Kategorie: Kurt Schäfer

Henrik Siebold | Inspektor Takeda und der lächelnde Mörder

Henrik Siebold | Inspektor Takeda und der lächelnde Mörder

Siebold wartet in Inspektor Takeda und der lächelnde Mörder, dem dritten Roman der Reihe um den japanischen Austauschpolizisten, mit einem mitreißenden und höchst vertrackten Fall auf und präsentiert erneut sein ungewöhnliches und spannendes Ermittlerduo Claudia Harms und Kenjiro Takeda. Das Aufeinandertreffen dieser beiden so unterschiedlichen Charaktere ist schon ein gehöriger Kulturclash, mit allen daraus entstehenden manchmal komischen Missverständnissen und Kontroversen. Dabei kommen die zwei grundsätzlich ausgesprochen gut miteinander klar, sie hegen sogar große Sympathie füreinander und bilden für gewöhnlich ein bestens funktionierendes Team, vor allem wenn sie gemeinsamen dem ungeliebten und unsympathischen weil ungerechten Chef Holger Sauer die Stirn bieten. Manche Eigenheiten oder Eigenarten Takedas nerven Claudia, der wiederum bestaunt und bewundert seine Kollegin für die eine oder andere Verhaltensweise. Darüber hinaus besteht aber ein herzliches Verhältnis zwischen den beiden, die mitunter fast den Eindruck eines Liebespaares vermitteln, und tatsächlich hat jeder für sich schon mit dem Gedanken an ein engeres Verhältnis gespielt, beide wollen aber ihre gute Beziehung nicht durch eine Affäre gefährden.

Im Moment allerdings richtet sich ihre gesamte Aufmerksamkeit auf den aktuellen Fall, der eigentlich klar zu sein scheint. Am S-Bahnsteig des Dammtor-Bahnhofs ist eine Frau vor den einfahrenden Zug gestürzt, augenscheinlich gestoßen von einem Schüler, der sich mit seiner Klasse auf Exkursion befindet. Simon Kallweit, 17 Jahre alt, gibt die Tat unumwunden zu, außerdem stehen zahlreiche Zeugen zur Verfügung, seine Mitschüler, andere Reisende, ebenso Bilder der Überwachungskamera und etliche Handyfilme, dieses abscheuliche Verbrechen dürfte demnach wohl bald aufgeklärt sein. Aber so einfach ist es nicht: Noch bevor sie den mutmaßlichen Täter vernehmen können, taucht der schmierige Anwalt Lothar Röhler auf, im Schlepptau Simons Eltern. Der alte Kallweit ist Hamburgs Justizsenator, das bedeutet, Claudia und Ken werden bei der Aufklärung eine Menge Fingerpitzengefühl brauchen. Hartmut Kallweit tut den Verdacht, dass sein Sohn ein kaltblütiger Mörder ist, als Unsinn ab und behauptet, dass man ihm persönlich etwas anhängen will um ihn politisch kaltzustellen und seinen Rücktritt zu erzwingen. Auch die Mutter Astrid Kallweit ist von der Unschuld ihres Sohnes überzeugt und bricht zusammen, als ihr klar wird, dass der vorläufig in Untersuchungshaft bleiben muss.

Die wird allerdings nicht lange andauern. Simon widerruft sein Geständnis und die Zeugenbefragungen bringen kein Ergebnis. Es stellt sich heraus, dass niemand wirklich gesehen hat, wie die Frau gestoßen wurde und auch die Videoaufnahmen zeigen den entscheidenden Moment nicht eindeutig. Also kommt der Verdächtige frei und das Ermittlerteam steht am Beginn langwieriger und schwieriger Untersuchungen. Während sie mühsam versuchen, Beweismaterial zusammenzutragen, geschieht ein weiterer Mord an einem scheinbar zufälligen Opfer. In einem Kino wird ein Besucher während der Spätvorstellung mit einer Drahtschlinge erwürgt. Wieder gibt es keine Augenzeugen, aber diesmal finden Claudia und Ken einen Hinweis auf dem Band einer Überwachungskamera des nahen U-Bahnhofs. Simon Kallweit hat sich zum Tatzeitpunkt in der Nähe des Kinos aufgehalten. Ist er also doch ein Mörder, der zwei willkürlich ausgewählte Opfer auf dem Gewissen hat, plant er womöglich weitere Taten? Claudia glaubt nicht an Zufall, sie hält auch nichts von der Theorie einer Intrige gegen den Senator, obwohl inzwischen klar ist, dass er in einen Bauskandal verwickelt ist.

Nicht nur hier ist die Geschichte sehr realistisch und aktuell, sie thematisiert unter anderem eine Affäre um Flüchtlingsunterkünfte, nimmt Bezug auf Wohnungsnot und Mietwucher und spielt an auf Auswüchse wie die Auto-Raserszene oder die zunehmende Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen. Vor allem aber gibt Siebold, der eigentlich Daniel Bielenstein heißt, an dieser Stelle tiefe Einblicke in die hanseatische Politik und ihre Kehrseite, die versteckten Machtstrukturen, die Seilschaften und Netzwerke im Senat und in den Parteien, den Filz und die Intrigen.

Er kennt sich aus, ist Journalist und Wahl-Hamburger seit vielen Jahren, er macht uns auch bekannt mit den vielen Facetten der Stadt, von Alsterdorf bis Poppenbüttel, vom Schanzenviertel zum Ohlsdorfer Friedhof und durch manch anderen Vorort geht die Reise, Siebold lässt keinen Kiez und kein Viertel aus. Aber er setzt nicht nur „sein“ Hamburg mit einer Art Hassliebe in Szene, er ist auch bemüht, den Blick zu öffnen für die japanische Kultur und Lebensart abseits von gängigen Klischees. Mit den Eigenheiten dieser weitgehend fremden Gesellschaft die einen Spagat versucht zwischen Tradition und Fortschritt ist er bestens vertraut, verbrachte einige prägende Jahre seiner Kindheit und Schulzeit in Tokio und beherrscht perfekt Schrift und Sprache des Landes, für das er weiterhin eine große Faszination verspürt und das er regelmäßig besucht. Klar, dass in seinen Krimi an passender Stelle immer wieder einmal japanische Vokabeln und Begriffe einfließen, vor allem, wenn er uns den Menschen Ken, seine Persönlichkeit, sein Wesen näher bringen will. Der Liebhaber teurer Designer-Anzüge ist geschieden, begeht manchmal feierlich die Teezeremonie, beherrscht die Kampfkunst Takeda-ryū und ist häufig schlaflos. Dann geht er hinaus in die Nacht und ans Elbufer, um Jazz zu spielen. Ken ist ein großartiger Saxofonist und tritt manchmal in Hamburger Clubs auf, er hat aber auch Spaß daran, in Karaoke-Bars zu singen. Hin und wieder findet man ihn aber auch in seinem Stammlokal bei einer Flasche Whisky, wenn er das Bedürfnis hat, sich in Stresssituationen oder in Momenten von Heimweh oder Zweifeln zu betrinken.

Und Zweifel tauchen im aktuellen Fall immer häufiger auf, mehr als einmal müssen Claudia und Ken ihre Thesen widerrufen und feststellen, dass sie sich offenbar verrannt haben und ihrer Sache zu sicher waren. So gibt es ein paar Misstöne zwischen den beiden Ermittlern, denn während Ken mehr denn je das Gefühl hat, dass sie bei Simon auf der richtigen Fährte sind, verfolgt Claudia andere mögliche Spuren. Beide versuchen in immer neuen Ansätzen, ihre unterschiedlichen Theorien zu untermauern und erleben dabei, wie sich ein ums andere Mal die Dinge nicht so entwickeln, wie es zu erwarten war. Der Plot wartet mit etlichen überraschenden Kehrtwendungen auf und die Ermittler bleiben mehrmals irritiert und ratlos zurück. Ken versucht in intensiven Gesprächen Simon aus der Reserve zu locken und lernt dabei einen hochintelligenten, aber undurchschaubaren Jungen kennen, von dem man nie weiß, wann er lügt und wann er die Wahrheit sagt. Ganz sicher aber verbirgt er etwas, auch wenn er sich dem Japaner, für den er offensichtlich Sympathien hegt, ein wenig geöffnet hat. Mit einer rätselhaften Bemerkung allerdings weiß Ken zunächst nichts anzufangen: „Ore wa Ghouru da!“, „Ich bin ein Ghoul!“ erklärt ihm der Junge.

Ghoule sind eine Mischung aus Zombie und Vampir, die Menschen töten, um sich von deren Fleisch zu ernähren, sie manchmal aber auch aus purer Mordlust umbringen. Tokyo Ghoul ist ein Manga, dessen Hauptfigur Ken Kaneki ist, ein junger Student, der durch einen Unfall in einen Halb-Ghoul verwandelt wird und fortan mordet. Dabei ist er eigentlich ein nachdenklicher Einzelgänger, der sich für Literatur interessiert und mit dem sich viele Teenager identifizieren können. Manga können dazu führen, dass sich junge Leser völlig von der Außenwelt abwenden und nur noch in der Welt der Zeichengeschichte leben, dabei den Bezug zur Wirklichkeit verlieren. Sollte das auch bei Simon der Fall sein?

Bis dieses Rätsel gelöst wird und der Roman ein überraschendes aber durchaus passendes Ende findet, erfahren wir noch eine Menge mehr über eher unbekannte japanische Zustände wie auch über deutsche Befindlichkeiten. Dieser sehr aktuelle Krimi wirkt nur zu Beginn etwas betulich, erweist sich dann aber als „moderner“ Roman mit viel Tempo, clever erdacht und hervorragend erzählt. Daneben gibt es immer wieder auch eher ruhige, nachdenkliche, fast meditative Sequenzen. Für die sorgt in der Regel der tiefgründige, fast philosophische Ken, aber manchmal scheint es, als ob seine japanische Lebensart auch auf Claudia bereits abfärbt. Das Thema lässt wenig Raum für Scherze, aber wenn es ab und zu witzig wird, ist der Humor absolut treffend. Dabei sorgt vor allem Kens häufig überraschendes, unvorhersehbares Verhalten für ungewollte Komik. Es gibt wenig auszusetzen an diesem Roman, der auch dank der ständigen Kehren und Wenden bis zum Schluss die Spannung hält, daher für diesen Fall des Japanischen Inspektors fünf Sterne.

 

Rezension und Foto Kurt Schäfer.

Inspektor Takeda und der lächelnde Mörder | Erschienen am 13. April 2018 im Aufbau Verlag
ISBN 978-3-7466-3385-5
352 Seiten | 9.99 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen unseres .17special Mini-Spezials Japan.

Åke Holmberg | Privatdetektiv Tiegelmann

Åke Holmberg | Privatdetektiv Tiegelmann

Privatdetektiv Teffan Tiegelmann hat sein Büro an der Hauptstraße der großen Stadt mitten im Geschäftsviertel, was natürlich günstig ist für sein Gewerbe. Aber die Geschäfte laufen schlecht, nie erhält er einen Auftrag, und wenn es an der Tür klingelt, ist es zumeist ein Hausierer, der Schuhriemen verkaufen will. Dabei ist Tiegelmann, ein unscheinbarer Mann, klein und mager, aber mit scharfem Profil, das wegen der großen, schmalen Nase einem Habicht gleicht, der geschickteste Detektiv im ganzen Land. Scharfsinnig und kühn wie kein zweiter, der mit Vorliebe die gefährlichsten Aufträge übernähme, wenn er denn beauftragt würde. Aber niemand weiß, wie geschickt Teffan Tiegelmann handeln kann, das weiß nur er selbst.

Obwohl er nie etwas zu tun hat, scheint er immer sehr beschäftigt, wenn zufällig ein Besucher in seinem Büro auftaucht, so als sei er förmlich mit gefährlichen Aufträgen überhäuft. Das liegt daran, dass im Nebenzimmer seine Sekretärin sitzt, die unablässig das Telefon in Gang hält. Fräulein Hanselmeier (Fröken Jansson) ist eine ältere, grauhaarige, sehr verlässliche Dame, die ständig Topflappen häkelt. Sobald jemand bei Tiegelmann eintritt, läutet das Telefon in einem fort, und der Besucher hört etwa: „Hallo. Ja, ist gut! Aber merkt euch: Die Pitolen nur im Notfall anwenden!“

Unser Meisterdetektiv heißt eigentlich Stephan Siegelmann, aber das kann er nicht aussprechen, er stößt nämlich mit der Zunge an, der S-Laut glückt ihm nicht. Deshalb hat er seinen Namen geändert und dies amtlich bestätigen lassen. Er kann übrigens auch nicht „Sahnetörtchen“ sagen, dabei sind die „Tahnetörtchen“ aus der „Konditorei Roda“ sein Lieblingsnaschwerk: groß, gerade richtig braun und mit viel Sahne, die nach allen Seiten überquillt. Leider ist die Konditorei Rosa die einzige im Land, die diese Törtchen das ganze Jahr anbietet, sonst bekommt man sie nur zur Fastenzeit. Deshalb führt Tiegelmann, wenn er die Hauptstadt verlässt, immer genügend davon in einer großen Kuchenschachtel mit sich.

Und schon bald soll er wirklich aufbrechen, nach Preißelbeerkirchen. Denn hier treiben zwei Erzgauner ihr Unwesen, der berüchtigte Wilhelm Wiesel (Ville Vessla)und sein Kompagnon, ein Grobian und Vielfraß genannt der Ochse (Oxen). Eben haben sie den Fräuleins Friederike und Friedlinde Friedborn (Fredericksson), die hier in der Villa Friedrichsruh wohnen, einen Erpresserbrief geschrieben. 3000 Mark sollen sie in einer hohlen Eiche deponieren, sonst könnte etwas geschehen, es sei vorgekommen, dass eine ganze Villa in die Luft flog. Da trifft es sich gut, dass in seinem Büro ein Herr Omar auftaucht, ein Orientale, der ihm einen fliegenden Teppich verkauft. Nun kann er sich sofort aufmachen, um die beiden Verbrecher unschädlich zu machen und die Fräuleins sowie ihre zwei Nichten und zwei Neffen, die jeden Sommer ihre Ferien bei den Tanten verbringen, zu schützen.

Tiegelmann sieht schon die Schlagzeilen vor sich: „Wiesel in dem Städtchen Preißelbeerkirchen festgenommen!
Phantastische Verbrecherjagd T. Tiegelmanns.“

Und zum guten Schluss kommt es natürlich genau so. Mit Hilfe der vier Kinder und „Onkel“ Tiegelmanns unfehlbarem Plan gelingt es schließlich, die Ganoven zu fangen. Das geschieht auf kindgerechte Weise, aber auf erstaunlich hohem Niveau, die sprachliche und stilistische Qualität und Originalität der Geschichten konnte sicher auch Erwachsenen Freude bereiten. Heute mutet manches etwas verstaubt und unzeitgemäß an, Tiegelmann ist sicher kein Superheld und von heutigen Fantasy- oder Actionstories sind seine Abenteuer natürlich Welten entfernt. Bei Holmberg geht es stattdessen ab und an märchenhaft zu, man denke nur an den fliegenden Teppich, und die Personen treten so auf, wie man es für die fünfziger Jahre in einem Kinderbuch erwarten darf. Der Detektiv mit falschen Bärten und allerlei Verkleidungen, die Kinder gewitzt und vorwitzig, die Fräuleins altjüngferlich und die Ganoven – na ja, Mord und Totschlag wird man vergeblich suchen, wenn Ochse dem Mädchen ein Bein stellt und die Nichte sich das Knie aufschlägt, ist das schon schlimm genug.

Holmberg fabuliert immer mit einem Augenzwinkern, humorvoll, mit vielen witzigen Einfällen und Formulierungen. Der stets schlecht gelaunte Wiesel knurrt an einer Stelle: „Ich esse nie auf nüchternen Magen!“ Das könnte in den allgemeinen Sprachgebrauch übernommen werden, wie auch der Begriff „Temlor“ inzwischen durchhaus geläufig ist, und des berühmte „Använd Pitolerna bara i nödfall!“ wird immer noch häufig noch als Scherz gebraucht. Als Holmberg die Bücher schrieb, legte man offensichtlich noch viel Wert auf eine gewählte und kultivierte Ausdrucksweise, dabei gelingt es Holmberg perfekt, seinen unterschiedlichen Figuren entsprechend Alter und Herkunft ihre Sprache in den Mund zu legen, mitunter mit Äußerungen, die heute nicht mehr gebräuchlich, jüngeren wahrscheinlich gar nicht mehr geläufig sind.

Man darf die Geschichten also nicht allzu ernst nehmen, aber sie sind eine amüsante, höchst unterhaltsame Lektüre, die mir auch nach mehr als fünfzig Jahren noch Spaß gemacht hat. Meine drei Abenteuer aus der Sonderausgabe des Tosa-Verlages, im Original 1948, 1949, 1950 erschienen, entsprechen den drei ersten Büchern Holmbergs: „Privatdetektiv Tiegelmann“, „Teffan Tiegelmann in der Wüste“ und „Teffan Tiegelmann in London“. Das Buch stammt wohl aus dem Jahr 1960, ist von Ida Clemenz übersetzt und von Ulrik Schramm durchgehend illustriert, angelehnt an die Originalzeichnungen von Sven Hemmel. Bis in die achtziger Jahre gab es noch Neuauflagen verschiedener Verlage, in späten Veröffentlichungen bei Arena hieß der Detektiv auch in der Übersetzung Ture Sventon. Heute gibt es leider nur noch antiquarische Exemplare, ich habe mir gleich den zweiten Sonderband von Tosa gesichert, „Die neuen Abenteuer des Teffan Tiegelmann“.

In seiner Heimat ist Ture Sventon heute noch populär und die neun Detektivromane von Åke Holmberg erleben ständig neue Auflagen. Mit einer Ausnahme: Das Buch „Ture Sventon i London“ erscheint vorläufig nicht mehr. Auch in Schweden gab es eine Diskussion um Ausdrücke in den alten Geschichten, die heute verpönt sind, in diesem Fall das Wort „Neger“. Es sollte ersetzt werden durch eine politisch korrekte Formulierung, wie es ja auch schon Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“ erleben musste. In diesem Fall allerdings weigerten sich die Rechteinhaber, Holmbergs Werk zu verändern. Ansonsten geht Tiegelmann mit der Zeit: Seit 2012 gibt es seine Abenteuer auch als E-book.

1989 war Ture Sventon der Held einer TV-Serie für den berühmten „Julskalendrarna“, den Adventskalender des schwedischen Senders SVT, eine Tradition seit 1960, bei der in der Vorweihnachtszeit jeden Tag bis zum 24. Dezember ein Türchen geöffnet wird. In jenem Jahr befanden sich dahinter jeweils Illustrationen von Sven Hemmel aus den Ture-Sventon-Büchern, die einzelnen zwanzig Minuten langen Filmchen zeigten Abenteuer aus den Büchern „Ture Sventon, Privatdetektiv“, „Ture Sventon in der Wüste“, Ture Sventon in London“ und „Ture Sventon in Stockholm“.

Zuvor gab es bereits 1972 eine erste Verfilmung von „Ture Sventon, Privatdetektiv“ von Pelle Berglund mit Karl Julle in der Hauptrolle. In der Fernsehserie wie auch im Film „Ture Sventon und der Fall Isabella“ von 1991 spielte Helge Skoog den Privatdetektiv.

Der Zeichner und Illustrator Sven Hemmel schuf auch Cartoons von Ture Sventons Abenteuern, die zwischen 1968 und 1975 in der „Berner Post“ erschienen. Die ersten drei Abenteuer wurden auch in „Husmodern“ veröffentlicht, einer lange Zeit sehr beliebten Frauenzeitschrift.

Das erste Buch erschien 1974 auch als Langspielplatte und auf Kassette, Jan Nygren verlieh hier dem Detektiv seine Stimme. Und 2005 wurde eine Hörspielversion von „Ture Sventon in der Wüste“ ausgestrahlt, mit Johan Rabaeus und Rikard Wolff als Sventon und Herr Omar. „Ture Sventon in Stockholm“ wurde 2009 sogar für die Bühne bearbeitet.

Von 1999 bis 2008 wurde Vom Svenska Barnboks Institut für Kinder und Jugendliteratur auf der Buch- und Bibliotheksmesse Göteborg der „Temmelburken“ (offiziell Ture Sventon priset) verliehen, ein Kulturpreis für Kinder- und Jugendbuch-Autoren, der nach der Keksdose benannt war, in welcher der Detektiv seine Temlor (oder Tahnetörtchen) transportierte. Unter anderem bekam Cornelia Funke den Preis im Jahre 2002, und Åke Holmberg selbst (der 1991 verstarb) wurde er 2007 posthum verliehen.

 

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

 

Privatdetektiv Tiegelmann | Erstveröffentlichung 1948
Die gelesene Ausgabe erschien 1963 im Tosa Verlag
173 Seiten, nur noch antiquarisch erhältlich

 

Diese Rezension erscheint im Rahmen unseres .17specials Kinder- und Jugendkrimis.

Alexander Oetker | Château Mort

Alexander Oetker | Château Mort

Ein Krimi aus dem Médoc und aus Saint-Émilion.

Château Mort knüpft fast nahtlos an den Erstling aus dem vergangenen Jahr an, in Retour hatten Commissaire Luc Verlain und seine von ihm angehimmelte Kollegin Anouk Filipetti den Mord an einem jungen Mädchen aufgeklärt. Am folgenden Tag war Anouk nach Venedig aufgebrochen, wegen eines Trauerfalles, mehr wusste Luc nicht. Nun sind zwei Monate vergangen und per SMS kündigt sie Luc ihre Rückkehr für den kommenden Tag an. Der ist voller Vorfreude und macht seinen Freund Yacine neugierig auf die Frau, wegen der schlaflose Nächte hatte.

Yacine Zitouna, Sohn algerischer Einwanderer, wurde von Luc von der Straße weg in die Polizeiausbildung geholt, mittlerweile ist er Capitaine de Police bei der Pariser Mordbrigade, Lucs Kollege. Der hat sich gerade nach Bordeuax versetzen lassen, um bei seinem todkranken Vater sein zu können, den er gerade in einen Kurort zur Erholung gebracht hat. In diesem zweiten Roman Oetkers spielt er leider überhaupt keine Rolle. Ebenso übrigens wie Lucs baskischer Kollege Etxeberria, mit dem gemeinsam er die Brigade Criminelle Aquitaine leiten soll, solange er in Bordeaux ist. Wollte er anfangs lieber heute als morgen zurück in die Hauptstadt, so ist er inzwischen hin- und hergerissen zwischen seinem Alltag in der geliebten, quirligen Metropole und der Schönheit der Landschaften und dem ruhigen und guten Leben im Südwesten Frankreichs, wo er in einem kleinen Ort am Meer aufwuchs.

Yacine ist gerade zu einem kurzen Besuch über das Wochenende eingetroffen, um der Großstadt für ein paar Tage zu entfliehen, die wie ganz Frankreich unter einer Rekord-Hitzewelle stöhnt, und das Anfang September. Er will mit Luc in dessen Strandhütte, der Cabane seines Vaters, einem früherer Austernfischer, ein wenig entschleunigen, bei viel Bier und Wein, guten Gesprächen und noch besserem Essen. Die beiden lassen es tatsächlich gehörig krachen, mit den ersten Zeilen des Buches wachen sie mit einem Brummschädel am Strand auf. Dennoch müssen sie ran, die Polizisten haben sich als Freiwillige zur Verfügung gestellt, um als Streckenposten beim berühmten Marathon du Médoc zu fungieren, einem Riesenspektakel, bei dem rund 7500 Läufer auf die Strecke gehen, zum großen Teil in abenteuerlichen Kostümen und Verkleidungen. Der Kurs führt rund um Pauillac, vorbei an den schönsten Weinschlössern des Gebietes, und nicht nur daran vorbei: Die Läufer bekommen an den Verpflegungsständen vor den Châteaux tatsächlich Rotwein, wenn auch nur eine Probe in kleinen Bechern.

Am Vorabend des Ereignisses findet traditionell ein Nudelessen mir 1500 geladenen Gästen statt, das „Dinner Mille Pâtes“. Dieses Jahr richtet Lucs alter Freund, der Winzer Richard das Fest aus, und er bittet ihn, bei dieser Gelegenheit einem Konkurrenten auf den Zahn zu fühlen: Hubert de Langeville, ein alter, sehr renommierter Winzer, der sich zur Ruhe setzen will. Richard hat vor, dessen kleines Château in Saint-Émilion zu erwerben. Aber es kommt ganz anders, das fast schon perfekte Geschäft platzt, Hubert scheint im Gegenteil plötzlich expandieren zu wollen. Aber das Châtau Bordas, auf das er ein Auge geworfen hat, reizt offenbar auch andere Interessenten. Hubert, der sich prächtig mit Luc versteht, verspricht ihm, die Hintergründe am kommenden Tag nach dem Marathon zu erläutern. Dazu wird es allerdings nicht mehr kommen, denn während des Laufes passiert Dramatisches. Als Luc und Yacine am Stand von Richard eine Pause machen, gesellt sich plötzlich Anouk zu ihnen, die endlich zurück ist. Die Wiedersehensfreude ist groß, wird aber schnell getrübt: Nicht weit entfernt sind etliche Läufer kollabiert, aber nicht aufgrund der enormen Hitze. Der sous-préfet des Départements kann gerade noch wiederbelebt werden, für einen anderen kommt jede Hilfe zu spät. Es ist Hubert de Langeville.

Vergiftet mit einem Medikament, das offenbar in den Wein gemischt wurde, der als Probe an die Läufer ausgeschenkt wurde – ausgerechnet am Château von Richard! Und das aufgrund einer chronischen Krankheit Hubert zum Verhängnis wurde. Wer wusste von dieser Krankheit? Wer hatte ein Interesse an seinem Tod? Jetzt beginnen die verzwickten Ermittlungen, die sich nicht nur als schwierig herausstellen, sondern zuweilen auch heikel und delikat sind. Während Yacine zurück in sein Pariser Kommissariat muss, nehmen Luc und Anouk ihre bewährte Teamarbeit auf. Und geraten diesmal gehörig aneinander. Denn während immer mehr Indizien auf Richard, Lucs alten Freund hinweisen, weigert sich der, den Tatsachen ins Auge zu sehen und ermittelt fast im Alleingang in andere Richtungen. Ganz klassisch mit viel „Laufarbeit“ (Luc fährt einen alten Jaguar), mit Gesprächen, Befragungen, Verhören.

Wobei die Dialoge durchaus noch etwas lebendiger, abwechslungsreicher sein könnten. Wenn Oetker allerdings ins Erzählen gerät, zeigt sich seine Stärke mit wunderbar leichten, legeren Beschreibungen von Land und Leuten, der Besonderheiten in den Weinbauregionen um Bordeaux, ihrer sehr eigenen Schlossbesitzer, der Einwohner in den kleinen Städtchen, all das gelingt ihm so fließend, so flott, dass man die Seiten förmlich überfliegen kann. Wer sich ein wenig interessiert für die Welt der Winzer, den Weinanbau und -Handel, für die Entstehung der Cuvées und Gand Crus, der kommt auf seine Kosten bei einem Blick hinter die Kulissen der Branche – inklusive einer Schlossführung mit Weinprobe für Touristen, die fast schon eine Parodie ist. Wer „nur“ einen soliden Krimi erwartet, ist möglicherweise ein wenig enttäuscht, dafür ist Oetker an vielen Stellen zu ausführlich und genau, er hält sich gern an Einzelheiten auf. Besonders rückt er Lucs Liebesleben in den Mittelpunkt, der Frauenheld ist nämlich nicht nur verrückt nach Anouk, er hat noch zwei andere Eisen im Feuer, eine etwas fragwürdige Haltung, aber irgendwie nimmt man sie dem charmanten, sympathischen Kerl nicht übel.

Darüber plätschert der Mordfall eine Zeitlang dahin, Luc kommt der Lösung einfach nicht näher, zu viele mögliche Täter, zu viele offene Fragen. Der Filialleiter der Crédit Agricole weiß einiges, will aber nichts sagen, die Apothekerin verkörpert praktisch die Nachrichtenzentrale des Ortes, weiß aber nicht genug, was der Arzt weiß, lässt sich zunächst nicht prüfen, er ist verschwunden. Und manch einer weiß angeblich gar nichts. Lucs Ermittlungen sind langwierig aber nicht langweilig, so dass der Leser nicht ungeduldig wird, denn es bleibt jederzeit unterhaltsam. Auch weil wir es mit einem sehr geschickt zusammengestellten Personal zu tun haben. Die interessanten, faszinierenden Figuren sind allesamt sehr lebendig, greifbar, echte Typen, die zum Teil sehr grob geschnitzt, ein wenig überzeichnet und doch absolut echt sind, zum anderen aber treten Akteure auf, die durch eine sehr feine und empfindsame Ausgestaltung und Charakterisierung anziehen.

Der Aufbau des Romans gleicht dem Debüt, 54 Kapitel spiegeln die Ereignisse zwischen Vendredi, Freitag bis zum Sonntag der kommenden Woche, Dimanche. Eine recht kurze Zeitspanne, in der auch nicht sehr viel passiert, ein Mord und recht zähe Ermittlungen, ansonsten viel Privates und Persönliches, auch Pikantes und Peinliches aus der feineren Gesellschaft. Ja, Luc und seine Mitstreiter verteilen wieder Seitenhiebe auf die Politiker und die Politik, auf die Eliten und die sogenannte High-Society. Das macht Spaß und lockert den raffinierten, nicht so leicht zu durchschauenden Plot auf, der schließlich noch sehr spannend wird bis Luc endlich ein Licht aufgeht und die etwas überraschende Aufklärung des Falles gelingt. Ein paar Rätsel bleiben aber und werden wohl im kommenden Jahr in Oetkers nächstem Krimi gelöst. Dann erfahren wir auch, wie es weitergeht mit Luc und seinen Frauen,

Auch diesmal haben mir das Cover und vor allem die schönen Karten auf den Innenseiten des Einbands gefallen, wobei ausgerechnet hier ein fataler Rechtschreibfehler zu beklagen ist. Der zweite Roman von Alexander Oetker ist für mich eine Steigerung!

Anmerkung: In diesem Jahr findet der 34. Marathon du Médoc am Samstag, den 8. September 2018 unter dem Motto: „La Fête Foraine“ (Ein Jahrmarkt) statt.

 

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

Château Mort | Erschienen am 14. März 2018 bei Hoffmann & Campe
ISBN 978-3-455-00076-4
336 Seiten | 16.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Kurts Rezension zum 1. Band der Reihe Retour.

6. Mai 2018

Alexander Oetker | Retour

Alexander Oetker | Retour

Ein Krimi im Aquitaine (und in Paris)

Retour von Alexander Oetker ist ein recht schmales Buch, auf gerade 260 Textseiten wird die Geschichte um ein Verbrechen im schönen Médoc erzählt, unterteilt in 32 Kapitel, die ihrerseits zusammengefasst sind in 5 Teilen, überschrieben mit den französischen Namen der Wochentage von Lundi bis Vendredi, Montag bis Freitag, und Titeln wie „So viele Fragen“ oder „Alte Liebe“. Das letzte kurze Kapitel, „Neue Liebe?“ spielt dann am Samedi, aber dieser Samstag bietet nur noch einen friedlichen Ausklang und einen Ausblick auf den nächsten Band der Verlain-Reihe, die Gewalttat ist in den vorangegangenen fünf Tagen bereits aufgeklärt worden.

Der Plot ist folgerichtig nicht besonders kompliziert oder komplex, Oetker beschreibt einen einfachen, überschaubaren Fall, den Mord an Caroline Derval, einem jungen Mädchen, das erschlagen am Strand aufgefunden wurde. Am Strand von Lacanau-Océan in der Nähe von Bordeaux. Ein Mord, kaum dass Luc Verlain im Aquitain angekommen ist, der Commissaire der Police Nationale hat sich auf eigenen Wunsch in seine alte Heimat versetzen lassen, um bei seinem schwer kranken Vater sein zu können.

Als junger Polizist war Luc von hier geflohen, er hielt es nicht mehr aus in den Dörfern seiner Kindheit und Jugend, mit ihrer provinziellen Enge, der Spießigkeit, gegen die er sich auflehnte, die Arroganz des Bürgertums in Bordeaux, die er verachtete, ihr zur Schau gestellter Reichtum, hier hatte er nicht länger leben können. Er will auch jetzt so schnell wie möglich wieder weg, aber er wird auf unabsehbare Zeit bleiben müssen. Sein erster Weg führt ihn ins Hôtel de Police, das Hauptquartier der Police Nationale. Von den alten Kollegen ist niemand mehr da, aber sein ehemaliger Ausbilder, inzwischen Divisionsleiter, Commandant Preud´homme, nimmt ihn herzlich in Empfang und stellt ihm das Team der Brigade Criminelle Aquitaine vor, der Sondereinheit für Kapitalverbrechen: Brigadier Hugo Pannetier, der lange bei der Spezialpolizei CRS gedient hatte, Commissaire Etxeberria, ein Baske, der die Abteilung nun gleichberechtigt mit Luc leiten wird, und Commandante Anouk Filipetti.

Luc verliebt sich auf den ersten Blick in die hübsche, charmante, kluge Kollegin und es stellt sich schnell heraus, dass dies auf Gegenseitigkeit beruht. Wie selbstverständlich bilden sie ein Team, während Etxeberria mit Pannetier zusammenarbeitet. Und seine Arbeitsmethoden erweisen sich als äußerst fragwürdig, und so gerät er bald mit Luc aneinander. Der Baske ist eine der wenigen unangenehmen Figuren in Oetkers Personal, das ansonsten fast durchweg mit sympathischen, ja liebenswerten Charakteren – auch bei einigen Nebendarstellern – aufwartet, die ihren klug platzierten Einsatz bekommen. Sie zu zeichnen gelingt dem Autor ausgesprochen gut, der Leser hat dank der genauen, einfühlsamen Beschreibung ein sehr lebendiges Bild der Personen und ihrer Persönlichkeit, die einigermaßen überschaubare Schar der Handelnden vermag uns Oetker vorzüglich nahe zu bringen.

Weniger zufrieden war ich mit der Erzählweise Oetkers, da hätte ich mir doch eine etwas nuanciertere Wortwahl gewünscht, einen etwas eloquenteren Stil. Es wird ständig gegrinst, nicht gefeixt, geschmunzelt, gelächelt, gekichert oder gelacht, da werden keine Mundwinkel hochgezogen, da zwinkert man sich nicht zu oder was noch alles möglich wäre, nein, man grinst. Es ist eine sehr einfache Diktion, vor allem die Dialoge bleiben in der Regel umgangssprachlich, salopp, zwang- und formlos, was immerhin gut zu den Figuren passt, die (fast) alle harmonisch und unbefangen miteinander umgehen. Das alles liest sich unkompliziert, leicht und mühelos, auch wenn es ein paar Längen gibt, langweilig wird das Buch nie.

Und das, obwohl die Ermittlungsarbeit sehr detailliert, fast akribisch genau geschildert wird, mit all ihren zeitraubenden und häufig ergebnislosen Befragungen und Verhören. Viel Energie wird verwendet auf die Verfolgung falscher Spuren, die ein wenig vorhersehbar in die Irre führen. Dabei gibt es früh einen Hauptverdächtigen, und Etxeberria, der mit Sturheit und Starrsinn seine eigene Linie im Alleingang verfolgt, lässt unter großem Aufsehen den ehemaligen Freund des Mordopfers verhaften, den jungen Algerier Hakim. Für den selbstherrlichen und selbstgerechten Basken, der nicht zum ersten Mal mit Luc aneinander gerät, steht der Täter fest, und erst recht für den Vater Caros, der in seinem kleinen Heimatort ziemlich einflussreich ist und offen seine Sympathie für den Front Nationale der Marine Le Pen bekundet. Als Hakim wieder freigelassen werden muss, organisiert er eine Art Bürgerwehr und ruft zur Lynchjustiz auf. Rassismus und Fremdenhass sind offenbar auch in dieser schönen Gegend weit verbreitet, und Luc positioniert sich offen und vehement für die gerechte Sache und gegen die Rechten. Mir gefällt gut, dass Oetker (oder seine Figuren) an dieser und nicht nur an dieser Stelle eindeutig Stellung bezieht.

So kommt es nach zwei Dritteln des Romans zum eigentlichen Höhepunkt des Plots, einer höchst spannenden, dramatischen und tragischen Szene. Aber selbst nach dem größten Tumult bleibt Oetker bei seiner Linie und Luc sich selbst treu: es ist wieder Zeit für ein wenig Müßiggang, es wird geflirtet und geschäkert, vor allem aber gegessen und getrunken. Ausführlich lässt uns der Autor, bekennender Frankreich-Liebhaber und Anhänger des Savoir-Vivre, teilhaben an den Genüssen, denen sich Luc und Anouk hingeben, beschreibt eingehend, was auf den Tisch und ins Glas kommt. Und noch etwas schafft er meisterhaft: Die wunderbaren Landschaften des Aquitaine zu schildern, vor allem das Meer, den Ozean im Golfe de Gascogne, der Biskaya, Wind und Wellen, endloser weißer Sand, kilometerweit das Grün der Bäume und das Blau des Himmels, das es so nur am Atlantik gibt. Luc freundet sich langsam wieder mit der Landschaft seiner Kindheit und mit alten Bekannten an, auch wenn die Geschäfte über Mittag geschlossen sind und kein Tabac seine geliebten Parisienne-Zigaretten führt.

Die Jagd nach dem Täter aber führt Luc zurück nach Paris, ein schöner Einfall des Autors, die stark kontrastierenden Schauplätze und neues Personal machen den Plot kurzweiliger und interessanter. Im Kommissariat Mord 2 gibt es ein Wiedersehen mit seinem Freund und Kollegen Brigadier Yacine Zitouna, eine weitere schillernde, ausgesprochen liebenswerte Figur, der keinen Hehl aus seiner Herkunft als Kleinkrimineller aus den trostlosen Banlieus macht. In diesen Kapiteln können wir eintauchen in die so ganz andere Atmosphäre der lauten, rastlosen Hauptstadt. Die beiden Ermittler bekommen es mit einer Familie der oberen Zehntausend Frankreichs zu tun, die entsprechend blasiert und hochnäsig daherkommt und alle geläufigen Klischees bedient, mit entsprechenden Reaktionen vor allem von Yacine.

Das ist vielleicht ein wenig zu schlicht erzählt, überhaupt ist der Roman sprachlich nicht in allen Teilen auf höchstem Niveau, es finden sich einige handwerkliche Mängel, der bisherige Journalist Oetker wirkt da als Romanautor noch etwas unbeholfen. So wirkt der Schluss ein wenig zusammengestoppelt, die Geschichte plätschert dem Ende entgegen, der Kriminalfall ist schon fast vergessen und im Mittelpunkt stehen Lucs Liebeleien.

Es sind nämlich seine Affären, die den Frauenschwarm charakterisieren, so wie seine Liebe zu gutem Essen, ausgezeichneten Weinen, seine unvermeidlichen Zigaretten und sein Hang zum Rasen mit dem alten blauen Jaguar XJ6 – man gönnt sich ja sonst nichts! In Paris hat er seine „offizielle“ Partnerin Hélène zurückgelassen, in seiner alten, neuen Heimat landet er bald im Bett mit Cecilia, einer Surflehrerin, die ihn nach vielen Jahren wieder auf ein Brett stellt, nachdem ein traumatisches Erlebnis (mit seiner damaligen Freundin) ihm das Surfen verleidet hatte. Und nun auch noch Anouk, und es scheint, als könnte dies eine dauerhafte Beziehung werden. Vorläufig werden die zwei ja zumindest als Ermittler ein Paar bleiben, obwohl beide nicht vorhaben, auf Dauer im Aquitaine zu bleiben. Ihren ersten gemeinsamen Fall haben sie erfolgreich gelöst, wenn auch nicht besonders souverän, und letztlich ist es ein Geistesblitz, eine Eingebung, die zum Täter führt, aber der Plot ist insgesamt stimmig und folgerichtig, die Motive der Handelnden immerhin nachvollziehbar.

Sehr gut gefallen haben mir das Cover und vor allem die schön gestalteten Karten von Stefanie Bokeloh, die die Innenseiten des Umschlags schmücken, kritisieren muss ich allerdings die Lektorin: Einige Schnitzer des Autors und mindestens ein ganz peinlicher Rechtschreibfehler sind ihr durchgegangen.

Alles in allem ein gelungenes Debüt von Alexander Oetker, der bei allen kleinen Schwächen Lust auf mehr macht.

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

Retoure | Erschienen am 24. April 2018 bei Atlantik im Verlag Hoffmann & Campe
ISBN 978-3-455-00349-9
288 Seiten | 16.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

4. Mai 2018

Anja Goerz | Wenn ich dich hole

Anja Goerz | Wenn ich dich hole

Ein Thriller soll der Roman sein, der erste Versuch der Autorin auf diesem Gebiet, denn bisher hat sie eher Frauenromane geschrieben, Heimat- und Liebesschnulzen mit so sinnigen Titel wie „Mein Leben in 80 B“, „Lara, Latex, Landlust“ oder „Herz auf Sendung“. Das Krimi-Debüt ist in meinen Augen gründlich gescheitert, obwohl Anja Goerz, die im Übrigen als Radiomoderatorin arbeitet, eigentlich alles einführt, was ein guter Thriller hätte werden können.

Der Neunjährige Lewe wartet allein mit seinem Hund im Haus seiner Großmutter auf die Rückkehr von Mutter Insa und Oma Grete, die nur kurz zum Einkaufen ins Dorf wollten. Das liegt abgelegen in Rodenäs unmittelbar an der Grenze zu Dänemark, die Autorin ist selbst hier aufgewachsen und kennt insofern Land und Leute. Bis in die siebziger Jahre sprach hier ein Drittel der Einwohner fünf Sprachen, Hochdeutsch, Plattdeutsch, Friesisch, Dänisch und Südjütisch! Diese Besonderheit hätte die Autorin verarbeiten können, aber mit dem Besonderen hat es die Autorin nicht so, stattdessen gibt Allgemeinplätze, Vorurteile, Klischees.

Wohl um die Spannung zu erhöhen und um einige völlig unlogische und unsinnige Handlungen plausibel zu machen, erfindet Anja Goerz einen Schneesturm, wie ihn Nordfriesland seit der Katastrophe im Dezember 1978 nie wieder gesehen hat, um das einsame Haus am Deich noch mehr zu isolieren. Lewe macht sich Sorgen, weil seine Mutter nicht an ihr Handy geht, also ruft er Vater Bendix an, der zu einem seiner seltenen Besuche bei seiner Mutter ebenfalls erwartet wird. Aber er sitzt nach seinem Rückflug aus den USA, wo der IT-Spezialist beruflich unterwegs war, auf dem Flughafen in London fest, denn auch hier schneit es heftig.

Bendix beruhigt seinen Sohn und versucht seinerseits immer wieder, Insa zu erreichen, es meldet sich aber nur die Mailbox. Das liegt daran, dass sie auf der Rückfahrt vom Einkauf einen Autounfall hatte, der offenbar inszeniert war, denn als sie nach dem Unfallverursacher schauen will, wird sie niedergeschlagen. Als sie zu sich kommt, findet sie sich mit der Schwiegermutter gefangen und gefesselt in einer finsteren Scheune. Schließlich gelingt es ihr, sich zu befreien, aber das überlebenswichtige Insulin für Grete kann sie nicht mehr rechtzeitig spritzen, die deshalb stirbt.

Insa versucht verzweifelt, sich zu Fuss und ohne Orientierung zum Haus am Deich durchzuschlagen, wo sie ihren Mann wähnt. Der ist inzwischen auf einer langen, beschwerliche Bahnfahrt durch den Eurotunnel nach Brüssel, weiter nach Köln, dann nach Hamburg und von dort nach Niebüll. Fünfzehn Stunden wird die Odyssee dauern, und Bendix ist mittlerweile sehr beunruhigt, denn Lewe ist sicher, dass ein Fremder im Haus ist.

Der alarmierte Vater setzt alle Hebel in Bewegung, um ihm zu helfen, bewegt den Dorfpolizisten dazu, nach dem Rechten zu sehen. Der fährt eher widerwillig und unter einigen Schwierigkeiten hinaus zu dem Haus, um dort eine Frau anzutreffen, die beteuert, sich um den kleinen Lewe zu kümmern, alles sei in Ordnung. Diese Nachricht versetzt Bendix erst recht in Panik. Er telefoniert den Akku leer, um alte Freunde, Nachbarn und Bekannte aus seinem Heimatdorf mit der immer gleichen Leier von Lewe allein zu Haus dazu zu bewegen, hinauszufahren an den Deich, aber niemand kann oder will dem Verzweifelten helfen. Wird es Bendix schaffen, rechtzeitig bei seinem Sohn anzukommen? Wird Insa sich im Schneechaos zu Lewe durchkämpfen können? Lässt Dorfpolizist Bruno sich noch einmal überreden einzugreifen? Das sind die Fragen, die sich der Leser stellen soll, andere Rätsel gibt es nicht, denn schon früh, sehr früh ist klar, was Anja Goerz hier erzählt.

Eine Geschichte, die bereits im Prolog aufgelöst wird, zumindest für jeden, der schon einmal von König Salomo gehört hat und seinem klugen, gerechten Urteil. Aber auch die nicht so Bibelfesten wissen nach wenigen Kapiteln ganz genau, welches Drama sich hier abspielt, der Thrill ist also schnell vorbei. Schade, die Grundidee ist doch gut, aber die Umsetzung ist für mein Empfinden kläglich gescheitert. Und trägt auch nur für gerade 250 Seiten, die noch dazu meist spärlich bedruckt sind; am Kapitelanfang jeweils mit 25 Zeilen, zum Ende jedes Kapitels häufig nur 3, 4, 5 Zeilen, auch mal 7 oder 8. Und es gibt, neben knappem Prolog und Epilog, 60! Kapitel, 11 davon „Henrike“ überschrieben. Sie ist, wie man bald erfährt, die Ex von Bendix, er hat sie verlassen, als sie heimlich die Pille absetzte, um schwanger zu werden. Das Kind verlor sie im dritten Monat, spätestens nach diesem Verlust ist sie psychisch schwer gestört, und natürlich ist sie es, die sich zu Lewe in das einsame Haus geschlichen hat. Aber sie will ihm nichts Böses, im Gegenteil, sie will, sie muss den Jungen beschützen, ihm helfen, auf ihn aufpassen, sich um ihn kümmern… Das wird tatsächlich mit diesen Worten immer wieder und wieder und wieder erzählt.

Der Roman erzählt auch und vor allem davon, wie Menschen miteinander umgehen, in einer Familie, in der es unter der harmonischen Oberfläche einige Probleme gibt, in einer Beziehung, in der aus obsessiver Liebe abgrundtiefer Hass wird. „Psychologische“ Aspekte also überlagern und verdrängen die Spannung.

Ich kann das alles verraten, weil es in diesem missglückten Thriller eh schon nach kurzer Zeit offensichtlich ist. Und Anja Goerz mogelt sich mit Müh und Not und einigen Längen, vielen nebensächlichen, überflüssigen, ja störenden Betrachtungen, mit zum Teil wörtlichen Wiederholungen innerhalb eines kurzen Kapitels zum vorhersehbaren Ende. Auch durch merkwürdige Stilmittel wird die dünne Story zumindest räumlich gestreckt:

„Achtung!“
Wo kam denn dies Auto auf einmal her?
Ein heftiger Stoß.
Scheppern.
Quietschende Reifen.
Ihr Wagen drehte sich um die eigene Achse, rutschte schnell in Richtung Straßengraben.
Wo war das Lenkrad?
Wo war oben?
Wieso funktionierte die Bremse nicht?
Schnee.

Was soll das? Natürlich, so bekomme ich die Seiten auch voll, ohne viel erzählen zu müssen. Und das, was erzählt wird, ist wahrlich nicht gut geschrieben, das Zitat mag einen Eindruck vermitteln. Ihre Figuren bleiben sämtlich merkwürdig blass und agieren gleichzeitig seltsam übertrieben. Der Dorfbulle zum Beispiel, Anja Goetz sagt in einem Interview und in ihrer Danksagung im Anhang, den habe sie wirklich als Kind kennengelernt, wird als Depp geschildert, der wahre Polizist wird sich freuen. Bendix, die Hauptfigur, ist absolut unsympathisch und ungehobelt, auch zu den anderen Personen konnte ich keine wirkliche Beziehung finden, die Beschreibung bleibt an der Oberfläche oder unvollständig und unverständlich. Einige Nebenfiguren, die tatsächlich überhaupt keine Rolle spielen, keinerlei Funktion haben und deren Auftreten ganz offensichtlich nur Seiten füllen sollen, sind entsprechend lieblos entworfen. Aber selbst mit dem kleinen Lewe konnte ich nicht wirklich mitleiden.

Schlicht, schlecht, hölzern, sperrig und platt, allerdings fast ohne Plattdeutsch – der Dorfkrämer versucht sich an einer Art „Missingsch“ und lediglich Karla, die zänkische Frau des Polizisten streut ganze zwei plattdeutsche Sätze ein in ihre endlosen Tiraden darüber, was ihrer Meinung nach im Haus von Oma Steensen vor sich geht. Sie will verhindern, dass Bruno noch einmal dorthin fährt, um die rätselhafte Frau bei Lewe doch noch einmal zu überprüfen. Schließlich macht er sich doch auf den Weg, Insa scheint auch die Richtung zu dem Haus gefunden zu haben, und Bendix ist endlich auch nur noch ein paar Kilometer entfernt. Wird einer der drei rechtzeitig ankommen in Rodenäs?

Der Leser kann sich denken, was passiert, wie ihn auch der bisherige Plot an keiner Stelle überrascht haben wird. Er wird auch schnell erlöst, denn der Schluss kommt kurz und schmerzlos. Allerdings, jetzt fließt tatsächlich noch Blut, aber gerade so viel, dass mit dem Verbandskasten aus dem Auto alles in den Griff zu bekommen ist. Statt den Roman abrupt enden zu lassen, hätte Frau Goerz an dieser Stelle tatsächlich noch ein paar Seiten schreiben sollen, in ein, zwei Kapiteln aufarbeiten sollen was von der Geschichte auf der Strecke geblieben ist.

Wenn ich dich hole von Anja Goerz ist pure Papier- und Zeitverschwendung, ein langsamer, langweiliger „Thriller“, dem es arg an Spannung mangelt und den ich niemandem empfehlen kann.

 

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

Wenn ich dich hole | Erschienen am 7. April 2017 bei DTV
ISBN 978-3-423-26147-0
256 Seiten | 14.99 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

10. April 2018