Kategorie: Gunnar Wolters

Ellen Dunne | Boom Town Blues (Band 3)

Ellen Dunne | Boom Town Blues (Band 3)

Ein Umriss kommt ihm entgegen. Kein Alien, sondern ein Mann im Schwarz. Er trägt einen Motorradhelm mit aufgeklapptem Visier. Wie einer der Kuriere für die Büropost. Um diese Zeit?
„n’Abend“, sagt der Kurier. „Ich suche nach Aidan Kelleher. Wohnt der hier? Ich soll was für ihn abgeben.“
„Von wem?“, fragt Aidan. Weiß sofort: Das hätte er nicht sagen sollen. (Auszug S.11)

Polizeihauptkommissarin Patsy Logan befindet sich auf einer längeren Auszeit vor den Problemen ihrer Ehe und der karrieretechnischen Sackgasse im Münchener Kommissariat. Sie ist in die Heimat ihres Vaters nach Dublin geflohen und wohnt bei ihrer Cousine Sinéad. Doch der Beruf lässt sie auch in Irland nicht los. Auf einer Party des österreichischen Botschafters ist es zu einem seltsamen Todesfall gekommen, eine junge deutsche Praktikantin wurde vergiftet. Weil gerade kein deutscher Verbindungsbeamte in der Botschaft anwesend ist, soll Patsy die Ermittlungen der irischen Polizei begleiten. Doch wie Patsy nun so ist, kann sie sich mit einer Zuschauerrolle nicht begnügen.

„Vielen Dank, DI Logan.“ Flanagan entschränkte seine Arme, strich sich sorgfältig die Krawatte glatt. „Ich hatte mit einer Frage gerechnet, und Sie präsentieren uns hier schon eine ganze Theorie. Ich bin beeindruckt.“ Flanagan war nicht beeindruckt, so viel war sicher. Unter dem Samthandschuh seiner Freundlichkeit nicht als Stahl. (Auszug S.153)

Gemeinsam mit ihrem österreichischen Kollegen Sam Feurstein beginnt sie eigene Spuren zu verfolgen, schnell findet sie heraus, dass die Tote offenbar nicht das Ziel des Anschlags war. Und der Kollege Feurstein bemerkt Verbindungen zu einem weiteren ungeklärten Mordfall an dem jungen Anwalt Kelleher. Die Zusammenhänge führen in die jüngere Vergangenheit Irlands, dem keltischen Tiger, der Immobilienblase und dem jähen Absturz in der Finanzkrise 2008/09. Doch selbst mit den Schulden der Finanzkrise lässt sich im Nachhinein noch gutes Geld machen und auch nachträglich werden noch Leben zerstört.

„Boom Town Blues“ ist der dritte Band der in Irland lebenden österreichischen Autorin Ellen Dunne um die Münchener Kommissarin Patsy Logan. Vater Ire, Mutter Deutsche. Schwierige Kindheit, der Vater irgendwann spurlos verschwunden. Für tot erklärt, aber für Patsy sind da noch zu viele Fragen offen. Patsy ist eine sehr gute Kommissarin, hat aber wie viele Frauen einen schweren Stand in der Welt der Polizei und ihrer Alpha-Männchen. Ihre Ehe mit dem Psychiater Stephan ist kinderlos trotz vieler Versuche und inzwischen auch auf einem Scheideweg. Nach zwei Romanen im Insel Verlag bei Suhrkamp und einem Schwerpunkt des Schauplatzes in München, ist dieser Roman nun im Innsbrucker Haymon Verlag erschienen, spielt ausschließlich in Irland und wird hoffentlich einen erfolgreichen Neubeginn der Reihe bedeuten. Denn der Wechsel des Settings tut der Reihe und der Protagonistin sichtlich gut. Der Schwermut der Protagonistin und Ich-Erzählerin wird in diesem Roman sehr selbstironisch und schwarzhumorig in einem lässigen Ton aufgefangen. Auch dieses Buch enthält einiges Privates der Hauptfigur, aber in einem ausgewogenen Verhältnis. Die Ermittlungen werden immer von Kapiteln unterbrochen, die die Vorgeschichte und Hintergründe andeuten und sich am Ende zu einem Ganzen zusammenfügen. Ohne zu viel zu verraten, werden die dunklen Seiten der Boom Town Dublin angedeutet und den Raubtierkapitalismus, den man damals entfesselt hat.

Oft geht es mir so, dass ich mir bei den Krimineuerscheinungen möglichst ausgefallene Romane aussuche, auf der Suche nach dem ungewöhnlichen Setting, der extravaganten Hauptfigur, dem düstersten Noir oder ähnlichem. Und dabei verliert man manchmal die Qualität der auf den ersten Blick vielleicht unscheinbaren, bodenständigen Kriminalromane aus den Augen. Ein solches Exemplar von Bodenständigkeit im besten Sinne ist auch „Boom Town Blues“, authentische Figuren inklusive einer zynisch-ironisch kommentierenden Ich-Erzählerin, ein spannender, aber nicht überdrehter Plot und ein lässiger, verknappter Schreibstil. Patsys dritter Fall ist meiner Meinung nach der bislang beste der Reihe und defintiv eine Lektüre wert.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Boom Town Blues | Erschienen am 22.02.2022 im Haymon Verlag
ISBN 978-3-7099-7939-6
320 Seiten | 13,95 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezensionen zu Band 1 und Band 2 der Patsy Logan-Reihe

Mechtild Borrmann | Wer das Schweigen bricht

Mechtild Borrmann | Wer das Schweigen bricht

Es war einfach eine Dummheit gewesen. Seine ganze Neugierde auf diese Therese Peters war eine sentimentale Albernheit, die er sich jetzt nicht mehr erklären konnte. Unkritisch hatte er es für einen glücklichen Zufall gehalten, auf eine Journalisti zu treffen, und jetzt konnte man sie nicht mehr aufhalten. Er fühlte sich wie ein Verräter. Was würde diese Frau noch alles zutage fördern? Er nahm einen Schluck von dem Cognac. (Auszug S.52)

Robert Lubisch durchforscht den Nachlass seines vor Kurzem verstorbenen Vaters Friedhelm und findet dort den SS-Ausweis eines gewissen Wilhelm Peters sowie das Foto einer jungen Frau. Lubischs Interesse ist geweckt, sein Vater war ein strenger Patriarch und das Verhältnis war eher getrübt. Gibt es ein ungewöhnliches Geheimnis im Leben des so strebsamen Friedhelm Lubisch, der in den Nachkriegsjahren ein Firmenimperium aufgebaut hat? Robert Lubisch folgt einer Spur ins niederrheinische Kranenburg und findet heraus, dass die Frau auf dem Bild Therese Pohl, später Therese Peters war. Im ehemaligen Wohnhaus von Therese wohnt inzwischen die Journalistin Rita Albers, die ein paar Nachforschungen anstellt. Vor Ort will niemand viel sagen, Therese Peters ist irgendwann 1950 aus Kranenburg verschwunden, kurz nachdem ihr Mann vermisst gemeldet wurde. Albers wittert eine spannende Story und kann sogar ermitteln, wo sich Therese heute aufhält. Therese Mende ist inzwischen Erbin eines Modeimperiums und will zu den damaligen Ereignissen eigentlich nichts mehr sagen. Kurz darauf wird Rita Albers erschlagen in ihrer Küche aufgefunden.

Nun ermittelt die Polizei im Mordfall Albers. Verdächtigt wird auch Robert Lubisch, der kurz zuvor mit Albers zusammengekommen war, um sie von weiteren Ermittlungen abzuhalten. Schnell wird klar, dass die Lösung in der Vergangenheit zu finden ist. Nach und nach ergibt sich eine Geschichte von sechs jungen Menschen, die im Sommer 1939 die Schule beenden und deren enge Freundschaft aufgrund verschiedener traumatischer Ereignisse nach und nach zerbricht. Diese Ereignisse von damals werfen einen Schatten bis in die heutige Zeit und Robert Lubisch wird sich wünschen, diese Büchse der Pandora niemals geöffnet zu haben.

„[…] Es gab im Winter 1944/45 keine Zeit für Trauer, und manchmal denke ich, dass das eine der Tragödien dieses Krieges war, vielleicht jedes Krieges ist. Wenn wir keine Zeit zum Trauern haben, verlieren wir eine Dimension unseres Menschseins.“ (Auszug S.195)

Mechtild Borrmann schreibt abwechselnd in den beiden Zeitebenen 1998 und 1939-1950. Dabei wechselt sie sowohl direkt in die Vergangenheit als auch über Erinnerungen der Personen, zumeist Therese Mende. Der Ton ist ruhig, das Tempo eher gemächlich. Die Autorin schreibt klar und stringent, mit wenig Ausschweifungen, doch nie nüchtern. Der Fokus liegt auf den Figuren und ihren Gefühlswelten. Die Erzählperspektive wechselt zwischen verschiedenen Personen. Nach und nach wird diese Tragödie enthüllt und entfaltet so noch präziser ihre erzählerische Kraft. Mit einer nicht erwarteten Wendung ganz zum Schluss wird der Leser nochmals überrascht.

Mechtild Borrmann ist inzwischen Bestsellerautorin, 2011 war sie jedoch noch im Aufbau ihr schriftstellerischen Karriere. Sie hatte zuvor drei beachtete Kriminalromane veröffentlicht, der enorme spätere Erfolg war jedoch noch nicht absehbar. Im Februar 2011 erschien dann ihr dritter Roman im Bielefelder Pendragon Verlag. „Wer das Schweigen bricht“ war dann der endgültige Durchbruch der Autorin und für den Verlag ein Glücksgriff, eine 22.Auflage erreicht man so schnell nicht wieder. Der Roman war aber nicht nur bei den Leser:innen ein voller Erfolg, auch die Kritiker waren begeistert und vergaben für dieses Werk ein Jahr später den Deutschen Krimipreis.

Natürlich spielt die Geschichte im zweiten Weltkrieg und unter dem nationalsozialistischen Regime. Dies beeinflusst und sorgt für eine Katalyse der Ereignisse. Doch im Grunde genommen erzählt Borrmann eine ganz klassische Geschichte von Freundschaft, nicht erwiderter Liebe, Enttäuschung, Eifersucht, Hass und Schuld – und welche Tragweite persönliche, manchmal spontane Entscheidungen entfachen können, auch über Jahrzehnte hinweg. Und über das spätere Schweigen, dass die offenen Gräben zwar füllt, aber die Erinnerung nie ganz verdrängt. Das Ganze transportiert sie sehr geschickt in den beiden Zeitebenen mit glaubwürdigen Figuren, die diesen eher leisen, aber dadurch umso mächtigeren Roman tragen. „Wer das Schweigen bricht“ ist ein herausragender Kriminalroman, den man mehr als zehn Jahre nach Veröffentlichung schon als Klassiker des Genres verorten kann.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Wer das Schweigen bricht | Erschienen am 07. Februar 2011 im Pendragon Verlag
ISBN 978-3-86532-231-9
224 Seiten | 9,95 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Mathijs Deen | Der Holländer

Mathijs Deen | Der Holländer

„Und haben Sie Ihren Freund nicht gesucht?“, fragt Hans.
„Oder versucht, ihn zu retten“, ergänzt Jürgen.
Peter schweigt und schaut die beiden abwechselnd an. „Sie sind wohl noch nie im Watt unterwegs gewesen“, sagt er schließlich. „Sie haben offensichtlich keine Ahnung.“ (Auszug E-Book Pos. 413)

Zwei Männer gehen ins Watt, zu einem Rekordversuch vom Festland nach Borkum in einer Tour, der heilige Gral der Wattwanderer. Doch nur einer von beiden kommt in Borkum an und erzählt davon, wie der andere in einem Priel weggerissen wurden, er das Verbindungsseil verlor, der Freund abgetrieben wurde. Doch Peter Lattewitz steht unter Schock, ist offenbar auch etwas verwirrt. Hat es sich genau so abgespielt? Die Leiche seines Wattpartners, Klaus Smyrna, wird jedenfalls ein Stück entfernt auf einer Sandbank in der Ems gefunden und von einem niederländischen Patrouillenboot weggenommen. Erste Ermittlungen widerlegen die Unfallthese nicht. Doch da hat der Fall eine ganz andere Wendung genommen, wird plötzlich zum Politikum.

Der örtliche Chef der niederländischen Marechaussee hat nämlich nicht vor, den Leichnam an die deutsche Bundespolizei zu übergeben. Die deutsch-niederländische Grenze in der Emsmündung ist nicht eindeutig definiert. Seiner Meinung nach wurde die Leiche in den Niederlanden gefunden, daher soll es eine niederländische Ermittlung geben. Das sehen die Deutschen völlig anders und es kommt zum Kompetenzgerangel, leichten Verstimmungen und Provokationen. Derweil sendet die Bundespolizei Liewe Cupido, deutsche Mutter, niederländischer Vater, nach Delfzijl, um dort heimlich erste Ermittlungen aufzunehmen und mit bereitwilligen Kollegen auf der anderen Seite zusammenzuarbeiten. Und je mehr Cupido sich mit diesem Fall befasst, desto mehr Unklarheiten ergeben sich. Eigentlich waren die Wattwanderer ein Trio, doch zufällig bei dieser Tour, die man akribisch vorbereitet hat, war der dritte Mann, Aron Reinhard, in England im Urlaub. Einiges rund um dieses Trio kommt Cupido merkwürdig vor. Waren Lattewitz und Smyrna wirklich alleine im Watt?

Er weiß genau, was er tut, obwohl es unmöglich ist, alle Risiken zu vermeiden. Ein Wattwanderer geht ungebahnte oder vom Meer ausgelöschte Wege. Es ist eine Umgebung voller Unwägbarkeuten, in der die Natur das Sagen hat. (Auszug E-Book Pos. 37)

Eine faszinierende Welt, dieses Watt. Aber auch unheimlich und gefährlich. Und diese Extrem-Wattwanderer sind Extremsportler, die die Grenzen ausreizen und Risiken eingehen. Absolut vergleichbar mit Bergsteigern, die sich akribisch auf eine Tour vorbereiten, Routen vorausplanen und auf die optimalen Wetterbedingungen warten. Das Wattenmeer der Nordsee mit seinen vorgelagerten Inseln birgt einige sehr herausfordende Watttouren und die Strecke vom Festland bei Manslagt (Gemeinde Krummhörn) bis nach Borkum ist mit mehr als 25km definitiv so etwas wie die Besteigung eines 8.000ers. Die Wattfläche nach Borkum läuft nie vollständig trocken, seichte Wasserflächen und mehrere Priele, die nur bei Nipptide und weiteren optimalen Windverhältnissen gerade so für Profis passierbar sind, müssen durchquert werden. Die Lektüre hat mich dazu gebracht, dieses Extrem-Wattwandern mal etwas zu recherchieren. Die Route Borkum-Festland ist wohl tatsächlich wohl nur von einer Handvoll Gruppen bis heute tatsächlich geschafft worden.

Mathijs Deen ist in seiner Heimat ein bekannter Autor und Rundfunkproduzent, mehrere seiner Werke sind auch ins Deutsche übersetzt worden. Mit „Der Holländer“ wagt er sich explizit ins Krimigenre, gleichwohl liegt sein Fokus weniger auf dem eher solider Plot als auf den Figuren. Liewe Cupido als einsamer, eher schweigsamer Ermittler passt in die friesische Landschaft. Die weiteren Figuren werden ebenfalls sorgsam beschrieben. Generell ist die Stimmung melancholisch, es geht um gekränkte Eitelkeit, Einsamkeit und Verlust. Der Roman ist auch direkt mit dem Schauplatz verbunden, das Watt und die Orte drumherum spielen eine zentrale Rolle. Deen vermeidet aber bewusst die Klischees touristischer Regionalkrimis. Ein bisschen schade für den geübten Krimileser ist die Tatsache, dass zumindest ich früh ahnte, in welche Richtung die Auflösung gehen würde. Dennoch insgesamt ein stimmungsvoller und mit interessanten Figuren bestückter Roman von der friesischen Küste.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Der Holländer | Erschienen am 15.02.2022 im Mare Verlag
ISBN 978-3-86648-674-4
272 Seiten | 20,- €
als E-Book: ISBN 978-3-7517-1003-9 | 12,99 €
Originaltitel: De Hollander (Übersetzung aus dem Niederländischen von Andreas Ecke)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Attica Locke | Black Water Rising

Attica Locke | Black Water Rising

Die Autorin Attica Locke war in den Staaten bereits eine renommierte Autorin und Drehbuchschreiberin, als ihr Roman „Bluebird, Bluebird“ mit dem Gewinn sowohl des Edgars als auch des Daggers sie nochmal auf eine andere Höhe katapultierte. Der Polar Verlag brachte „Bluebird, Bluebird“ auch in deutscher Übersetzung heraus und brachte sie erstmals auch einem größeren deutschsprachigen Publikum nahe. Nach „Bluebird“ folgte mit „Heaven, My Home“ auch der zweite Roman um den schwarzen Texas Ranger Darren Matthews. Südstaaten-Romane, die sich um Heimat und natürlich um Rassismus drehen. Nun hat der Verlag sich Lockes Debütroman vorgenommen: „Black Water Rising“ erschien 2009 im Original und spielt in Houston des Jahres 1981.

Jay Porter ist ein schwarzer Anwalt mit einer kleinen schäbigen Kanzlei. Er hält sich mit kleinen Zivilklagen und Vergleichen über Wasser. Das Geld ist knapp, trotzdem hat er sich für den Geburtstag seiner schwangeren Frau Bernie etwas einfallen lassen: Eine nächtliche Fahrt auf einem kleinen Kahn mit Skipper über den Bayou durch Houston. Auf dem Rückweg werden die Bootsinsassen Zeugen eines lauten Streits jenseits der Uferböschung, kurz darauf fallen Schüsse und jemand fällt ins Wasser. Porter zögert, springt aber dann doch in den Fluss und zieht eine junge weiße Frau an Bord. Die Frau ist wortkarg, die Porters bringen sie zur nächsten Polizeistation. Jay geht aber wohlweislich nicht mit hinein, denn sein Mißtrauen sitzt aus Erfahrung tief. Später erfährt Jay, dass ein Mann tot aufgefunden wurde. Er bekommt Angst, in die Sache hineingezogen zu wurden, aber er will auch nicht unverbereitet sein, sodass er eigene Nachforschungen unternimmt.

Er überlegt, ob er ohne Jimmys Cousin mit der Polizei reden soll, kann sich aber nicht dazu durchringen.
Er erinnert sich an seinen eigenen Rat: Halt deine verdammte Klappe.
Das steckt tief in ihm drin, ist in seiner DNA gespeichert. Halt den Kopf unten, sprich nur, wenn man dich was fragt. (Auszug S.79)

Jay hat Angst vor der Polizei und dem Staatsapparat – und das nicht ohne Grund. Vor mehr als zehn Jahren war er Teil der Studentenbewegung, organisierte Proteste und Demos. Jay selbst war nicht radikal, aber er bewegte sich in Dunstkreis derer, die glaubten, mit Gewaltlosigkeit nicht weiter zu kommen. Wie die staatliche Gewalt die Bewegung in wahrsten Sinne des Worte zerschlug, hat er selbst miterlebt und am eigenen Leib erfahren. In einem Prozess mit fingierten Beweisen gegen ihn entkam er nur knapp einer Verurteilung. Seitdem ist Jay extrem vorsichtig. Er weiß, dass ein Schwarzer den direkten Kontakt mit der Polizei am besten vermeidet. Aber untätig da sitzen, will er auch nicht. Er will herausfinden, was ihn erwarten könnte. Doch er ist längst im Spiel, die Gegenseite weiß von ihm und macht ihm klar, dass er sich aus allem heraushalten sollte.

Langsam dämmert es Jay. Der wahre Grund, warum seine Waffe abhandengekommen ist. Alles nur, um ihn abzuschrecken. Und gerade er ist darauf reingefallen. Er ist das perfekte Opfer gewesen. Rolly sieht ihn über den Schreibtisch hinweg an. „Wenn du mich fragst… was der ganze Aufwand soll… das ist was Übles, Mann, was richtig Übles. Ich würd die Pfoten davon lassen, Jay.“ (Auszug S.313)

Attica Locke verwebt in diesem Roman zwei zeitliche Ebenen, die um ein zentrales Thema kreisen: Rassismus und die Benachteiligung der Schwarzen. In Rückblicken erinnert sich Jay an die Zeit der Bürgerrechtsbewegung, der Studentenproteste, den SNCC, die Black Panther. Und wie diese Proteste mit aller Härte vom Staat bekämpft und die Aktivisten kriminalisiert wurden – egal, ob sie es waren oder nicht. Jay war damals mit einer weißen Studentin zusammen, Cynthia Maddox, die damals radikaler war als er. Als er inhaftiert wurde, verschwand sie aus seinem Leben. Inzwischen hat Cynthia aber politische Karriere gemacht und ist Bürgermeisterin von Houston. Houston ist eine Stadt der Ölindustrie, die einen steilen Aufstieg gemacht hat. Die Chefs der Ölfirmen sind die heimlichen Herrscher der Stadt. Nun ist auch Houston Anfang der 80er ein Ort mit schwelenden Rassenspannungen, die mehrheitlich schwarzen Hafenarbeiter sind mit ihren Arbeitsbedingungen nicht einverstanden und wollen den Hafen bestreiken. Und auch die Ölindustrie steckt in der Krise, Öl wird heimlich in Milliarden Barrel gehortet, um die Preise hoch zu halten. Ein Streik könnte das Pulverfass zum Explodieren bringen. Jay wird durch seinen Schwiegervater, einen schwarzen Reverend, der als Vertrauensmann der schwarzen Gewerkschaftler fungiert, in den Streik hineingezogen. Jay soll seine alten Kontakte zur Bürgermeisterin nutzen. Und je mehr er mitbekommt, umso mehr dämmert es Jay, dass der Streik, die Ölindustrie und die Schüsse am Bayou miteinander zusammenhängen.

„Black Water Rising“ ist ein komplexer, aber ungemein stark komponierter Roman um den Kampf der schwarzen Amerikaner um Gleichberechtigung. Ein Roman, der 1981 spielt, und dennoch die klaren Parallelen zur Gegenwart hat. Die Autorin Attica Locke beweist sich dabei auch als Chronistin ihrer Heimatstadt Houston. Ihren Protagonisten Jay Porter schickt sie dabei als einsamen Wolf in einen kaum zu gewinnenden Kampf. Wie schon in ihren zuvor auf Deutsch erschienenen Romanen überzeugt die Mischung aus Krimihandlung, die Einbettung historischer Ereignisse und der Blick auf die texanische Gesellschaft.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Black Water Rising | Erschienen am 15.11.2021 im Polar Verlag
ISBN 978-3-948392-40-6
456 Seiten | 25,- €
Originaltitel: Black Water Rising (Übersetzung aus dem Amerikanischen von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezensionen zu „Bluebird, Bluebird“ und „Heaven, My Home“

Mario Puzo | Der Pate

Mario Puzo | Der Pate

„Ich werde ihm ein Angebot machen, dass er nicht ausschlagen kann.“ (Auszug S.549)

Selbst viele Nicht-Genreleser werden dieses Zitat sofort „Der Pate“ von Mario Puzo zuordnen, insbesondere in der Verfilmung von 1972, für die Puzo gemeinsam mit Regisseur Francis Ford Coppola seinen Roman in ein Drehbuch umschrieb (und dafür gewannen beide auch damals einen Oscar). Auch der Film selbst gewann die höchste Auszeichnung der Filmbranche und gilt bis heute als ikonisches Meisterwerk. Ich hatte den Film zuletzt vor bestimmt 20 Jahren gesehen und natürlich auch als großartig in Erinnerung, aber natürlich verblassen die Details bis auf wenige Ausnahmen nach so vielen Jahren (die eindrucksvollste Szene bleibt für mich sicherlich der blutige Pferdekopf im Bett des Filmproduzenten). Somit konnte ich relativ unvoreingenommen an die Romanvorlage herangehen, die nun in der sehr schmucken Reihe „Red Eye“ des Kampa Verlags eine Neuauflage erfahren hat.

Die grundlegende Story dürfte vielen sicherlich bekannt sein: Die Corleones bilden Mitte der 1940er Jahre eine der fünf Mafia-Familien New Yorks. Die Geschäfte laufen ganz passabel, dank eines Friedensabkommens zwischen den Familien. Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs erwarten alle eine noch deutliche Steigerung ihrer Geschäfte. Oberhaupt (Don) des Corleone-Clans ist der inzwischen in die Jahre gekommene, aber immer noch äußerst clevere Vito Corleone. Vito hat drei Söhne, Sonny, Fred und Michael, bei denen unklar ist, wer einmal die Familiengeschäfte übernehmen wird. Sonny, der Älteste, gilt als zu impulsiv, Fred, der Mittlere, als nicht clever genug. Und Michael, der Jüngste, hat sich schon mehrfach den Anweisungen des Vaters widersetzt, war freiwillig im Krieg, will nun studieren und hat eine typische Amerikanerin als Partnerin. Als nun die aufkommenden Geschäfte mit Rauschgift die Balance zwischen den Familien ins Wanken bringt und auf Don Vito sogar ein Mordanschlag verübt wird, kristallisiert sich immer mehr heraus, dass Michael in die Rolle des Oberhaupts hineinwächst.

Don Vito Corleone war ein Mensch, an den sich alle um Hilfe wandten, und noch nie hatte er einen Bittsteller enttäuscht. Er machte keine leeren Versprechungen, noch gebrauchte er die feige Ausrede, ihm wären von Stellen, die mehr Macht besäßen als er, die Hände gebunden. Es war nicht notwendig, dass er ein Freund des Bittstellers war, es war nicht einmal wichtig, dass man die Mittel besaß, um ihn für seine Mühe zu belohnen. Nur eines wurde verlangt: dass der Bittsteller selber ihm Freundschaft schwor. (Auszug S.25)

„Der Pate“ umfasst neun „Bücher“, die bestimmte Abschnitte der Familiensaga umfassen, oft auch mit einem Perspektiv- oder Ortswechsel. Die erzählte Zeit umfasst etwa zehn Jahre Mitte der 1940er bis Mitte der 1950er Jahre, wobei auch rückblickend von den Anfängen Vito Corleones erzählt wird, wie er nach Amerika kam und dort zu einem Mafioso aufstieg. Mario Puzo beschreibt eindrucksvoll die Machtstrukturen innerhalb der „Familie“, ein streng hierarchisches (patriarchaisches) System, das durch diesen Aufbau ebenfalls das Oberhaupt zusätzlich zur Omertà vom Verrat abschirmt. Kein Fußsoldat wird jemals vom Don einen Auftrag erhalten. Durch die Perspektive der italienischen Einwanderer erhält man zudem einen Blick auf die amerikanische Gesellschaft, die es den Neuankömmlingen nicht einfach gemacht hat, so dass sich Parallelgesellschaften gebildet haben, mit eigenen Moralvorstellungen und eigenen Regeln. Und die Familien haben inzwischen so viel Geld und Einfluss gewonnen, dass sie die Vertreter des eher ungeliebten amerikanischen Staates korrumpieren können.

„Mein Vater ist ein Geschäftsmann, der versucht, für seine Frau und Kinder und für jene Freunde zu sorgen, die er in Zeiten der Not eines Tages brauchen könnte. […] Er weigert sich, nach Regeln zu leben, die andere gesetzt haben, nach Regeln, die ihn zu einem Leben im Elend verdammen. Sein eigentliches Ziel aber ist es, ein Mitglied dieser Gesellschaft zu werden – allerdings mit einer gewissen Macht, da diese Gesellschaft Mitglieder, die keine eigene Macht besitzen nicht schützt. Inzwischen handelt er nach seinem eigenen Moralkodex, den er der Rechtsstruktur der Gesellschaft für weit überlegen hält.“ (Auszug S.521-522)

Die Verfilmung von „Der Pate“ ist trotz aller Lobeshymnen nicht ohne Kritik geblieben. Einige befanden, dass der Film auch gut „aus dem Werbeetat der Cosa Nostra“ hätte finanziert werden können, denn die Mafia werde ein Stück weit glorifiziert. Diese Kritik gibt es bis heute für diverse kulturellen Bearbeitungen des Mafia-Topos. In Deutschland ist Autorin Petra Reski eine der schärfsten KritikerInnen dieser „Mafia-Folklore“. Und tatsächlich bewegt sich auch Mario Puzo auf einem sehr schmalen Grat. Er verschweigt nicht die Brutalität und rohe Gewalt, deren sich die Mafia bedient. Aber er stellt diese immer wieder in einen Kontext zu Familie, Ehre und Loyalität. Die schmutzigen Geschäfte der Familie Corleone (im Wesentlichen Glücksspiel und Gewerkschaftsangelegenheiten) werden ein Stück weit als Gaunereien verklärt und Don Vito als ehrenwerten Mann, der Rauschgiftschmuggel als unmoralisch verabscheut. Das aber auch nicht durchgehend, sodass der Leser schon erfährt, dass die Mafiafamilien einen totalitären Anspruch verfolgen, den Staat und seine Institutionen großflächig unterwandern und dabei auch tief im Rassismus verwurzelt sind. Was man für einen Roman, der in den 1940er/1950ern in einer italienischstämmigen Mafiafamilie spielt, natürlich nicht erwarten kann, ist ein differenziertes Frauenbild abseits des Hure oder Heilige-Schemas. Dennoch eher als ärgerlich habe ich einige von Puzos Nebenerzählungen empfunden, die offensichtlich bewusst schlüpfrig angelegt sind – etwa die Brautjungfer der Corleonetochter, die aufgrund einer anatomischen Fehlbildung offenbar nur vom mächtigen Geschlecht Sonny Corleones befriedigt werden kann und sich später einer Schönheitsoperation unterzieht.

So war für mich der letztendliche Eindruck schon nicht völlig ohne kritische Hintergedanken. Dennoch ist Mario Puzos „Der Pate“ immer noch ein packender und mitreißender Roman über das organisierte Verbrechen, um Macht, Familie, Ehre und Gewalt. Ein System, dass alle Figuren eng umschlungen hält und sie letztlich in einen Strudel hineinzieht oder gefangen hält, aus dem scheinbar nur der Tod (oft gewaltsam) sie befreien kann. Das fasziniert noch heute und macht „Der Pate“ nach wie vor zu einem echten Klassiker.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Der Pate | Erstmals erschienen 1969
Die aktuelle Ausgabe erschien am 14.10.2021 im Kampa Verlag
ISBN 978-3-311-12510-5
640 Seiten | 22,- €
Originaltitel: The Godfather (Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Gisela Stege)
Bibliografische Angaben & Leseprobe