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Claudia Piñeiro | Die Donnerstagswitwen

Claudia Piñeiro | Die Donnerstagswitwen

Etwa 50 Kilometer außerhalb von Buenos Aires liegt Altos de la Cascada, eine Gated Community mit schicken Anwesen, Golf- und Tennisplatz und einem großen Zaun drumherum. Ein Refigium der oberen Mittelklasse, die sich hier in den profitablen 1990er Jahren hier eingerichtet haben. Die argentinische Wirtschaftskrise beginnt sich zwar zu entwickeln, was viele aber nicht wahrhaben wollen. Somit ist man mit weiterhin vorwiegend damit beschäftigt, den Schein zu wahren und den eigenen Wohlstand zur Schau zu stellen.

Sie wollten lieber eine Mauer, das hält nicht bloß fremden Menschen fern, man ist auch von außen nicht mehr zu sehen. Und wir brauchen auch nicht mehr zu sehen, was draußen los ist. (Auszug S. 95)

Viele Familien sind in La Cascada miteinander befreundet, zumindest tut man so. Regelmäßig verbringen die Männer der Familien Scaglia, Insúa, Urovich und Guevara den Donnerstagabend miteinander. Die Frauen nennen sich scherzhaft „Donnerstagswitwen“. Eines Donnerstags, den 27. September 2001, ist Maria Virginia Guevara überrascht, beim Heimkommen ihren Mann Ronie schon zu Hause vorzufinden. Er verhält sich auch seltsam und bricht sich kurz darauf bei einem Sturz auf der Terrasse das Bein. Erst im Krankenhaus erfahren die Guevaras die schreckliche Nachricht: Tano Scaglia, Gustavo Insúa und Martín Urovich sind im Pool der Scaglias bei einem Stromunfall ums Leben gekommen. Doch der Leser wird direkt auf ein paar seltsame Begleitumstände hingewiesen. Rückblickend wird nun die Geschichte der Familien in La Cascada erzählt und letztlich die Hintergründe dieses tragischen Abends aufgedeckt.

Autorin Claudia Piñeiro zählt heute zu den erfolgreichsten argentinischen Autoren. Sie ist studierte Wirtschaftswissenschaftlerin und arbeitete vor ihrer schriftstellerischen Karriere als Rechnungsprüferin. Piñeiro schreibt auch Kinder- und Jugendbücher, arbeitet als Regisseurin und beim Theater. Ihr Debütroman „Ganz die Deine“ erschien 2003. Oftmals sind ihre gesellschaftskritischen, dramatischen Romane in eine Kriminalgeschichte eingebettet. 2005 erschien „Las viudas des los jueves“ und gewann mit dem Premio Clarín einen der wichtigsten argentinischen Literaturpreise. 2009 verfilmte Marcelo Piñeyro den Roman fürs Kino.

„La Cascada“ ist eine sogenannte Gated Community, eine dieser Siedlung der Reichen und Aufstrebenden, oft in Ländern mit starkem Wohlstandsgefälle, in denen man versucht, genau dieses Gefälle auszublenden. Hinzu kommt in diesem Falle, dass die aufsteigende Wirtschaftskrise in Argentinien genau diesen Lebensstandard bedroht. Claudia Piñeiro wirft einen sehr scharfen Blick auf die Bewohner und entlarvt die ganzen Lebenslügen und anderen Dramen, die sich unter der Oberfläche des schönen Scheins abspielen. Machismo, Gewalt in der Ehe, Alkoholismus, Untreue, Rassismus, Antisemitismus und andere Vorurteile schwelen teilweise im Verborgenen, teilweise werden sie aber nur verdrängt. Die Probleme des Lebens will man in La Cascada lieber nicht mit den Nachbarn teilen, aber oft auch nicht mit dem Ehepartner. Man kehrt lieber unter den Teppich, heuchelt, will nichts von Problemen anderer hören und wahrt den Schein. Und legt sich innerhalb der Mauern merkwürdig undemokratische Verhaltensregeln auf.

Piñeiro legt in diesen Roman eine gehörige Portion Gesellschaftskritik mit einer Generation des Aufschwungs, die aber in Zeiten der Krise nur Egoismus und Eskapismus kennt. Ein zynisches Porträt einer Nachbarschaftsclique auf Talfahrt, die schließlich mit drei Toten enden wird. Dabei bedient sie sich auch stilistisch eines interessanten Kniffs. Sie schreibt zum einen aus der Ich-Perspektive von Maria Virginia Guevara, die angefangen hat, als Maklerin zu arbeiten und damit eine der wenigen Frauen ist, die es noch nötig haben zu arbeiten. Sie ist auch der wenigen, die ein wenig mehr hinterfragt und eine gewisse kritische Distanz bewahrt. Zum anderen wird aus der personalen Perspektive erzählt, ungewöhnlicherweise mit einem Plural-Wir. Damit gibt Piñeiro quasi der Gemeinschaft eine Stimme, erzählt von der allgemeinen Wahrnehmung in La Cascada, aber auch von Heimlichkeiten und Gerüchten.

[…] nach dieser Geschichte also soll sie an den Rand des zuletzt erwähnten Hefteintrags geschrieben haben: „Kann man wirklich mit jemandem befreundet sein, den man über seine Brieftasche kennengelernt hat?“ Worauf sie sich selbst, am Fuß derselben Seite, als Antwort notiert habe: „Alles Elend nimmt seinen Weg über die Brieftasche.“ (Auszug S.65).

Man könnte zuletzt natürlich die Frage aufwerfen, ob das hier überhaupt ein Krimi ist, aber die Frage ist müßig. Claudia Piñeiro bedient sich hier selbstverständlich der Elemente des Genres, zudem beantwortet sie ganz der Spannungstradition folgend, die Frage nach der Vorgängen an jenem Donnerstagabend erst ganz zum Schluss. Dazwischen ist dieses Buch ein überzeugender Gesellschaftsroman mit präziser Sprache, zynisch-ironischem Unterton und scharfem Blick auf die Figuren. Sie porträtiert auf beiläufige, aber fesselnde Art eine Gesellschaftsschicht voller Heuchelei und Dekadenz auf dem Weg in den eigenen Untergang. Ein überzeugender Roman.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Die Donnerstagswitwen | Erschienen 2010 im Unionsverlag
Aktuelle Taschenbuchausgabe: ISBN 978-3-293-20568-0
320 Seiten | 13,95 €
Originaltitel: Las viudas de los jueves (Übersetzung aus dem Spanischen von Peter Kultzen)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension von Gunnar zu Claudia Piñeiros „Der Privatsekretär

Jennifer Clement | Gebete für die Vermissten

Jennifer Clement | Gebete für die Vermissten

Jetzt machen wir dich hässlich, sagte meine Mutter. Sie pfiff durch die Zähne … Sie roch nach Bier. Im Spiegel sah ich, wie sie mir mit dem Stück Kohle übers Gesicht fuhr. Das Leben ist böse, flüsterte sie … Vielleicht muss ich dir die Zähne ausschlagen, sagte meine Mutter. (Auszug Seite 9)

Guerrero ist eine von Gewalt gebeutelte Provinz im Südwesten von Mexico. Bekannt ist die Urlaubsmetropole Acapulco an der Pazifikküste liegend. In den dünn besiedelten Bergen, wo vor allem Indigene leben, lassen die Kartelle Mohn anbauen und durch diese Gebiete wird das Kokain dann aus Südamerika transportiert.

In den kleinen Bergdörfern besitzen Drogenhändler die Macht und terrorisieren diesen Landstrich. Ein Menschenleben ist hier nichts wert, besonders nicht das der Mädchen. Für die junge Ladydi Garcia Martinez ist das der bittere Alltag. Sie erzählt uns von ihrem Leben in dieser trostlosen Gegend, in dem mittlerweile fast nur noch Frauen leben. Die Männer, die nicht auf die Seite der Drogendealer wechseln, verlassen ihre Familien um in Acapulco Arbeit zu finden. Oder sie fliehen über die Grenze in die USA. Die es schaffen, schicken einen Teil ihres Lohnes zu ihren Frauen aber die meisten Männer kehren nicht zurück. So ist es die Aufgabe der Frauen, ihre Kinder zu beschützen. Und das Gefährlichste sind nicht die giftigen Skorpione, Klapperschlangen, Leguane oder Erdbeben, auch nicht die Militärs, die wahllos Gift aus Hubschraubern über das Gelände versprühen. Eigentlich um die Mohnfelder der Narcos zu zerstören, oft wurden die Piloten aber auch bestochen und sprühen ihre Pestizide über die Hütten der Bauern. Das Schlimmste sind die Entführungen durch die Menschenhändler. Die kleinen Mädchen werden von ihren Müttern in Jungensachen gekleidet und als Teenager absichtlich hässlich gemacht, die Haare kurz geschnitten, die Zähne mit Filzstift geschwärzt. Sobald am Horizont die schweren Escalades mit schwarz getönten Scheiben auftauchen, verstecken sich die Mädchen in selbstgegrabenen Erdlöchern. Doch meistens sind die Frauen der Willkür der Drogenmafia machtlos ausgeliefert, von den bisher verschleppten Mädchen fehlt jede Spur, nur eine taucht nach einem Jahr psychisch und physisch angeschlagen wieder auf.

Eine vermisste Frau ist nur ein Blatt, das der Regen in die Gosse treibt. (Auszug Seite 68)

Für Ladydi scheint sich ein Ausweg aus dem Elend zu eröffnen, als sie einen Job als Kindermädchen in Acapulco antritt. Ihr Cousin Mike hat ihr die Stelle vermittelt und bringt sie auf das luxuriöse Anwesen einer reichen Familie. Die Besitzer tauchen aber monatelang nicht auf. Ladydi hat eine gute Zeit und verliebt sich in den Gärtner. Bis zu dem Tag, als die Polizei die Villa stürmt und ein gewaltiges Waffenlager vorfindet. Für Ladydi beginnt ein Alptraum, denn aufgrund der Machenschaften ihres Cousins, der für die Zetas arbeitet, wird sie verhaftet und findet sich in Drogenschmuggel und einen üblen Doppelmord verwickelt. Obwohl noch minderjährig kommt sie ins Frauengefängnis in Mexiko-City. Auch hier gerät sie wieder in eine reine Frauenwelt, in der jede Inhaftierte grauenhafte Geschichten zum Besten geben kann.

Die Autorin, die in Mexiko-City aufwuchs hat für diesen Roman mehr als 10 Jahre lang in Guerrero recherchiert, Hunderte Interviews mit vom Drogenkrieg betroffenen Mädchen und Frauen geführt, um dann alles mit viel Herzblut in eine fiktive Story zu verpacken. Herausgekommen ist ein intimer Blick auf den trostlosen Alltag der armen Bevölkerung inmitten der Mohnfelder. Ohne zu bewerten berichtet sie in neutraler Sprache hautnah aus der Perspektive einer betroffenen Heranwachsenden. Ladydi lässt uns teilhaben an ihrer trostlosen Jugend und erzählt von ihrer Halbschwester Maria mit der Hasenscharte, von Paula, dem schönsten Mädchen von Mexiko, von Estefani, deren Mutter an Aids stirbt, von Ruth, dem Müllbaby, die einen Schönheitssalon betreibt und ihrer alkoholsüchtigen Mutter Rita.
Jennifer Clement findet eine feine Balance zwischen Sachlichkeit und Emotion, erzählt in einem unterkühlten, fast unpersönlichen Ton, völlig ungeschminkt mit vielen poetischen und bildreichen Metaphern und das komplette Fehlen der wörtlichen Rede. Trotz der Not und widriger Umstände gibt es auch immer wieder Zeichen der Wärme und der Freundschaft, auch blitzt immer wieder das grotesk-komische in dieser Welt der Armut und Gewalt auf und sorgt für hellere Momente. So heißt die Protagonistin tatsächlich nach Lady Di, aber nicht aufgrund deren Schönheit, sondern weil sie für ihre Mutter die Heilige der Betrogenen ist.

Der Stoff wird sehr knapp auf 200 Seiten gefasst, ist mehr Novelle als Roman. Das war auch so ein bisschen mein Problem. Es gibt so viele komplexe Nebenfiguren, aber keine der Charaktere ist tief oder mehrdimensional angelegt. Auch wenn jede ihre eigene Geschichte hat, die bestimmt oft ergreifend und berührend scheint, ist gar kein Platz für tiefgehende Charakterzeichnungen. Sie wirken mehr wie standardisierte Stellvertreter und als wolle die Autorin alles unterbringen, was sie während ihrer Recherchen herausgefunden hat. Auch wenn dahinter viel Realität steckt und alles der traurigen Wahrheit entspricht, drohen bei der Vielzahl der alltäglichen Grausamkeiten diese zur Routine zu werden und die unerträglichen Ereignisse konnten mich gar nicht mehr erschüttern. Trotzdem zerbricht Ladydi nicht an ihrem Schicksal, sie kennt auch keine andere Welt und sie erfährt auch immer wieder die große Solidarität der Frauen.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Gebete für die Vermissten | Das Taschenbuch erschien am 06. Dezember 2015 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-5184-6640-7
228 Seiten | 8,99 Euro
Originaltitel: Prayers for the Stolen (Übersetzung von Nicolai von Schweder-Schreiner)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezension zu Jennifer Clements Roman „Gun Love

Jahreshighlights 2021 | Gunnar

Jahreshighlights 2021 | Gunnar

Die Pandemie hatte uns in diesem Jahr immer noch im Griff, aber auf den Kriminalroman hatte das bislang noch keine große Auswirkung. Die meisten Autoren haben Corona noch nicht in ihre Texte eingebaut, mir ist dies lediglich in einem Roman aufgefallen, doch dazu später. Ich hatte mich in diesem Jahr nochmal speziell den Klassikern verschrieben, habe versucht in jedem Monat eine Rezension zu einem Klassiker zu schreiben und habe es nicht bereut: Michael Connelly, Ian Rankin, Graham Greene, Sjöwall/Wahlöö habe ich unter anderem mit Freuden gelesen. Was ist mir sonst aufgefallen? Meine Begeisterung für den schottischen Kriminalroman ist ungebrochen, acht Romane aus dem Norden Großbritanniens habe ich in dieses Jahr gelesen. Außerdem scheinen historische Krimis in diesem Jahr weiterhin hoch im Kurs zu sein, allerdings zunehmend auch abseits der von Volker Kutscher und Konsorten ausgetretenen Pfade.

Insgesamt habe ich rund 80 Bücher in diesem Jahr gelesen, davon etwa 85 % Krimis. Hiervon habe ich nun meine fünf Favoriten des Jahres ausgewählt (dabei zählten nur Neuerscheinungen) und diesmal auch eine Rangliste versucht. Mit einem Klick auf den Titel gelangt ihr außerdem zur ausführlichen Rezension.

Nr.5 Tana French | Der Sucher
Die Meisterin des subtilen Plots hat für ihren aktuellen Roman eine klassische Konstellation gewählt: Cal Hooper, ein Ex-Cop aus Chicago, lässt sich in einem kleinen irischen Dorf nieder. Scheinbar wird er gut von den Dörflern aufgenommen, doch als er sich auf die Spuren des verschwundenen 19jährigen Brendan macht, bekommt er auch die Schattenseiten des Dorfes zu spüren. Fast etwas spannungsarm, aber herausragend in Beschreibung der Dorfgemeinschaft, Natur und Landschaft. Ein Kriminalroman der leisen Töne, die um so stärker nachhallen.

Nr.4 Johannes Groschupf | Berlin Heat
Johannes Groschupf war tatsächlich der einzige Autor der von mir gelesenen Bücher, der Corona (in seinem Fall eine Post-Corona-Situation) thematisiert. Ansonsten ist „Berlin Heat“ ein überraschender und temporeicher Thriller mit dem liebenswerten Loser Tom Lohoff, der verzweifelt Geld aufzutreiben versucht, um Schulden bei einer albanischen Unterweltgröße zu bezahlen, und dabei in eine False-Flag-Aktion der AfD hineinplatzt. Coole Figuren, ein Ritt durch die Kieze der Hauptstadt, gesellschaftlich-politische Themen, „Summer-in-the-City“-Atmosphäre – für mich der beste deutschsprachige Thriller des Jahres.

Nr.3 Garry Disher | Barrier Highway
Was wäre eine Jahresbestenliste ohne Garry Disher? Der Australier hatte sogar wieder zwei starke Romane am Start, mit dem Wyatt-Krimi „Moder“ gewann er sogar den deutschen Krimipreis. Ich fand allerdings den dritten Band um den Outback-Polizisten Paul Hirschhausen noch etwas stärker. Ähnlich wie Tana French baut Disher den Krimi ganz behutsam auf, spinnt ein feines Netz und erzählt von den Menschen in der australischen Provinz. En passant kommen dabei diverse kleine und große Kriminalitätsstränge in den Plot, den Disher wie immer meisterhaft beherrscht.

Nr.2 Liam McIlvanney | Ein frommer Mörder
McIlvanney ist ein großer Name in der schottischen Kriminalliteratur: Liam ist der Sohn des großen William und tritt mit diesem Roman (ausgezeichnet als bester schottischer Krimi 2019) endgültig aus des Vaters Fußstapfen. Er bedient sich für seinen historischen Krimi Motive eines wahren Falls von Ende der 1960er. Hier sucht Detective McCormack den religiösen Serienmörder „Der Quäker“ und neben dem spannenden Krimiplot zeigt sich die Güte des Romans vor allem in der Beschreibung der Stadt Glasgow und ihrer Bewohner im gesellschaftlichen Umbruch.

Nr.1 Doug Johnstone | Der Bruch
Wir bleiben in Schottland, wechseln aber ins ach so pittoreske Edinburgh der Jetztzeit. Der 17jährige Tyler wohnt in einem heruntergekommenen Hochhaus im Problemstadtteil Niddrie. Die Familie ist dysfunktional, seine Mutter ein Alkoholwrack, sein älterer Bruder Barry zwingt ihn, an Einbrüchen teilzunehmen, er selbst kümmert sich hingebungsvoll um seine achtjährige Schwester Bean. Bei einem Einbruch in das Haus einer Gangstergröße läuft aber einiges schief und von nun an stehen Barry und Tyler auf der Abschussliste. Just in diesem Moment lernt Tyler die gleichaltrige Flick kennen, ein Mädchen aus gutem Hause, aber eine Seelenverwandte mit ebenfalls problematischen Familienverhältnissen. Der Autor führt den Leser zu den Schattenseiten des schönen Edinburgh, ein sozialkritischer Roman mit starken Figuren und einem mitreißenden Plot. Ein Noir mit einem Funken Hoffnung und eine tolle Coming-of-Age-Story. „Der Bruch“ ist für mich der Krimi des Jahres!

Jahreshighlights 2021 | Andy

Jahreshighlights 2021 | Andy

Auch in 2021 habe ich wieder viel Spannendes gelesen und gehört. Gezählt habe ich die Bücher nicht, da ich das Lesen nicht als Challenge begreife. Es waren sehr unterschiedliche Werke und besonders der historische Kriminalroman hat es mir weiter angetan. Kurz erwähnen möchte ich hier zwei kammerspielartige Psychothriller, die ich gehört und die mich gut unterhalten haben: „The Ending“ vom kanadischen Autor Iain Reid verblüfft mit verstörenden Dialogen, surrealen Ereignissen und einem nicht zu erwartenden Plot-Twist. Auch „Schweig“ von Judith Merchant ist sehr dialoglastig und weiß mit zwei unzuverlässigen Erzählerinnen und manipulativen Machtspielchen zu begeistern. Und passend für dieses Jahr möchte ich noch die Dystopie „New York Ghost“ von Ling Ma empfehlen, die zwar als melancholischer Endzeitthriller nur Beliebiges bietet, mich aber als bissige Satire und originelle Gesellschaftskritik sehr beeindruckte.

Hier sind meine Top 4 des Jahres 2021:

Chris Whitaker | Von hier bis zum Anfang
Ein entsetzliches Verbrechen hält die Einwohner des kleinen kalifornischen Küstenortes Cape Heaven immer noch fest im Griff. Vor Jahrzehnten wurde ein kleines Mädchen ermordet und der Jugendliche Vincent King kam als Täter hinter Gitter. Als er jetzt nach 30 Jahren entlassen wird und in seine Heimatstadt zurückkehrt, werden schicksalhafte Ereignisse in Gang gesetzt. Im Mittelpunkt von Whitakers vielschichtigem Roman steht die 13-jährige ständig rebellierende Duchess. Aufgrund ihrer dysfunktionalen Familie ist sie gezwungen, sich um sich selbst, ihre Mutter und um den kleineren Bruder zu kümmern. Ihre Mutter hat es nie verwunden, dass damals ihre kleine Schwester verstarb und ausgerechnet ihr Freund als Täter verhaftet wurde und flüchtet sich zeitlebens in Alkohol und Drogen. Duchess ist eine wunderbare Figur, die keinem Streit aus dem Weg geht. Mit ihrem viel zu großen Cowboyhut hat sie sich einen Schutzpanzer zugelegt und begreift sich als Nachfahre der Outlaws, die niemals Schwächen zeigten.

Der britische Autor verbindet hier mehrere Kriminalfälle mit einem tragischen Familiendrama. Dabei waren es die vielen überraschenden Wendungen sowie die Verkettung der verschiedenen Verbrechen, die mich an die Seiten fesselten und einen Sog entwickelten, dem ich mich nicht entziehen konnte. Die Ereignisse in der Vergangenheit werden nach und nach enthüllt und mit den unterschiedlichen Biografien verwoben, so dass eine permanente Spannung und emotionale Wucht entsteht. Dabei zeichnet sein intensiver Schreibstil, die plastischen Naturbeschreibungen und wie er die unterschiedlichen Figuren der fiktiven Kleinstadt zum Leben erweckt, die Geschichte aus. Herausgekommen ist eine Mischung aus klassischem Kriminalroman mit Anleihen an einen Western und eine beeindruckende Coming-of-Age-Geschichte. Für mich ein perfekter Roman, so wie er sein muss.

Ivy Pochoda | Diese Frauen
Als vor 15 Jahren in einem heruntergekommenen Stadtteil von Los Angeles in einer grausamen Verbrechensserie 13 Frauen brutal ermordet werden, wird das von der Polizei und den Medien weitestgehend ignoriert. Der Täter wurde nie gefasst, denn es betraf nur Frauen am Rande der Gesellschaft, die einer Arbeit nachgehen, bei denen man es offenbar als Berufsrisiko ansieht, wenn sie getötet werden. Als der Täter jetzt erneut zuschlägt und zwei Frauen mit durchgeschnittener Kehle in der Gosse gefunden werden, erkennt Esmeralda Perry, ein Detective der Sitte, als einzige die Zusammenhänge und das hier ein Serientäter am Werk ist.

Aus den verschiedenen Blickwinkeln der durch die Mordserie miteinander verbundenen weiblichen Erzählstimmen rollt Ivy Pochoda die Geschichte auf und wir erfahren von mehreren Schicksalen. Sie sind in ihren mannigfaltigen Lebenssituationen vielschichtig angelegt und wirken durch die teils vulgäre Sprache absolut authentisch. Der Erzählstil wirkt nie melodramatisch, sondern eher unterkühlt sowie distanziert und entfaltet trotzdem eine große Tiefe. Der Roman ist ein Konstrukt aus Krimi, Gesellschaftskritik und Milieustudie, der eine große Intensität entwickelt. Dabei liegt der Fokus nicht auf der Ermittlungsarbeit oder der Auflösung der Mordfälle. Im Mittelpunkt steht nicht der Täter, sondern die Opfer und die Hinterbliebenen, die in ihrer Verzweiflung sehr nahbar dargestellt werden. Pochoda gibt denen eine Stimme, die Angst haben, sich als Beute sehen und zu Opfer werden. Fernab von Hollywood zeigt sie eine düstere, realistische Welt, in der Vorverurteilung, Gleichgültigkeit und Frauenhass eine große Rolle spielen. Ein unerwartetes Leseerlebnis, fernab vom üblichen Serientäter-Einerlei, mit dem ich so nicht gerechnet hätte.

Volker Kutscher | Olympia (Band 8)
Bei der Fülle an historischen Kriminalromanen, die momentan den Markt überschwemmen, spielt Volker Kutscher immer noch in einer ganz anderen Liga. Sein mittlerweile achter Roman um Gereon Rath führt uns ins Jahr 1936. In Berlin finden die Olympischen Sommerspiele statt. Mittlerweile hat sich das Nazi-Regime voll etabliert und inszeniert die Spiele zur Propagandashow für das neue, friedliche Deutschland. Als ein amerikanischer Sport-Funktionär im Speisesaal des Olympischen Dorfes tot zusammenbricht, vermuten SS und Gestapo eine kommunistische Verschwörung, mit dem Ziel die Spiele zu sabotieren. Rath soll als inoffizieller Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes verdeckt ermitteln und die Verschwörer finden. Die Passagen, in denen wir mit Gereon Rath hinab in die Kerker der Gestapo steigen, wo die zumeist politischen Gefangenen willkürlichen Schikanen und Folterungen ausgesetzt sind, waren für mich kaum zu ertragen. Die SS verschmilzt immer mehr mit der Polizei und selbst dem bisher unpolitischen Einzelgänger Rath wird klar, dass er so nicht mehr als Kommissar arbeiten kann.

Man spürt die immer bedrohlicher werdende Stimmung und dieses Gefühl prägt diesen Band und macht für mich den großen Reiz dieses Romans aus. Durch die Fülle an akribisch recherchierten, historischen Daten entsteht ein intensives Bild jener Zeit ohne künstlich zu wirken. Ein packender Pageturner, beklemmend und dicht erzählt. Ursprünglich sollte die Reihe hier abschließen und der Roman endet auch mit einem richtigen Cliffhanger, der einige losen Enden zurücklässt. Ich bin gespannt, wie die im nächsten Band weiter geführt werden.

Michael Connelly | Late Show
Die Serie um den Ermittler Harry Bosch des amerikanischen Ausnahme-Schriftstellers habe ich schon vor Jahrzehnten sehr gemocht und dann doch aus den Augen verloren. Jetzt hat er eine neue Serie um eine junge Polizistin beim LAPD geschaffen. Nachdem Detective Renée Ballard ihren Vorgesetzten wegen sexueller Nötigung anklagte, wird sie in die von allen verhasste Nachtschicht, die sogenannte Late Show versetzt. Das Schlimmste für die ehrgeizige Polizistin ist dabei noch, dass sie morgens nach Schichtende jeden Fall wieder abgeben muss. Als in einem Nachtclub fünf Menschen erschossen werden und eine Frau halbtot auf dem Santa Monica Boulevard gefunden wird, lässt das Renée keine Ruhe und sie beginnt tagsüber auf eigene Faust zu ermitteln.

Ich habe die eigensinnige, toughe Stand-Up-Paddlerin, die am Strand von Santa Monica mit ihrer Hündin lebt, so gerne bei ihren Nachforschungen durch die Straßen der kalifornischen Metropole begleitet. Ein lebendiges Los Angeles, das viel mehr ist als eine Kulisse. Mit ihr erlebt man den Polizeialltag und bekommt ein Gespür für die besonderen Probleme des weiblichen Detektives. Connelly fährt ein vielschichtiges Figurenensemble auf und ich musste öfter mal überlegen, wer mit welchem Fall zusammenhängt. Ballard ist eine wunderbare Ermittlerfigur mit Ecken und Kanten. Late Show ist ein klassischer Cop-Thriller mit realitätsnahen Schilderungen der Polizeiarbeit, einem komplexen Plot und einer coolen Serienfigur. Auch den mittlerweile auf Deutsch erschienen zweiten Band, in dem Renée auf Harry Bosch trifft, mochte ich sehr, hier fehlte mir ein bisschen die Entwicklung der Figur. Eine ausführliche Rezension von Gunnar findet sich auf dem Blog.

Chris Whitaker | Von hier bis zum Anfang

Chris Whitaker | Von hier bis zum Anfang

Sie marschierten durch den Wald wie eine Armee, angeführt von Polizisten, Taschenlampenlicht überall, der Ozean hinter den Bäumen war noch ein ganzes Stück entfernt, aber das Mädchen konnte nicht schwimmen. (Auszug Seite 7)

Cape Heaven, eine fiktive, kleine Küstenstadt in Kalifornien, wird überschattet von einem tragischen Unglück, welches vor 30 Jahren stattfand. Damals verschwand ein kleines Mädchen und das erste Kapitel blickt auf das vergangene, tragische Geschehen zurück, denn die kleine Sissy Radley konnte nur noch tot geborgen werden. Gleich die ersten Sätze schüren eine bedrückende Atmosphäre und der empathische und tiefgründige Erzählstil hat mich total mitgerissen. Die Suche nach dem vermissten Kind durch das ganze Dorf in Form einer menschlichen Kette darzustellen, ist sehr bildgewaltig.

30 Jahre später sind die Auswirkungen immer noch zu spüren. Star Radley hat nicht nur im Teenageralter ihre kleine Schwester verloren, des Weiteren hat es ihr den Boden unter den Füßen weggezogen, dass ihr damaliger Jugendfreund, der 15-jährige Vincent King als Täter für 30 Jahre hinter Gitter kam. Mittlerweile ist die schöne Star alleinerziehende Mutter von zwei Kindern und sucht Vergessen in Drogen und Alkohol. Zwischen ihren depressiven Phasen tritt sie gelegentlich als Sängerin in einer heruntergekommenen Kneipe auf, zieht stets die falschen Männer an, während es die Aufgabe ihrer Tochter Duchess ist, die dysfunktionale Familie zusammenzuhalten. Die Dreizehnjährige muss sich um sich selbst, ihre Mutter und um den kleinen Bruder Robin kümmern, wobei ihre aufopferungsvolle Fürsorge im Besonderen dem Fünfjährigen gilt.

Ein unzumutbarer Zustand und nur der gutmütige Chief Walker, Polizist des Ortes und Teil der damaligen Freundschaftsclique hat zwischendurch ein Auge auf die Familie und kümmert sich nach seinen Möglichkeiten. Er ist auch der einzige, der seinen ehemaligen Freund Vincent King regelmäßig im Gefängnis besucht und sich um ihn bemüht und hilft, als der jetzt nach 30 Jahren entlassen wird und nach Cape Heaven zurückkehrt.

Haftentlassung nach 30 Jahren
Die Haftentlassung Kings schürt zusätzliches Konfliktpotenzial und setzt sich überschlagene Ereignisse in Gang. Es kommt zu einigen Tötungsdelikten, aber es ist schwierig, die Geschehnisse in Worte zu fassen, ohne zu viel zu spoilern. Denn für mich waren es grade die vielen überraschenden Wendungen sowie die Verkettung der verschiedenen Kriminalfälle, die mich an die Seiten fesselten und einen Sog entwickelten, dem ich mich nicht entziehen konnte. Insbesondere das Leben der beiden Kinder wird komplett auf den Kopf gestellt und es geht nur noch rasant bergab. Die unverhofften Schicksalsschläge erschüttern nicht nur die Figuren, sondern gehen auch der sensiblen Leserin ans Herz.

Die Ereignisse in der Vergangenheit werden nach und nach enthüllt und mit den unterschiedlichen Biografien verwoben, so dass eine permanente Spannung und emotionale Wucht entsteht. Whitakers intensiver Schreibstil, die stimmungsvollen Naturbeschreibungen, wie er die unterschiedlichen Figuren der Kleinstadt mit ihren Brüchen zum Leben erweckt, das alles hat mich durchaus an Stephen King erinnert. Die tief ausgeleuchteten Charaktere sind ein großer Pluspunkt, sie wirken authentisch, man meint sie zu kennen und fiebert mit ihnen mit.

Outlaw und Prinz
Im Mittelpunkt steht die zornige, ständig rebellierende Duchess. Sie musste schon viel zu früh erwachsen werden und geht keinem Streit oder Prügelei aus dem Weg. Mit ihrem viel zu großen Cowboyhut hat sie sich einen harten Panzer zugelegt und begreift sich als Nachfahre der Outlaws, denn die zeigten keine Schwäche und fürchteten sich vor niemandem. Ihren kleinen ängstlichen Bruder sieht sie als Prinz, den es zu beschützen gilt. Ein weiterer wichtiger Protagonist ist der loyale Chief Walker, der verzweifelt versucht, die alten und neuen Ereignisse aufzuklären. Der übergewichtige Sheriff versucht die Ordnung in Cape Heaven aufrechtzuhalten und stellt sich immer in den Hintergrund. Seine Umwelt hält ihn für einen Alkoholiker, doch den krankheitsbedingten Grund für seine ständig zitternden Hände will er niemandem verraten, aus Angst, seinen Job zu verlieren. Dann Hal, der stoische, schroffe Großvater auf seiner Ranch in Montana, zudem Duchess nur vorsichtig Nähe aufbaut. Es tauchen noch viele weitere interessante Charaktere auf, die alle auf ihre Weise die Geschichte lebendig machen.

Das permanente Scheitern ist schwer zu ertragen und zum Schluss ist zwar kein Happy-End in Sicht, aber zumindest kann man ein kleines Licht am Ende des Tunnels sehen. „Von hier bis zum Anfang“ ist Kriminalroman, Western, bewegendes Familiendrama und eine beeindruckende Coming-of-Age-Geschichte mit einer großartigen Heldin. Großes Kino über Schuld und Vergebung und mein Highlight des Jahres!

Zuerst mal hatte mich das wunderschön gestaltete Cover angesprochen, dass auf eine Geschichte im ländlichen Amerika hinweist, und tatsächlich spielt die Handlung nicht nur in Kalifornien, sondern ein ganzer Erzählstrang auch in Montana.

Überraschenderweise ist Chris Whitaker Brite und lebt mit seiner Familie in Herfordshire, wählt als Setting für seine Romane aber gerne amerikanische Kleinstädte. Er war 10 Jahre in der Finanzbranche tätig, bevor er sich dem Schreiben zuwandte. Seine Romane gewannen zahlreiche Preise. „Von hier bis zum Anfang“ wurde vom Guardian zum Buch des Jahres gekürt.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Von hier bis zum Anfang | Erschienen am 01. Juli 2021 im Piper Verlag
ISBN 978-3-492-07129-1
448 Seiten | 22.- Euro
Originaltitel: We begin at the end (Übersetzung aus dem Englischen von Conny Lösch)
Bibliografische Angaben & Leseprobe