Kategorie: Gunnar Wolters

Tana French | Der Sucher

Tana French | Der Sucher

Sie gehört zu einer insbesondere in Deutschland gar nicht so großen Gemeinschaft von Kriminalautoren, die absolute Bestseller schreiben und trotzdem auch von der Kritik hochgelobt werden. Und dabei ist Tana French jemand, der jemandem die Einordnung ihrer Romane gar nicht so leicht macht. „Sie schreibt große Romane, in denen auch Verbrechen geschehen“, meint etwa die New York Times. Was sie aber in jedem Fall auszeichnet und was den großen Publikumserfolg umso erstaunlicher macht, ist eine geradezu stoische Ruhe in der Entwicklung ihres Plots.

Dies fällt auch in ihrem neuen Roman „Der Sucher“ auf. Der Leser macht Bekanntschaft mit Cal Hooper. Cal ist ein ehemaliger Cop aus Chicago, von seiner Frau ist er geschieden, seine Tochter ist erwachsen und geht eigene Wege. Cal hat sich zu einem Neuanfang entschieden, ein kleines Haus am Rande des Dorfs Ardnakelty im Westen Irlands gekauft. Dorthin ist er nun gezogen und beginnt, das Haus schrittweise zu sanieren und renovieren. Sein Nachbar Mart und auch der Rest des Dorfes haben den Neuling scheinbar wohlwollend empfangen, auch wenn sie ihn nicht in alle Dorfangelegenheiten einweihen. Bei seinen einsamen Arbeiten an seinem Haus bemerkt Cal bald, dass ihn jemand heimlich beobachtet. Irgendwann traut sich Trey, 13 Jahre alt, aus seinem Versteck, hilft Cal bei Schreinerarbeiten und rückt schließlich mit der Sprache heraus: Der 19jährige Bruder Brendan ist seit einigen Monaten spurlos verschwunden. Angeblich abgehauen, aber Trey glaubt nicht daran. Trey hofft, dass Cal sich der Sache annehmen wird.

Dazu verspürt Cal aber nur wenig Lust. Weil Trey aber äußerst heftig reagiert und er mittlerweile ein gewisses Vertrauenverhältnis zu dem Kind aus ärmlichen Verhältnissen aufgebaut hat, lässt er sich doch umstimmen und verspricht, ein paar Nachforschungen zu betreiben. Die ergeben zwar zunächst nicht allzuviel, doch es sind noch ein paar andere Dinge im Dorf geschehen, die Cal zumindest aufhorchen lassen. Ein abgebrochener Polizeieinsatz im Dorf zu der Zeit von Brendans Verschwinden, zudem seltsame blutige Angriffe auf Schafe einiger Farmer. Eines Abends im Pub wird Cal und von außen betrachtet mit reichlich Alkohol in den engeren Kreis der Dorfbewohner aufgenommen. Doch Cal hat die Zwischentöne und nicht gesagten Botschaften des Abends verstanden: Er soll sich nicht in Angelegenheiten einmischen, die ihn nichts angehen.

Am Berghang ist es kälter als unten im Weideland. Außerdem hat die Kälte auch eine andere Qualität, als Cal das von seinem neuen Zuhause kennt. Sie ist beißender und anstrengender, geht im schneidenden Wind direkt auf ihn los. (Auszug E-Book Pos. 1740)

Tana French nimmt sich sehr viel Zeit für ihre Geschichte, pfeift wie immer auf genreübliche Gepflogenheiten wie der ersten Leiche auf den ersten fünfzig Seiten. Der Spannungsbogen bleibt lange Zeit erstaunlich flach. Und dennoch gelingt es ihr, den Leser an den Roman zu fesseln. Herausragend ist die Beschreibung aller Figuren, ihrer dynamischen Beziehungen untereinander und der Blick auf die Dorfgemeinschaft. Über kurze Begegnungen am Gartenzaun oder im Tante-Emma-Laden des Dorfes kommen immer mehr Aspekte hinzu, die nach und nach ein fertiges Bild von Ardnakelty geben. Wesentlicher Bestandteil dabei sind auch die äußerst stimmigen Dialoge. Ebenfalls grandios ist die Beschreibung von Landschaft, Umgebung und Natur. Das fängt bei den Wetterbeschreibungen an, die die Stimmungen insgesamt widerspiegeln, und geht bis zu Details wie den Krähen in Cals Garten, die eine eigene Persönlichkeit zu haben scheinen.

„Der Sucher“ ist ein vielschichtiger Roman um Familie, Gemeinschaft, Vertrauen und Verrat. Ein Kriminalroman der leisen Töne, die um so stärker nachhallen. Der Leser bleibt die ganze Zeit beim neu in diese Umgebung hineingeratenen Cal, erlangt mit ihm Schritt um Schritt und manchmal äußerst schmerzhaft die Hintergründe über das Verschwinden von Brendan Reddy und kurz vorm Ende erfährt Cal die ganze Wahrheit.

Cal merkt, dass er nichts empfindet und nichts denkt. Er ist an einem Punkt angekommen, den er noch vom Dienst her kennt: ein Kreis, in dem sich selbst die Luft nicht mehr bewegt, in dem nichts existiert außer der Geschichte, die er hört, und der Person, die sie erzählt, und er selbst hat sich so weit aufgelöst, dass er nur noch aus Sehen und Hören und Bereitschaft besteht. Selbst seine Wunden und Schmerzen scheinen weit weg. (Auszug E-Book Pos. 5542)

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Der Sucher | Erschienen am 29.09.2021 im Fischer Verlag
ISBN 978-3-651-02567-7
496 Seiten | 22,- €
als E-Book: ISBN 978-3-10-490689-8 | 16,99 €
Originaltitel: The Seacher (Übersetzung aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension von Andrea zu Tana Frenchs Roman „Gefrorener Schrei

Michael Connelly | Schwarzes Echo (Band 1)

Michael Connelly | Schwarzes Echo (Band 1)

Aufgrund ihrer Kriegs- und Polizeierfahrungen, insbesondere der oben erwähnten Schüsse, die den Tod eines Menschen zur Folge hatten, zeigt sich die Versuchsperson körperlicher Gewalt gegenüber als in hohem Maße desensibilisiert. Sie spricht von Gewalt oder auch Aspekten der Gewalt als normalem Teil ihres alltäglichen Lebens, ihres Lebens insgesamt. (Auszug S. 109)

Die Versuchsperson, die hier in einem psychologischem Memo charakterisiert wird, ist niemand anderes als Harry Bosch. Dem aktuellen Krimipublikum am ehesten vertraut durch die ab 2014 produzierte siebenstaffelige Fernsehserie mit Titus Welliver als Detective Hieronymus, genannt Harry, Bosch. Doch die Figur ist inzwischen schon fast dreißig Jahre alt. Damals, Ende Januar 1992, erschien beim Verlag „Little, Brown and Company“ das Debüt des Journalisten Michael Connelly. „The Black Echo“ wurde direkt ein Erfolg, gewann ein Jahr später den Edgar Award für das beste Erstlingswerk und begründete eine bis heute andauernde Erfolgsreihe.

Michael Connelly war bereits früh von der Kriminalliteratur fasziniert. Raymond Chandler war sein großes Vorbild und schon in jungen Jahren stellte sich bei ihm der Wunsch ein, Kriminalschriftsteller zu werden. Doch er machte sich, auch mit seiner Familie, über den richtigen Weg dorthin Gedanken: „…to get into the world of crime I needed to be a lawyer, a cop or a reporter“(1). Connelly machte schließlich einen Abschluss in Journalistik und begann 1980 als Polizeireporter in Florida, zunächst bei der kleinen Zeitung „Daytona Beach News Journal“, später beim „Fort Lauderdale News and Sun-Sentinel“. Er schrieb während dieser Zeit an zwei Private Eye-Romanen, die er aber selbst als nicht gut genug empfand, insbesondere die Figuren betreffend. Seine fortschreitende journalistische Tätigkeit gab ihm aber zunehmend tiefere Einblicke in die Welt des Verbrechens und der Polizeiarbeit. Eine Reportage über die Überlebenden eines Absturzes einer Passagiermaschine 1985 in Dallas brachte Connelly schließlich landesweite Reputation, die Nominierung für den Pulitzerpreis und ein Jobangebot der „Los Angeles Times“. Dort intensivierte er nochmal den Aufwand: „I did a lot of shoe leather. I talked to about 100 detectives a week.“(2) Sein Ziel war es vor allem, einen in sich stimmigen Charakter für seinen ersten Roman aufzubauen. Zwei Jahre schrieb er an „The Black Echo“ mit seinem Protagonisten Harry Bosch. Als Debütant hatte Connelly natürlich auch mit einigen Absagen zu kämpfen, bis sich schließlich James Lee Burkes Agent Phil Spitzer vom Manuskript überzeugt wurde und bei Little, Brown and Company platzieren konnte. „The Black Echo“ war damals ein erfolgreiches Debüt, wenn auch kein Megaseller. Doch es begründete eine der heute erfolgreichsten Krimiserien.

Aber nun auch was zum Inhalt: Detective Harry Bosch war sowas wie ein Superstar im LAPD, hatte spektakuläre Erfolge als Mordermittler, einer seiner Fälle wurde sogar für das Fernsehen adaptiert. Andererseits war Bosch schon immer ein einsamer und knurriger Held, dem die Meinungen der Kollegen wenig bedeuteten und der Dienstvorschriften immer großzügig auslegte. So war es nur eine Frage der Zeit, bis die Dienstaufsicht eine gute Gelegenheit ausnutzen würde. Nachdem eine Festnahme mit dem Tod des (zu recht) Tatverdächtigen endete, gab es Ermittlungen gegen Harry, denn der Getötete war unbewaffnet. Eine Zeugin behauptete, Harry habe gewusst, dass der Mann nicht nach einer Waffe, sondern nach seinem Toupet unter dem Kopfkissen greifen wollte. Doch die Zeugin hatte nicht den allerbesten Leumund, sodass Harry nicht degradiert wurde. Allerdings reichte es, um ihn aus dem Scheinwerferlicht der Mordkommission in Downtown L.A. in die weniger spektakuläre Hollywood Division zu versetzen. Doch der stellvertretende Leiter des Departments für innere Angelegenheiten, Chief Irvin Irving, wartet nur auf den nächsten Fehler von Harry Bosch.

Dieser macht erstmal wie gewohnt seinen Job. Diesmal wird er zu einem Leichenfund am Lake Hollywood gerufen. Ein toter Mann wurde in einer Röhre gefunden, in dem sich schon mal Obdachlose und Junkies aufhalten. Tatsächlich hatte der Mann noch eine Spritze im Arm. Ein klarer Fall also, auch Harrys neuer Partner Jerry Edgar will sich mit dem Fall nicht lange aufhalten. Und doch kommt Harry einiges merkwürdig vor: Es sieht so aus, als wäre der Mann in die Röhre gebracht worden, ein Finger ist seltsam gebrochen, der Einstich zum goldenen Schuss war der allererste seit langer Zeit – und außerdem kennt Bosch den Mann.

William, genannt Billy, Meadows war wie Harry Bosch ein Vietnamveteran. Genauer gesagt eine „Tunnelratte“, Männer, die in die unterirdischen Tunnelsysteme des Vietcong eindrangen, um in den dunklen, unheimlichen Gängen den Feind auszuschalten. Doch wehe, man geriet selbst dort unten in Feindeshand. „Schwarzes Echo“ nennen sie diese Gänge bis heute.

„Es gab keine Bezeichnung dafür, also haben wir uns eine ausgedacht. Es war die Dunkelheit, die feuchte Leere, die du gefühlt hast, wenn du allein da unten in diesen Tunneln warst. Du fühltest dich dort wie tot – tot und begraben in der Finsternis. Aber du warst am Leben. Und du hattest Angst. Dein eigener Atem hallte aus der Finsternis zurück, laut genug, dich zu verraten. Oder zumindest glaubtest du das. Ich weiß nicht. Es ist schwer zu erklären. Eben… das schwarze Echo.“ (Auszug S. 402-403)

Harry ist überzeugt, dass Meadows umgebracht wurde. In der Wohnung findet er einen Pfandschein. Im Pfandbüro angekommen, stellt Harry fest, dass in dieses eingebrochen wurde und ausgerechnet das verpfändete Stück, eine Jadearmband, entwendet wurde. Zu viel des Zufalls für Bosch. Er recherchiert, dass das Armband im Rahmen eines spektakulären Raubs vor einigen Monaten abhanden gekommen war, als über einen selbstgegrabenen Tunnel in den Schließfachraum der WestLand National Bank eingebrochen wurde – die Verbindung zu Billy Meadows. Harry sucht Kontakt zum FBI, das den Bankraub bearbeitet. Er blitzt zunächst ab, darf aber dann doch an der Seite der Agentin Eleanor Wish weiterermitteln.

„You get into a situation where plot is king and you really should know character is King“.(3) So beschreibt Michael Connelly selbst seinen Prozess auf dem Weg zu einem erfolgreichen Kriminalautor. Am Ende stand die Entwicklung seines Protagonisten Harry Bosch, der hier als einsamer Wolf des LAPD durch die Gegend streift. Harry ist ein Moralist, sein Credo „Jeder zählt oder niemand zählt“ lässt ihn jeden Mord unabhängig vom Status des Opfers betrachten – was im LAPD nicht unbedingt üblich ist. Damit eckt Harry natürlich auch immer wieder an, isoliert ihn unter den Kollegen. Seine großzügige Dehnung der Dienstvorschriften bringt ihn zudem immer wieder ins Visier der internen Ermittlungen. Seine Brillanz in der Polizeiarbeit nötigt jedoch auch seinen Gegnern Respekt ab. Auch privat ist Harry nicht unbedingt ein geselliger Typ, er ist als Kind zumeist in Heimen aufgewachsen, seine alleinerziehende Mutter arbeitete als Prostituierte und wurde ermordet, als er elf war. Später war Bosch dann bei der Army und ist Veteran des Vietnamkrieges, was ihn durchaus noch belastet. Schließlich hat er dann bei der Polizei angefangen. Als Leser spürt man sofort, diese Figur hat das gewisse Etwas, ein moralischer Charakter mit Ecken und Kanten und einer interessanten Vergangenheit. Neben diversen echten Personen aus seiner Zeit als Polizeireporter stand bei der Figur Harry Bosch natürlich – wir bewegen uns in L.A. – auch Philip Marlowe Pate. Spannend für alle diejenigen, die wie ich mehr Serienstaffeln als Bücher von Bosch gelesen haben, ist die Tatsache, dass Connelly schon zahlreiche Figuren des weiteren Bosch-Universums wie Eleanor Wish und Irvin Irving hier als einflussreiche Nebencharaktere anlegt.

Der Schauplatz Los Angeles ist selbstredend ein klassisches Setting amerikanischer Kriminalromane und wird von Connelly dennoch um weitere Facetten erweitert. Daneben entwirft der Autor einen spannenden und durchaus komplexen Plot um ungewöhnliche, skrupellose Bankräuber, alte Vietnam-Connections und Querelen und Querschüsse aus den eigenen Reihen des Polizei- und Behördenapparates. Hier zeigen sich die Qualitäten des Reporters Connelly, der es vermag, den Polizeialltag, die (oftmals schwierige) Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Ermittlungsbehörden, zwischen Polizei und Presse und interne Streitigkeiten innerhalb der Polizei authentisch und spannend darzustellen. Insgesamt ist „Schwarzes Echo“ ein herausragendes Debüt, eine Cop Novel, die von der Handlung vollkommen überzeugt und dennoch durch diese Hauptfigur Harry Bosch nochmal auf ein weiteres Level gehoben wird – ein echter Krimiklassiker.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Schwarzes Echo | Erstmals erschienen 1992
Die aktuelle Taschenbuchausgabe erschien am 02.06.2021 im Kampa Verlag
ISBN 978-3-311-15508-9
507 Seiten | 13,- €
Originaltitel: Black Echo (Übersetzung aus dem Englischen von Jörn Ingwersen)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Zitate (1),(2) und (3) sowie weitere Hintergrundinfos aus: „My first thriller: Michael Connelly“ auf crimereads.com

Weiterlesen: Besprechung zu „Schwarzes Echo“ auf Crimealleyblog

Kathleen Kent | Die Tote mit der roten Strähne

Kathleen Kent | Die Tote mit der roten Strähne

Ich starre die riesige, rot weiß gespenkelte Kreatur an. Eigentlich hatte ich erwartet, dass ich Spott für diese Tiere empfinden würde, doch stattdessen regt sich sowas wie Ehrfurcht in mir, der Bulle wirkt würdevoll in seiner stillen Kontemplation… […]
„Du majestätischer alter Bastard“, sage ich.
Dann drehe ich mich um und recke mit einer solidarischen Geste beide Mittelfinger in die Luft.
„Die polnische Kavallerie ist gelandet“, flüstere ich. (Auszug S.25)

Detective Betty Rhyzyk arbeitet noch nicht sehr lange beim Dallas Police Department. In der Drogenfahndung leitet sie – zum gewissen Ärger mancher Kollegen – ihren ersten Einsatz. Das DPD fahndet nach dem Kokaindealer Tomás Ruiz. Der Mexikaner hat sich zum größten Dealer in Nordtexas aufgeschwungen. Nun bietet sich die Gelegenheit, Ruiz bei einem Deal festzusetzen, den er in Dallas mit dem lokalen Dealer William Bender machen will. Betty und ihr Team liegen vor Benders Haus auf der Lauer. Doch der Einsatz gerät völlig außer Kontrolle, als eine Passantin sich einmischt und ein lokaler Streifenwagen ebenfalls anhält. Die Folge sind drei Leichen und ein Drogenboss, der sich aus dem Staub gemacht hat.

Betty ist fest entschlossen, diesen Tiefschlag wieder wettzumachen. Hilfe zum Aufenthaltsort von Ruiz könnte dessen Freundin Lana Yu geben, doch diese wird wenig später brutal ermordet aufgefunden. Der Mörder hat ihr zudem eine rote Strähne abgeschnitten. Art und Weise des Mordes passen nicht zu Ruiz, sodass Betty vermutet, dass hier noch jemand Ruiz‘ Aufenthalthaltsort erfahren wollte. Und dieser jemand hat offenbar auch Betty im Blick, denn kurz darauf findet sie eine rote Strähne in ihrem Bett.

Drogenfahndung, mexikanische Drogenbosse, der heiße und staubige Süden der USA – das sind alles wohlbekannte Themen, die erstmal kein Alleinstellungsmerkmal bieten. Warum hat sich die Autorin Kathleen Kent, bisher vor allem für historische Roman bekannt, dennoch diesen Stoff ausgesucht? Vielleicht weil sie die Idee zu einer wirklich erfrischenden Protagonistin hatte. Betty Rhyzyk, Ende 30, lange rote Haare, entspringt einer New Yorker Copfamilie von polnischen Einwandern – und sie ist offen lesbisch, lebt in einer längeren Partnerschaft mit der Ärztin Jackie. Betty ist eine leidenschaftliche, kämpferische Polizistin, durchsetzungsfähig, mit großer Schlagfertigkeit, aber dabei nicht völlig unnahbar und unfehlbar. Mit dieser wirklich gelungenen Hauptfigur wurde Kathleen Kent direkt bei ihrem Thrillerdebüt für den Edgar und Nero Award nominiert.

„Riz“, sagt Seth, „das ist so typisch Texas. Waffenschein, kein Problem – aber eine Erlaubnis, jemandem körperliche Erleichterung zu verschaffen? Fehlanzeige.“ (Auszug S.56)

„Die Tote mit der roten Strähne“ geht direkt ins Geschehen (ist auch im Präsens geschrieben), zeigt viel Action und eine gelungene Präzision zwischen Spannung und Entspannung. Dabei streut die Autorin bei aller Härte auch einiges an Humor, Selbstironie (immerhin ist sie selbst Texanerin) und Zwischenmenschlichem ein. Daneben hat sie immer wieder überraschende Einfälle, beispielsweise ein Schusswechsel zwischen einer mexikanischen Drogengang und eine Reenactmenttruppe, die die Mexikaner mit Bürgerkriegsflinten und einer Kanone in Schach hält. Das macht insgesamt doch sehr viel Spaß und sorgt für keine Langeweile. Und das ist ja kein schlechtes Zeugnis für einen Thriller.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Die Tote mit der roten Strähne | Erschienen am 12.09.2021 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-47170-8
364 Seiten | 14,95 €
Originaltitel: The Dime (Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Andrea O’Brien)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Ronald Malfi | December Park

Ronald Malfi | December Park

Es war lang und weiß. Es war ein Tuch. Es war ein Tuch, das etwas bedeckte. Mir wurde flau im Magen. Ich hatte genug ferngesehen, um zu erkennen, was ich da vor Augen hatte. (Auszug E-Book, Position 155).

Im Herbst 1993 verschwinden mehrere Kinder in der beschaulichen Kleinstadt Harting Farms in Maryland, eine Küstenstadt an der Chesepeake Bay. Offiziell sind die Kinder nur vermisst, die Polizei hält es für denkbar, dass sie einfach nur von zuhause ausgerissen sind. Hinter vergehaltener Hand raunen die Menschen aber dennoch vom „Piper“, dem Rattenfänger, der die Kinder entführt.

Angelo Mazzone und seine Freunde Peter, Scott und Michael sind typische 15-16jährige Jungs, die heimlich rauchen, nach der Schule mit ihren Rädern die Gegend unsicher machen, gerne Schabernack treiben und versuchen, die Schule halbwegs zu überstehen (nur mit den Mädels haben sie es noch nicht so). Zufällig sind die Jungen mit ihren Rädern eines Oktobernachmittags in der Nähe des Waldrands am December Park und werden Zeuge eines großen Polizeiaufgebots. Die Polizisten bergen einen Körper aus dem Wald und als der Wind das Tuch verweht, stellen die entsetzten Jungen fest, dass es die Leiche eines vor kurzem verschwundenen Mädchens ist. Damit ist klar, die Kinder sind nicht einfach weggelaufen, sondern wurden ermordet. Weitere Leichen tauchen aber vorerst nicht auf.

Dafür erhält Angelo neue Nachbarn, eine seltsame Frau mit ihrem Sohn Adrian, in Angelos Alter. Adrian ist in sich gekehrt und eigenbrötlerisch, dennoch freunden sich Angelo und er an und Adrian wird nach und nach Teil von Angelos Clique. Adrian entwickelt eine große Faszination für die Fälle der verschwundenen Kinder, spätestens als er feststellt, dass das von ihm zufällig in der Nähe des Fundorts gefundene Medaillon dem toten Mädchen gehörte. Er steckt die anderen mit seinem Eifer an und bald geben sich die Jungen das Versprechen, dass sie den Piper aufspüren werden. Derweil verschwinden weitere Kinder und die Polizei tappt immer noch im Dunkeln. Tatsächlich finden die Jungen kleinere Spuren und Indizien, behalten dies aber für sich, selbst Angelos spricht nicht mit seinem Vater, immerhin einer der ermittelnden Detectives. Doch aus dem Detektivspiel wird irgendwann bitterer Ernst.

Ich steckte meinen Daumennagel zwischen die beiden Hälften und ds herzförmige Medaillon öffnete sich. Meine Großmutter besaß ei ähnliches Medaillon mit einem winzigen Foto von mir in der einen Seite und eines von Charles in der anderen – doch dieses hier war leer […]
„Okay“, entgegnete ich und verstand nicht recht, weshalb das alles für ihn so eine große Sache war.
„Es gehört ihr“, sprach er.
„Wem?“
„Dem toten Mädchen“, antwortete Adrian. „Courtney Cole“. (Auszug E-Book, Position 2904)

Autor Ronald Malfi lebt mit seiner Familie selbst an der Chesepeake Bay und ist vor allem auch durch seine Romane im Horror- und Mysterygenre bekannt. Auf Übernatürliches verzichtet er in dieser Geschichte allerdings, zum Schaudern gibt es allerdings durchaus etwas an einigen Passagen. Nach eigenen Angaben sind in diesen Roman auch Kindheitserinnerungen des Autors eingeflossen, vermutlich in der Figur des Ich-Erzählers Angelo Mazzone. Angelo ist ein durchaus cleverer Junge mit den üblichen Flausen im Kopf, er liebt es zu schreiben, will später einmal Schriftsteller werden. Er lebt mit seinem Vater und seinen Großeltern zusammen, seine Mutter ist früh verstorben. Als schwerer Schatten liegt der Tod seines Bruders Charles im Golfkrieg auf der Familie, insbesondere auf dem Verhältnis zwischen Angelo und seinem Vater. Auch auf seinem neuen Freund Adrian lastet eine schwere Vergangenheit: Seine Mutter und er sind überstürzt aus Chicago verzogen, nachdem Adrians Vater sich mit Autoabgasen umbrachte und Adrian mit in den Tod nehmen wollte.

„December Park“ steht natürlich in der Tradition anderer schauriger Coming-of-Age-Geschichten, auf dem obersten Sockel steht hier sicherlich Stephen King. Und tatsächlich erinnert man sich zwangsmäßig an „Es“ oder „Die Leiche“. Malfi macht seine Sache in Bezug auf Angelo, seine Clique, ihre Freundschaft, ihre Ängste und Konflikte auch nicht schlecht – die Tiefe von Kings Figuren erreicht er freilich nicht. Was schade ist, ist der Roman doch lang genug. Aber leider, muss man sagen, auch etwas zu lang, denn die Spannungsmomente lassen zwischendurch doch sehr auf sich warten. Überhaupt gibt es in der Genrewertung für einen Thriller da doch einige Abzüge. Neben der eher langsam erzählten Story (Die Jungs fahren verdammt viel Fahrrad im Buch) gab es für mich auch einige Unplausibilitäten, auch die Aufklärung am Ende fand ich wenig überzeugend. So muss ich letztendlich konstatieren: Solide bis ordentlich als Coming-of-Age, eher unterdurchschnittlich als Thriller.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

December Park | Erschienen am 28.02.2018 im Luzifer Verlag
ISBN 978-3-95835-317-6
616 Seiten | 14,95 €
als E-Book: ISBN 987-3-95835-033-5 | 7,99 €
Originaltitel: December Park (Übersetzung aus dem Englischen von Ilona Stangl)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Hannelore Cayre | Reichtum verpflichtet

Hannelore Cayre | Reichtum verpflichtet

Die Sorte Teufelsbraten, die stets in das aktuelle Riesending verwickelt ist. Wenn eine Zweitwohnung durchwühlt wird oder eine Karre brennt… […] Kurz und gut, in der Generation der in den Achtzigern Geborenen bin die epochemachende Unruhestifterin ich: Blanche de Rigby. (Auszug S.34)

Blanche de Rigby ist durch einen Unfall gehandicapt und lebt mit ihrer Tochter in Paris. Sie stammt eigentlich von einer bretonischen Insel. Bei einem der seltenen Besuche dort bei ihrem Vater bekommt sie durch einen Zufall einen Hinweis auf einen ihr nicht bekannten Teil der Familiengeschichte. Offensichtlich gibt es eine Verbindung zur stinkreichen Unternehmerfamilie de Rigby. Blanche beginnt zu recherchieren und findet tatsächlich heraus, dass ihr Urgroßvater Renan, geboren 1871, das Kind eines Auguste de Rigby war.

Die de Rigbys waren schon damals reiche Unternehmer und sind es bis heute geblieben. Eine Dynastie der Kapitalisten, deren Gedanken vorwiegend um sich selbst und dem Ziel der Geldvermehrung kreist. Durch ihre Arbeit in der Gerichtsreprografie kommt sie an sehr interessante Unterlagen, die dokumentieren, wie ein Sprößling der de Rigbys mit üblen Machenschaften auf Kosten von Umwelt und Menschen in Afrika Kohle machen wollte und nun dank staatlicher Protektion aus Frankreich aus ivorischer Haft frei und ungeschoren davon kommen soll. Blanche leakt entsprechende Dokumente und löst damit einen folgenschweren Shitstorm aus. Nach diesem Coup beginnt Blanche weitere Ideen zu entwickeln, wie man das Geld der de Rigbys nachhaltiger und gerechter einsetzen kann. Doch dazu muss man sich in der Erbfolge nach oben arbeiten.

Wie schon in ihrem zuletzt erschienenen Roman „Die Alte“ setzt Hannelore Cayre auf eine Außenseiterin, die aber über gewisse Mittel verfügt, den großen Tieren in die Suppe zu spucken. Blanche hat, durch einen Autounfall in jungen Jahren versehrt, kein einfaches und barrierefreies Leben in Paris. Dennoch bildet sie mit ihrer zehnjährigen Tochter Juliette und ihrer besten, ebenfalls gehandicapten Freundin Hildegard ein schlagkräftiges Team. Blanche weiß sich zu behaupten und interessante Informationen in den Akten, die sie reproduziert (beispielsweise Kontaktdaten von Drogendealern), zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Daneben ist sie Unruhestifterin geblieben, sei es für den Tierschutz oder in Sachen sozialer Gerechtigkeit bzw. Antikapitalismus. Und da bieten die de Rigbys eine große Angriffsfläche.

„Weißt du zum Beispiel, was das Schlimmste auf einer Baustelle ist? Nein? Ich werde es dir sagen: ein Arbeiter, der lesen kann. Er schnappt hier und dort kleine Häppchen Wissen auf, das ihm zu Kopf steigt, bis er glaubt, dass ihm alles zusteht.“ (Auszug S.137)

Cayre erzählt in zwei Ebenen, in der Jetztzeit und 1870, als die de Rigbys im Angesicht des deutsch-französischen Krieges einen jungen Bretonen kaufen, damit dieser anstelle des Auguste de Rigby den Wehrdienst leistet. Eine damals gängige menschenverachtende Praxis, mit der sich die Wohlhabenden zumeist immer vor den unangenehmen staatsbürgerlichen Pflichten drücken konnte. Die Familie de Rigby setzt alle Hebel in Bewegung, um Auguste vor dem drohenden Kriegseinsatz zu bewahren und sucht bis hin zu den rauen bretonischen Inseln nach einem Einstandsmann. Das bringt Auguste in arger Gewissenskonflikte, denn er ist doch der Liberale und Aufgeschlossene der Familie, liest Marx und verbringt seine Zeit in sozialistischen Gruppierungen. Doch in den Krieg mag Auguste natürlich auch nicht.

So wechselt die Geschichte zwischen zwei Außenseitern: Auguste, der dem Volk zu wirklicher Gleichheit und Gerechtigkeit verhelfen will und der sich aus Schuldgefühlen zu einer generösen Tat hinreißen lässt, die gut 150 Jahre später Blanche dazu verhilft, als Laus im Pelz der Familie de Rigby einzuheizen. Hannelore Cayre zeigt in diesem Roman auf, dass Ausbeutung und Korruption nicht nur im 19.Jahrhundert, sondern auch im 21. Jahrhundert hervorragend funktionieren und die Machtpositionen sich nicht wesentlich verändert haben. Immer noch liegt die wahre Macht nicht beim Volk, sondern in den Händen weniger und Reichtum verpflichtet nur zu weiterem Reichtum. Und es braucht die Wut einer Anarchin, um diese Verhältnisse mit zugegeben zweifelhaften Mitteln auf den Kopf zu stellen. „Reichtum verpflichtet“ ist eine gelungene Mischung aus Groteske, historischem Roman und Krimi, dabei hintergründig, schwarzhumorig und kapitalismuskritisch. Und definitiv lesenswert.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Reichtum verpflichtet | Erschienen am 30.08.2021 im Argument Verlag
ISBN 978-3-86754-252-4
256 Seiten | 20,- €
Originaltitel: Richesse oblige (Übersetzung aus dem Französischen von Iris Konopik)
Bibliografische Angaben

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu „Die Alte“ von Hannelore Cayre