vor allem „warum wurde er zu Mörder?“ Und obwohl man über die Person des Täters nicht lange rätseln muss, gibt es genügend Spannung, offenbaren andere Figuren doch durchaus überraschende Facetten, es gibt im feinmaschigen Gespinst der vielen Handlungsfäden einige erstaunliche Entwicklungen und unvorhergesehene Wendungen bis feststeht, dass tatsächlich alles und alle irgendwie miteinander zu tun haben, dass doch nicht alles ist, wie es scheint und manches doch anders kommt, als man denkt. Insofern ist die Geschichte, die zunächst bieder und gemächlich daherkommt, wie es sich für die Dauercamper-Idylle im Sauerland gehört, viel komplexer, als es zunächst den Anschein hat und komplizierter konstruiert als man auf den ersten Blick glaubt. Die Balance zwischen Witz und Wut, Erstaunen und Erschrecken, Spannung und Entspannung, Geschwindigkeit und Gemütlichkeit, der Wechsel zwischen Dienstgeschäften und Familienleben, zwischen Berufsalltag und Privatsphäre tut ein Übriges zur guten Unterhaltung, die das Buch bietet. In den Kapiteln, die einen Einblick in das Innenleben der häuslichen Gemeinschaft und das Zusammenleben der Eheleute Luhmann gestattet, geht die Schilderung in einen Plauderton über, die Ansprache ist mal kumpelhaft, mal zärtlich, manchmal allerdings skeptisch, gar vorwurfsvoll, denn auch hier geht es natürlich nicht ohne Probleme ab.
Inkas Ehemann Hendrik, genannt „Henne“, selbst Polizist, kümmert sich zurzeit als Hausmann um die Kinder Mia und Tom sowie Hund „Böse“, eine Rolle, die er gerne übernommen hat und gut erfüllt. Aber füllt sie ihn auch aus? Bei der Einschulung von Sohn Tom trifft er eine ehemalige Klassenkameradin, attraktiv und inzwischen sehr erfolgreich als Architektin und Repräsentantin einer Immobilienfirma. Es knistert und kribbelt, und Henne muss sich nicht nur dieser Anfechtung erwehren sondern erliegt auch der Verlockung eines tollen Eigenheim-Angebotes.
All das führt zu Missverständnissen, zu Verdächtigungen und Kränkungen und in der Folge begehen Inka wie Henne fast verhängnisvolle Fehler. An dieser Stelle wird geschickt die private mit der beruflichen Ebene verknüpft, es läuft alles zusammen und offensichtlich aus dem Ruder, es wird scheinbar alles gut und bleibt doch schwierig. Vor allem die ungewisse Zukunft der Familie Luhmann, die nach den Ereignissen dieser Geschichte vor einer Zerreißprobe steht, lässt mich gespannt auf den nächsten Roman des Duos Welter & Gantenberg warten.
Rezension von Kurt Schäfer.
Tief steht die Sonne | Erschienen am 21. Januar 2016 bei Fischer
ISBN 978-3-596-03163-4
400 Seiten | 9,99 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe
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