Kategorie: Aktenzeichen

Gerald Seymour | Vagabond

Gerald Seymour | Vagabond

„Ich kenne keinen Besseren als Vagabond. Er ist so erfolgreich, weil er durchs Feuer geht, um seine Zielperson zu kriegen. Der ruft nicht bei der Gesundheitsbehörde an, wenn’s mal brenzlig wird, oder beschwert sich wegen Überstunden. Dieser Mann wäre von den Toten auferstanden, um meiner Anweisung zu folgen. Hatte ich das Recht, ihn aus dem Ruhestand zu holen? Diese Bürde muss ich tragen.“ (Auszug Seite 449-450)

Nordirland, 2000er Jahre: Nach dem Friedensschluss ist verhältnismäßig Ruhe eingekehrt im zerrissenen Land. Die meisten der ehemaligen Kämpfer haben sich dem Prozess unterworfen. Doch es gibt sie noch, die Frustrierten, ewig Gestrigen. Doch sie sind weitgehend isoliert, haben nur noch wenig direkte Unterstützung und nur noch sehr begrenzte finanzielle Mittel. Mit frischen, modernen Waffen könnte man vielleicht wieder ins Spiel kommen. Und so bemüht sich eine IRA-Splittergruppe um Waffen von einem russischen Waffenhändler. Doch der Deal steht im Visier des Geheimdienstes, der Mittelsmann ist ein Informant. Die Aktion wird geleitet von Gaby Davies, doch ihr Vorgesetzter beim MI5, Matthew Broderick, hat besondere Anforderungen, so dass er einen zusätzlichen Agenten reaktiviert: Danny Curnow, ehemaliger Deckname: Vagabond.

Danny war jahrelang Agentenführer beim FRU, einer verdeckten Geheimdiensteinheit in Nordirland, die sich auf die Infiltration von republikanischen Terroristengruppen spezialisiert hatte. Vagabond war einer der erfolgreichsten Führungsoffiziere, sorgte für die Festnahme oder für den Tod von IRA-Kämpfern, aber war ebenso mitbeteiligt, wenn Informanten getötet wurden oder sogar Unbeteiligte geopfert wurden, um die Glaubwürdigkeit von wichtigen Spitzeln zu erhalten. Irgendwann wurde es Danny zu viel und er ist einfach gegangen, ohne offiziell zu kündigen. Er hat sich mit seinem engen Kollegen Dusty neu orientiert. Die beiden sind nach Nordfrankreich gezogen und haben sich dort als Touristenführer für die Schauplätze des Zweiten Weltkriegs etabliert. Dort wird Danny von Broderick aufgespürt und mit leichtem Zwang rekrutiert.

Schauplatz des Deals wird Tschechien sein. Dort, in einer Villa in Karlovy Vary, residiert Timofei Simonow, ehemaliger russischer Geheimdienstler, der sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Waffenhandel und anderen kriminellen Geschäften etablierte. Der Mittelsmann und Informant Ralph Exton ist ein alter Freund von Simonow, ein Lügner und Opportunist. Von Seiten der IRA ist ein alter Bekannter von Danny Curnow beteiligt, Malachy Riordan. Vagabond hatte vor Jahrzehnten dessen Vater liquidieren lassen. In Prag warten die meisten der Beteiligten auf den Abschluss des Deals, belauern sich und nähren ihre Zweifel, Ängste, Nervosität oder gar Vorfreunde.

Autor Gerald Seymour arbeitete lange Jahre als politischer Journalist. 1975 veröffentlichte er seinen ersten Politthriller „Harry’s Game“ („Das tödliche Patt“ in der deutschen Übersetzung). Seitdem brachte Seymour fast jährlich ein neues Buch heraus und etablierte sich insbesondere in seiner britischen Heimat in der ersten Riege der Politthrillerautoren. Mehrere seiner Romane wurden fürs britische Fernsehen verfilmt. In Deutschland wurde Seymours Thriller bis zum Ende der 1990er regelmäßig übersetzt. Danach tat sich allerdings fast zwanzig Jahre oder vierzehn Romane lang nichts, bevor Thomas Wörtche ihn in seiner Reihe bei Suhrkamp wieder hervorholte. Übersetzt wurde „Vagabond“ übrigens von den in der deutschen Krimiszene auch nicht ganz unbekannten Zoë Beck und Andrea O´Brien.

Danny Curnow hatte vor all den Jahren, als Hanna ihn vor die Wahl stellte, geschwiegen, weil er nichts anderes gewagt hatte. Er war vergiftet. Mit den Toten zu marschieren war die Schuld, die er zu begleichen hatte. (Seite 70)

Müsste ich Gerald Seymours Stil in Vagabond mit einem Wort beschreiben, würde ich vermutlich „präzise“ wählen. Oder „minutiös“. Seymour sammelt von Beginn an ein üppiges Personal an und wechselt auch sehr häufig die Perspektive. Dadurch wird es durchaus komplex, aber man hat trotzdem das Gefühl, dass der Autor alles im Griff hat. Das Buch ist durchaus ein Polit- oder Spionagethriller, es geht um die IRA und um einen Waffenhändler und um die schmutzige Arbeit der Geheimdienste. Aber keine Angst vor politischen Referaten, denn Seymour nähert sich der Thematik über seine Figuren. Diese werden intensiv beschrieben und aufs Engste durch diese Geschichte begleitet.

Fast alle haben eine Schuld auf sich geladen, sind Verräter, Opportunisten, Karrieristen, doch ihre Beschreibung bleibt nicht eindimensional. Sehr eindrucksvoll gelingt dem Autor auch die Skizzierung eines Nordirland, in dem die Grenzen zwischen Informanten, Verrätern, Terroristen und Friedensgewinnern sehr diffus sind und die Vergangenheit nicht so einfach unter den Teppich gekehrt werden kann. Denn dafür gab es zu viele Ungerechtigkeiten, zu viele Personen auf beiden Seiten wurden vereinnahmt, unter Druck gesetzt, gebrochen und dann wieder allein gelassen. Oder der Rache der Gegenseite überlassen.

Der Leser darf hier kein Actionfeuerwerk erwarten. Es gibt keinen wilden Ritt durch mehrere Länder mit großem Waffenarsenal. Stattdessen bietet Vagabond in bester Le-Carré’scher Tradition einen unverfälschten Blick in die deprimierende Arbeit der Geheimdienste, präzise Psychogramme der beteiligten Figuren und darüber hinaus einen manchmal etwas tempoarmen, aber dennoch spannenden Plot, bei dem der Leser irgendwann ahnt, dass hinter der ganzen Aktion noch mehr steckt, als es zunächst den Anschein hat. Und recht behält (eigentlich unnötig, dass der Klappentext dies auch andeutet).

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Vagabond | Erschienen am 12. Dezember 2017 im Suhrkamp Verlag
ISBN 987-3-518-46742-8
498 Seiten | 14.95 Euro
Bibliografischer Angaben & Leseprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen des .17specials Ein langes Wochenende mit… Spionageromanen.

Olen Steinhauer | Die Kairo-Affäre

Olen Steinhauer | Die Kairo-Affäre

Später hasste sie sich dafür, dass sie den Killer angesehen hatte und nicht ihren Mann. Sie hätte Emmett ansehen, ihm einen letzten Augenblick des Mitleids, der Zärtlichkeit, der Liebe schenken müssen. Aber sie hatte es nicht getan, weil sie das nicht erwartet hatte. (Auszug Seite 37)

Emmett und Sophie

Der US-amerikanische Diplomat Emmett Kohl sitzt mit seiner Frau Sophie in einem Budapester Restaurant. Seit einigen Monaten ist er als stellvertretender Generalkonsul in Ungarn stationiert. Davor lebten sie jahrelang in Ägypten und fühlten sich da sehr wohl, bis auf die letzten Monate, in denen Emmett gereizt und nervös war. Er konfrontiert seine Frau mit dem Wissen um ihre Affäre mit einem befreundeten CIA-Mitarbeiter in Kairo. Noch bevor sie sich richtig aussprechen können, stürzt ein Fremder ins „Chez Daniel“ und erschießt Emmett kaltblütig vor den Augen seiner Frau. Die schockierte Sophie reist auf eigene Faust heimlich nach Kairo, da sie hier die Drahtzieher für den Mordauftrag an ihrem Mann vermutet. Sie nutzt auch ihre Verbindungen als Diplomatenfrau, als sie sich mit ihrem Ex-Liebhaber, dem CIA-Agenten Stan Bertolli trifft.

Olen Steinhauer hat seinen Thriller Die Kairo-Affäre mit den Ereignissen rund um den „Ägyptischen Frühling“ verknüpft. Anfang des Jahres 2011 rufen ägyptische Aktivisten zum Widerstand auf und der Tahrir-Platz wird zum Zentrum der Demonstrationen. Der langjährige Staatspräsident Mubarak tritt zurück, das Militär übernimmt die Macht und es kommt zu den ersten Unruhen in Libyen. Diese aufgeheizte Revolutionsatmosphäre mit Protesten und Aufständen erlebte das Diplomatenpaar Kohl in Kairo live mit.

Der Plan Stumbler

Die USA schauen mit Sorge auf diesen Prozess und lassen zum Wohle ihres Landes, beziehungsweise um amerikanische Wirtschaftsinteressen zu schützen, die CIA einen Plan namens „Stumbler“ entwickeln, der vorsieht, mithilfe libyscher Exilanten Diktator Gaddafi zu stürzen. In einem anderen Handlungsstrang geht es um dieses längst verworfene Vorhaben.

In Washington hat der junge CIA-Analytiker Jibril Aziz vor einiger Zeit diesen Plan für einen politischen Umsturz in seinem ehemaligen Heimatland Libyen entwickelt. Obwohl längst zu den Akten gelegt, befürchtet Aziz, aufgrund verschiedener Hinweise, dass die Amerikaner Stumbler nun doch umsetzen und die Revolution für ihre Zwecke instrumentalisieren wollen. Noch kurz vor Emmett Kohls Exekution hatte Aziz Kontakt mit ihm aufgenommen, denn der Botschaftsangehörige zählte zu den erklärten Gegnern von Stumbler. Mit seinem Wunsch, die Hintergründe aufzuklären, löst der von Gewissensbissen gequälte Aziz eine Kettenreaktion aus, denn es bleibt nicht bei dem einen Todesfall. Auch ein weiteres Mitglied der Botschaft und der CIA-Mann Stan Bertolli werden ermordet und Azis verschwindet wenig später spurlos in der libyschen Wüste. Versucht der US-Geheimdienst fieberhaft und mit allen Mitteln eine aus der Kontrolle geratene Operation zu vertuschen und die Aufdeckung seiner Machenschaften zu verhindern?

Immer wieder werden Episoden aus der Vergangenheit des Ehepaares Kohls eingestreut. Vor 20 Jahren führte die Hochzeitsreise der damals schon politisch Interessierten nach Osteuropa. Sehr ausführlich werden die zum Teil grausamen Erlebnisse während des Bürgerkrieges 1991 auf dem Balkan geschildert. Erst durch die vielen Rückblenden entwirren sich so langsam die Fäden der Erzählstränge, die der Autor geschickt miteinander verwoben hat.

Durch Beschreibungen des exotischen Kairo und spannende Szenen in der libyschen Wüste schafft der amerikanische Autor eine stimmige Atmosphäre. Olen Steinhauer hat einen sehr anspruchsvollen aber auch verwirrenden Spionagethriller geschrieben mit einer sorgfältig aufgebauten Handlung. Die Spannung entsteht aufgrund ständig wechselnder Perspektiven, Zeiten und Orte, um dann, und das fand ich besonders raffiniert, das gleiche Geschehen noch mal leicht zeitversetzt aus der Perspektive einer anderen Figur zu schildern. Der Leser erhält dadurch neue Hintergrundinformationen und es ergibt sich wieder ein ganz anderes Bild. Hier muss man aber auch sehr konzentriert bei der Sache bleiben, sonst verliert man den Überblick.

Das gleiche gilt für das hervorragend dargestellte Figurenensemble. Jeder der vielen Charaktere ist mit einem Geheimnis ausgestattet, lügt und betrügt und vertraut niemanden. Freunde können schnell zu erbitterten Feinden werden. Bis zum Schluss werden noch wichtige Figuren eingeführt oder können auch wieder geopfert werden, wie zum Beispiel der große schwarze Söldner John mit einem Hang zur Lyrik oder der ältere Omar Halawi, ein kluger Mann und Mitglied des ägyptischen Geheimdienstes, mit dem noch mal richtig Fahrt in die Geschichte kommt. Es bedarf volle Konzentration, um nicht den Überblick zu verlieren, wer hier mit wem oder gegen wen arbeitet. Das ist sicher auch die Absicht des Autors, denn sein umfangreiches Personal durchschaut die Intrigen schon lange nicht mehr.

Steinhauers ambitionierter Thriller führt in die paranoide Welt der Spionage und es ist eine bittere Geschichte.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Die Kairo-Affäre | Erschienen am 26. Mai 2014 im Blessing Verlag
ISBN 978-3-89667-519-4
496 Seiten | ./.
Die gebundene Ausgabe ist nur noch antiquarisch erhältlich.
Die Taschenbuchausgabe erschien am 8. September 2015 bei Heyne und kostet 9.99 Euro.
Bibliografische Angaben & Leseprobe (eBook)

Diese Rezension erscheint im Rahmen unseres .17specials Ein langes Wochenende mit… Spionageromanen.

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu Olen Steinhauers Roman Der Anruf.

Melinda Mullet | Whisky mit Mord

Melinda Mullet | Whisky mit Mord

Whisky mit Mord ist der Debüt-Roman von Melinda Mullet und spielt hauptsächlich in Balfour, Schottland.

Abigail Logan, 34, ist eine preisgekrönte Fotojournalistin, die für „The London Gazette“ in allen Krisengebieten der Welt unterwegs ist. Im Alter von acht Jahren verlor sie ihre Eltern durch einen Verkehrsunfall, seit dieser Zeit lebte sie bei ihrem Onkel Ben, einem erfolgreichen Londoner Aktienhändler, der mit Begeisterung die Vaterrolle an ihr übernommen hat.

Abby erhält bei ihrem letzten Job in Afrika die Nachricht, dass es Ben, der seit einiger Zeit an Krebs erkrankt war, deutlich schlechter geht. Obwohl sie sofort zurückfliegt, trifft sie ihn leider nicht mehr lebend an. Von seinen Anwälten wird sie dann darüber informiert, dass sie seine Ländereien und Liegenschaften in Schottland, wozu auch die Whisky-Brennerei „Abby Glen“ in Balfour gehört, geerbt hat. Bei einem Treffen mit ihrem besten Freund Patrick, stellvertretender Herausgeber des Magazins „Wine and Spirits Monthly“, macht dieser ihr erst mal klar, dass es sich bei Abby Glen keineswegs um – wie von ihr vermutet – eine kleine heruntergekommene Brennerei, sondern um eine der angesagtesten Nobeldestillerien für Single Malt Whisky in Schottland handelt. Das scheint auch anderen bekannt zu sein, denn kurz nach der Besprechung mit den Anwälten erhält sie einen Drohbrief, der sie anscheinend davon abhalten soll, die Brennereigeschäfte zu übernehmen. Zusätzlich trifft ein Floristenkarton bei ihr ein, Inhalt: ein Riesenstrauß Disteln mit einer Trauerschleife, jedoch ohne weitere Nachricht. Abigail macht sich trotzdem – getreu dem Motto: Bange machen gilt nicht – mit ihrem Hund Liam und Freund Patrick auf nach Schottland, um sich ihr Erbe anzusehen, die Mitarbeiter kennen zu lernen und dann zu entscheiden, ob sie übernimmt oder verkauft.

Nachdem sie sich zunächst die Destillerie angesehen haben, fahren sie zu Bens Wohnhaus und erleben dort die nächste unliebsame Überraschung, an der Haustür hängt eine tote Ente, deren Blut sich über die Eingangsstufen ausgebreitet hat. War der Empfang schon nicht allzu freundlich, geht es in den folgenden Tagen erst so richtig los: nach Manipulationen an den Geräten der Destillerie findet Abby bei einem Kontrollgang einen jungen Angestellten tot in einem Gärbottich, die Mälzscheune geht in Flammen auf und es treffen weitere Drohbotschaften ein.

In ihrem Roman stellt die Autorin eine Protagonistin in den Mittelpunkt, die, gestählt durch ihren beruflich bedingten Aufenthalt in Krisengebieten, sich auch von den Drohungen und Machenschaften der Inhaber anderer Brennereien, die sich zu gerne „Abby Glen“ aneignen würden, nicht einschüchtern lässt. Auch die Charaktere der Mitstreiter bzw. Gegner sind interessant gestaltet, als Leser rätselt man doch einige Zeit, wer zu welcher Gattung gehört.

Im gesamten Handlungsverlauf wird die anfängliche Spannung nicht nur gehalten, sondern bis zur überraschenden Auflösung noch gesteigert, der Schreibstil ist flüssig und humorvoll. Zusätzlich ist erkennbar, dass die Autorin sich ein gutes Hintergrundwissen (evtl. durch ihren Ehemann, einem Whisky-Sammler aus Leidenschaft) über die Whisky-Brennerei, die Vermarktung und auch den Wert von Whisky-Sammlungen angeeignet hat – auch für Nicht-Whisky-Trinker durchaus interessant.

Mein Fazit: Ein gelungener Debüt-Roman, Lesevergnügen bis zum Schluss!

Melinda Mullet hat britische Eltern, ist allerdings in den USA geboren und aufgewachsen. Sie besuchte Schulen in Texas, Washington D.C., England und Österreich. Sie ist Rechtsanwältin und hat sich für Kinderrechte und Schulausbildung von Kindern auf der ganzen Welt eingesetzt. Sie hat viele Reisen unternommen und lebt in der Umgebung von Washington D.C. mit ihrem Ehemann, einem Whisky-Sammler, und zwei Töchtern.

 

Rezension und Foto von Monika Röhrig.

Whisky mit Mord | Erschienen am 13. Juli 2018 bei Aufbau Verlag
ISBN 978-3-7466-3391-6
384 Seiten | 9.99 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Simone Buchholz | Mexikoring Bd. 8

Simone Buchholz | Mexikoring Bd. 8

Dortmund, mein Herz hämmert

Am 20. September 2018 stellte Simone Buchholz ihren neuesten Kriminalroman Mexikoring vor, dem mittlerweile achten Band ihrer Reihe um die Hamburger Staatsanwältin Chastity Riley. Und sie las ihre eigens für Dortmund geschriebene Kurzgeschichte „Dortmund, mein Herz hämmert“ vor, die sie exklusiv für die neunte Anthologie Henkers.Mahl.Zeit geschrieben hat. Die Sammlung von regionalen Kurzkrimis wird seit neun Jahren zeitgleich zum Krimifestival Mord am Hellweg vom Grafit Verlag herausgegeben und Simone Buchholz ist eine von 23 Autorinnen und Autoren, die den Hellweg mit Leichen pflastern dürfen.

Dass der auf St. Pauli lebenden Autorin Dortmund zugewiesen wurde, hat sie sehr gefreut, denn zu Dortmund hat sie eine besondere Beziehung. Ihr guter Freund Achim Multhaupt, zuständig übrigens für die schönen Cover ihrer Hamburg-Krimis, hatte sie vor langer Zeit mal in die Industriestadt eingeladen. Und sie verlor ihr Herz in dem Moment, als sie auf der Südtribüne des Westfalenstadions einen 3:2 Sieg des BVBs mitbekam. Mitreißend schilderte sie noch mal ihre Empfindungen, als Leonardo Dedé das Siegtor schoss und die ganze Tribüne erbebte. Damit hatte sie natürlich das Publikum im Sturm erobert.

Die Kokerei Hansa in Dortmund-Huckrade am Tag der Lesung

In der Waschkaue

Simone Buchholz, die letztes Jahr einige Tage zwecks Recherchearbeiten vor Ort verbrachte, gefielen besonders das Viertel rund um das Dortmunder U und deshalb spielt das Unionsviertel neben dem Phönix-See und der Kokerei Hansa eine große Rolle in ihrem Kurzkrimi. Die Kokerei Hansa war zum ersten Mal Veranstaltungsort für Mord am Hellweg. Simone Buchholz hatte sich die Waschkaue als Lesungsort ausgesucht und das nicht nur, weil sie als bekennende Industieromantikerin die raue Industriekulisse so liebt. In ihren Romanen arbeitet sie immer mit Rhythmus. Dieser ist ihr sehr wichtig und sie zieht eine Verbindung zur Kokerei, wo Stahl auf Stahl einen ähnlichen Rhythmus erzeugt. Außerdem spielt ihre Kurzgeschichte, übrigens ein Riley-Spinoff genau hier. Denn die junge Frau, die auf ihrer Flucht in Dortmund landet, ist Aliza Anteli, einer der Nebenfiguren in Mexikoring. Die intelligente Aliza will nicht das Schicksal ihrer älteren Schwestern erleiden, die ab einem Alter von vierzehn Jahren für fünfstellige Summen verkauft wurden. Bevor dieses passiert, verschwindet sie und landet mit einem roten 7,5-Tonner in Dortmund.

Simone Buchholz verrät noch einen witzigen Funfact, und zwar, dass sie sich für die Anthologie öfter mit den Kollegen Max Anna und Franz Dobler kurzgeschlossen hat. Und dabei hatten die drei beschlossen, dass in jeder ihrer Storys ein roter 7,5 Tonner vorkommen soll.

Im ersten Teil der Lesung geht es aber um ihren aktuellen Krimi und ihre Reihe um Chastity Riley. Diese wurde seit dem fünften Band kaltgestellt und darf nur noch als ermittelnde Staatsanwältin operieren. Gut gelaunt erzählt die Autorin, dass ihr oft vorgeworfen wird, dass in ihren Büchern so viel Alkohol getrunken würde. Darauf reagiert sie dann immer ganz trotzig und lässt noch mehr Alkohol fließen. Auch in ihrem achten Hamburg-Krimi wird auf knapp 250 Seiten viel getrunken und noch mehr geraucht.

Es war einer dieser Anrufe am frühen Morgen, die einen ohne Punkt und Komma auf die Spur schicken. Ob ich da eben hin könnte. Ein brennendes Auto. Schon wieder. Wir müssten das mit den brennenden Autos langsam mal in den Griff kriegen, hieß es. Die brennenden Autors interessieren mich nicht besonders. Du weißt genau, warum deine Autos brennen, Hamburg. (Seite 12)

Romeo und Julia

Chas Riley ist permanent müde und ziemlich genervt, als sie morgens früh zu einem Tatort am Mexikoring gerufen wird. Ein brennendes Auto ist in Hamburg schon lange nichts Besonderes mehr, aber in diesem Wagen sitzt noch ein junger Mann, der wenig später an seinen Verbrennungen verstirbt. Als die Untersuchungen ergeben, dass er vorher betäubt wurde, ist klar, dass es sich definitiv um Mord handelt. Er wird als Nouri Saroukhan identifiziert und gehörte zu einer der Mhallamiye-Familien; kurdische Libanesen, die vorrangig in Bremen agieren. Nouri wollte aus dem kriminellen, von Gewalt geprägten Leben seines Clans ausbrechen und hat seine Familie Richtung Hamburg verlassen, wo sich seine Jugendfreundin Aliza Anteli versteckt hält. Schon als Kinder wollten die beiden ausbrechen und träumen nun von einem Leben in Mexiko. Es ist eine verbotene Liebesgeschichte, denn Alizas Zwangsheirat mit einem anderen ist von ihrer Familie bereits beschlossene Sache.

Riley macht sich mit einer schnell zusammengestellten Soko auf nach Bremen. Die Saroukhan-Familie verhält sich abweisend und zeigt kein Zeichen von Trauer. Sie leben abgeschottet in einer Parallelgesellschaft, halten von der Polizei gar nichts und regeln ihre Angelegenheiten intern. Sie haben Nouri, der nach einem abgebrochenem Jurastudium bei einer Versicherung arbeitete, verstoßen.

Eine Milieustudie

Buchholz greift in diesem Band ein aktuelles, politisch brisantes Thema auf und zeigt dem Leser ein Milieu, das die meisten wahrscheinlich nur aus den Medien kennen. Sie hat gut recherchiert und gibt einen faszinierenden sowie realistischen Einblick in die Welt der großen kurdischen Familienclans, die es in dieser Form in Deutschland seit den 80er Jahren gibt. Die arabischen Großclans sind eine in sich geschlossene Gesellschaft mit eigenen Gesetzen und Strukturen und das ist in der deutschen Realität viel zu spät wahrgenommen worden. Mittlerweile sind sie eng mit der organisierten Kriminalität verwoben und profitieren davon, dass sie nur auf Verwandtschaft basieren, als Preis versäumter Integration.

Fazit

Die Wahlhamburgerin erzählt die Geschichte in ihrem eigenen unverkennbaren Schreibstil mit knackigen Sätzen in kurzen Kapiteln. Spannung wird durch den Wechsel mehrerer Erzählstränge erzeugt. Der Leser begleitet die Ermittlungen auf Tritt und Schritt, ist immer ganz nah an den Figuren. Das Team der Staatsanwältin ist mit Ecken und Kanten ausgestattet und für Chas fast schon so was wie eine Ersatzfamilie. Alle haben ihr Päckchen zu tragen, kämpfen mit Zweifeln, Verunsicherung und Einsamkeit und wirken daher sehr authentisch. Chas selbst ist eine spröde aber doch coole, lässige Frau mit einem trockenen Humor. In diesem Band bewegt sie sich müde und ausgebrannt, aber nie empathielos durch die Geschichte.

Simone Buchholz habe ich tatsächlich erst vor kurzem für mich entdeckt und zunächst mal mit dem Band Eins Revolverherz angefangen. Und ich war sofort fasziniert von der unkonventionellen Ich-Erzählerin Chas Riley, dessen Vater Amerikaner ist. Das Besondere an dieser Reihe ist nicht unbedingt der Krimi-Plot, sondern eher dieser spezielle Sound, den die Autorin erschaffen hat. Der Ton ist teilweise schnoddrig und dann wieder melancholisch und voller Poesie. Herausgekommen ist ein spannender und gesellschaftskritischer Großstadtkrimi.

Es war ein sehr schöner Abend mit einer sympathischen gut gelaunten Autorin. Dazu trug auch die leckere Currywurst bei, die in der Pause serviert wurde.

 

Bericht von der Lesung, Rezension und Fotos von Andy Ruhr.

Mexikoring | Erschienen 10. September 2018 bei Suhrkamp
ISBN 978-3-518-46894-4
247 Seiten | 14.95 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Kurts Rezension zu Simone Buchholz‘ Roman Blaue Nacht

Lucie Flebbe | Jenseits von Wut

Lucie Flebbe | Jenseits von Wut

Adrian, 13:56 Uhr: Sektion im Essener Institut für Rechtsmedizin 15:30 Uhr. Kriegst du es organisiert, vorbeizukommen?
Ich würde nicht hinfahren. Ich würde nicht mal die Nachricht beantworten. Ich würde morgen auch nicht zur Arbeit gehen. Ich würde meinen Job verlieren und bei Hartz IV landen, genau wie Philipp es vorausgesagt hatte.
Es klingelte an der Tür.
Ich hatte Strom?
Als wäre das noch wichtig.
Ich blieb liegen. (Auszug Seite 153)

Edith, genannt Eddie, Beelitz war viele Jahren raus aus ihrem Beruf als Polizeibeamtin, war stattdessen Hausfrau und Mutter. Als sie dann doch aus ihrer Ehe ausbricht, steht sie im wahrsten Sinne des Wortes mit ihrer kleinen Tochter auf der Straße. Unverhofft bietet sich die Gelegenheit, in den Polizeiberuf zurückzukehren, sogar in die Mordkommission. Ihr erster Fall lässt nicht lange auf sich warten: Vor dem Jobcenter liegt die Leiche einer erschlagenen Frau. Doch Eddie plagen die Zweifel: Ist sie den Anforderungen des Jobs und des selbstbestimmten Lebens gewachsen? Eddie hatte gedacht, im Büro eine ruhige Kugel schieben zu können, muss sich aber nun direkt beweisen. Und das unter ihrem neuen Chef Adrian, den sie aus alten Zeiten nur zu gut kennt. Gleichzeitig ist sie auch von privater Seite stark unter Druck: Ihr Mann will die Trennung nicht hinnehmen und da er das ganze Geld verdient hat, ist Eddie ziemlich blank.

Von Autorin Lucie Flebbe hatte ich bereits einen Roman aus der vorherigen Serie um das Detektiv-Paar Lila Ziegler und Ben Danner gelesen. Insgesamt war meine Wertung damals durchschnittlich, doch mir hatte der Stil von Lucie Flebbe gefallen. Und so schloss meine Besprechung mit dem Satz: „Ich würde durchaus nochmal zu dieser Autorin greifen.“ Dies habe ich nun eingehalten. Jenseits von Wut ist der Auftakt einer Trilogie mit der ungewöhnlichen Mordermittlerin Edith „Eddie“ Beelitz. Der Schauplatz Bochum ist geblieben. Und auch der Stil, den ich damals schon lobte: „Knappe Sätze, manchmal flapsig, intelligent-humorvoll, gute Dialoge und interessante Figuren.“

Dieses Buch lebt nämlich weniger von seinem Krimiplot – der ist solide, aber eher nicht spektakulär, sondern vor allem von den Personen, der Figurenkonstellation und den beschriebenen Milieus. Eddie begibt sich nämlich in die Niederungen der Arbeitssuchenden und Hartz IV-Bezieher. Zum einen beruflich, denn die Tote wurde nicht nur vorm Jobcenter aufgefunden, sondern war dort auch Leistungsbezieherin. Das Opfer hatte offenbar Ärger mit ihrer Sachbearbeiterin und außerdem ein Techtelmechtel mit einem Mitarbeiter. Aber auch die familiären Verhältnisse waren seit langem eher prekär. Zum anderen mietet sich Eddie wegen fehlender finanzieller Reserven in eine nicht ganz so schicke Nachbarschaft ein und kommt dadurch direkt in privaten Kontakt mit den Unterpriviligierten. Die Verhältnisse von Eddies Nachbarinnen (mehrere Kinder von verschiedenen Vätern, Arbeitsunwilligkeit, Schwarzarbeit, Verwahrlosung) schildert die Autorin mit einer klaren Nüchternheit, um kurz darauf hinter die Fassade zu blicken und den Leser für ihre Figuren einzunehmen. Nicht ohne Grund erhält Eddie bei ihren Nachbarn in ihrer Situation mehr Unterstützung als aus ihrem bildungsbürgerlichen Elternhaus.

Ein wenig gefremdelt habe ich mit der zweiten Erzählstimme dieses Romans. Neben Eddie tritt auch noch ein gewisser „Zombie“ als Ich-Erzähler auf. Wie es der Spitzname schon suggeriert, hat dieser Mann ein Aggressionsproblem. Er wird von Beginn an als möglicher Mörder beim Leser ins Spiel gebracht (ob er es auch ist, wird natürlich an dieser Stelle nicht verraten). Was mir an seinen Abschnitten nicht so recht gefallen hat, war die Kürze und die Bruchstücke, die dem Leser vorgeworfen werden. Das aus vielen Krimis bekannte und etwas ausgeleierte Stilmittel, die Perspektive des Bösen einzunehmen, war meiner Vermutung nach nicht die Intention der Autorin, sondern tiefer in die Figur einzudringen, aber dann hätte sie „Zombie“ einen Tick mehr Raum gönnen können.

Im Grunde genommen ist Jenseits von Wut eine Emanzipationsgeschichte im Krimigewand. Eine junge Frau voller Selbstzweifel, die sich in ihrer Ehe von ihrem Mann nach seinen Wünschen hat formen lassen, bricht aus diesem Korsett aus und lebt endlich selbstbestimmt. Das geht natürlich nicht problemlos vonstatten. Lucie Flebbe erzählt dies mit einer angenehmen Mischung aus Lakonie, Humor und der nötigen Ernsthaftigkeit. Daneben bietet dieses Buch auch über seinen Krimiplot Einblick in die Welt der Arbeitslosen und Hilfeempfänger, von der Autorin ohne rosarote Brille, aber dennoch mit Empathie erzählt. Insgesamt ist dieser Krimi ein gelungener Auftakt einer Trilogie, die ich gerne weiterverfolgen werde.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Jenseits von Wut | Erschienen am 20. Juli 2018 im Grafit Verlag
ISBN 978-3-89425-587-9
309 Seiten | 12.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu Tödlicher Kick von Lucie Flebbe im Rahmen unseres letzten .17special Mini-Themenspezials Ruhrpottkrimis