Autor: Nora

Ivy Pochoda | Sing mir vom Tod

Ivy Pochoda | Sing mir vom Tod

Dios hatte recht – na und? Sie hatte tatsächlich alle darüber belogen, was an dem Abend wirklich passiert war. Alle außer Tina. Und das war ein Fehler gewesen, ein bedauernswerter Versuch in ihren ersten Tagen im Knast, härter rüberzukommen, als sie sich fühlte. (Auszug Seite 82)

In einem Frauengefängnis im heißen Arizona treffen Florence „Florida“ Baum und Diana Diosmary „Dios“ Sandoval aufeinander. Auf den ersten Blick könnten die beiden nicht unterschiedlicher sein. Auf der einen Seite Florida, Tochter aus reichem Hause, nach eigener Aussage nur durch einen Typen ins falsche Milieu abgerutscht. Dagegen Dios, Latina aus schwierigen Verhältnissen, hochbegabt, mit einem Stipendium an einem renommierten College. Die wegen schwerer Körperverletzung verurteilte Dios ist, warum auch immer, beherrscht von dem Wunsch, Florida zu demaskieren und ihre wahre Natur zum Vorschein zu bringen. Kommentiert wird die Story der beiden Kontrahentinnen von Kace, der psychotischen Zellengenossin von Florida. Sie ist davon überzeugt, die Seelen der getöteten Opfer in sich zu tragen und dass diese zu ihr sprechen. Ihre eigenen Opfer, aber auch die Opfer der anderen Insassinnen. Sie und diese Geister bilden eine Art griechischen Chor, der das Geschehen kommentiert.

Eine Welt, die sich verpisst hat
Überraschend werden Florida und Dios auf Bewährung aus dem überfüllten Knast entlassen und müssen wegen der Pandemie 14 Tage in einem schmuddeligen Motel in Quarantäne verbringen. Florida jedoch, einem plötzlichen Impuls folgend, verletzt ihre Bewährungsauflagen und steigt in einen illegalen Bus, der sie in ihre Heimat Los Angeles bringen soll. Keine gute Entscheidung und das nicht erst, als Dios plötzlich zusteigt. Der nun folgende Roadtrip, auf dem sich die Wege der beiden immer wieder kreuzen, entwickelt sich zu einem Fiasko, einer nicht enden wollenden Gewaltspirale. Hier kommt mit Detective Lobos eine dritte Figur ins Spiel, auch sie mit großer Wut beladen. Sie ist wütend auf sich selbst, hat sie es zugelassen, Opfer häuslicher Gewalt zu werden. Es gibt ein Kontaktverbot gegen ihren Ex-Mann, der sie aber immer wieder drangsaliert. Für mich die gelungenste Figur, deren Motivation ich nachvollziehen konnte. Wir kennen sie bereits aus „Diese Frauen“. Es beginnt ein gnadenloser Roadtrip durch geisterhaft leere Gegenden in Los Angeles. Die Obdachlosigkeit hat sich im pandemie-gebeutelten, dystopischen LA mittlerweile verschärft, Menschen leben in Zelten, die Zeltstadt hat sich bis nach Downtown ausgebreitet. Die Beschreibungen der menschenleeren Straßen haben etwas Apokalyptisches.

Es ist bloß eine Straße, die eine andere Straße kreuzt, leer wie der Rest der Stadt – undurchsichtige Fenster, verwaiste Parkplätze, verschwundene Läden. Eine Welt, die sich verpisst hat. (Auszug Seite 307)

Bitches mit Problemen
„Diese Frauen“ von Ivy Pochoda war ein großes Highlight für mich, daran kommt „Sing mir vom Tod“ nicht ganz heran. Durch den fordernden Schreibstil mit rotzigem Ton und unverblümte Sprache werden die Schicksale der Protagonistinnen schonungslos aufbereitet. Es gibt viele Wiederholungen des Erzählten, was auf Kosten der Dramatik geht. Ich musste mir das teilweise erarbeiten. Spannung entsteht, da man um den ungewissen Fortgang des ereignisreichen Trips bangt. Die ständigen Perspektivwechsel verwirren und der Grund für diese große Wut blieb mir verborgen. Die Entwicklung der Figuren hat mich wenig überzeugt, besonders das Seelenleben Dios blieb mir fremd. Auch die Darstellung des Gefängnisalltags und die Brutalität der Frauen untereinander sowie der übergriffigen Wärter fand ich zwar stimmig, war aber für mich kaum zu ertragen. Die Gewalt, hier vornehmlich unter Frauen, spielt eine große Rolle. Pochodas Thema ist die für sie irrtümliche Annahme in der Gesellschaft, dass Frauen nicht zu der gleichen Brutalität und Gewalt fähig sind wie Männer. Zumindest nicht ohne Grund und wenn dann nur als Reaktion. In der Literatur werden gewalttätige Frauen oft dargestellt als

Lady Killers. Femme Fatales. Schwarze Witwen. Thelma & Louise, Bitches mit Problemen. (Auszug Seite 166)

Das Cover mit den roten und gelben Farben strahlt eine flirrende, staubige Hitze aus und auch der Titel deutet auf eine Geschichte im Wilden Westen hin. Mit dem großen Showdown an einer leergefegten, vermüllten Straßenkreuzung, der sicher nicht zufällig an den großen Filmklassiker High Noon erinnert, schafft sie einige ikonische Bilder im Kopf. Eine Verfilmung könnte ich mir super vorstellen.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Sing mir vom Tod | Erschienen am 13. Januar 2025 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-5184-7462-4
328 Seiten | 17,00 Euro
Originaltitel: Sing Her Down | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu „Diese Frauen“ von Ivy Pochoda

Nicolás Ferraro | Ámbar

Nicolás Ferraro | Ámbar

So vergingen drei Jahren, bis Großmutter Nuria einen Herzinfarkt hatte. An einem Tag war sie da, am nächsten war sie Asche. Und auf einmal hatte Papá mich am Bein und wusste nicht, was er mit mir anfangen sollte.
Er weiß es immer noch nicht. (Auszug S. 19).

Die 15jährige Ámbar lebt bei ihrem Vater Victor, einem Kriminellen. Ohne festen Wohnsitz treiben sie sich im Norden Argentiniens nahe der Grenze zu Paraguay herum. Sie geht nicht mehr zur Schule, schläft selten lange am selben Ort, lernt kaum Gleichaltrige kennen. Ámbar muss sich stattdessen auf die Situation ihres Vaters einlassen, seine Wunden versorgen, seine Tarnung einnehmen.

Zu Beginn kehrt Victor mit einer Schusswunde in den Unterschlumpf zurück, die Ámbar verarztet. Sie fliehen mit dem Wagen, sie muss fahren. Sie halten an einem abgelegenen Ort, Victor schüttet Benzin über eine Leiche im Kofferraum und zündet den Wagen an. Erst danach geht Ámbar auf, dass Giovanni, ein guter Freund und Kompagnon seines Vaters, im Kofferraum lag. Es ist zu irgendeinem Vorfall gekommen, bei dem Giovanni erschossen und sein Vater angeschossen wurde. Victor begibt sich nun auf einen Rachefeldzug und Ámbar ist gezwungen, ihn zu begleiten.

Papá trägt seine Narben wie Orden. Nichts erzählt seine Geschichte besser als sein Körper. Víctor Mondragón ist ein Mann, den man in Blindenschrift besser versteht, als wenn man mit ihm redet. Aber eigentlich versteht man ihn in keiner Sprache. (Auszug S. 9)

Ámbar erzählt diese, ihre Geschichte als Ich-Erzählerin. Eine 15jährige am Rande der Gesellschaft, der Vater schon immer kriminell, die Mutter verließ die Familie früh. Sie wuchs bei der Großmutter, seitdem sie vor ein paar Jahren starb, schleppt ihr Vater sie nun mit sich herum. Sie hat sich inzwischen an dieses Leben gewöhnt, kommt mit wenig aus. Zu Beginn ist ein Tattoo ihr größter Wunsch, hierfür spart sie heimlich Geld, denn ihr Vater würde ihr das nicht erlauben. Sie gerät oft mit ihm aneinander, sehnt sich gleichzeitig nach Zusammenhalt und will ihrem Vater vertrauen. Doch Victor Mondragón ist ein undurchsichtiger Mann, weiht seine heranwachsende Tochter in nicht allzu viele Dinge ein und doch baut er zunehmend als Unterstützung auf sie. Mehr und mehr wird Ámbar unsicher, was sie wirklich will und inwieweit ihr Vater ihr Vertrauen rechtfertigt.

Papá stellt sich neben mich und gibt mir ein Zeichen, rauszugehen. Den ersten Elfmeter schießt Boca. Ich habe die Schnauze voll von Boca. Von River. Von Rata Blanca, davon, dass sie sich alle für so schlau und mich für ein dummes kleines Mädchen halten. Ich drücke ab. Splitter des Fernsehers verteilen sich im Raum, zusammen mit Stille.
Jetzt endlich sehen mich alle an.
Ich stoße ein Brüllen aus, und in diesem Brüllen bin ich weder Mann noch Frau noch Tochter.
Ich bin ein Jaguar. (Auszug S.170)

Der argentinische Autor Nicolás Ferraro ist bislang noch nicht ins Deutsche übersetzt worden. Mit „Ámbar“ gewann er 2023 den Premio Hammett als höchste Auszeichnung der spanischsprachigen Kriminalliteratur, die englische Übersetzung „My favourite scar“ war im letzten Jahr für den Edgar Award nominiert. Der Roman wahrt mit einer ungewöhnlichen Perspektive einer heranwachsenden Gangstertochter auf und dem Autor gelingt es, diese Sichtweise konsequent und durchaus realistisch durchzuhalten. An einigen Stellen verhält sich Ámbar wie eine normale 15jährige, an anderen erscheint sie abgebrüht und bereits in der Erwachsenenwelt angekommen. Weitestgehend überzeugend ist auch die Entwicklung die Ámbar durchmacht und die in einem überraschenden Ende mündet. Insgesamt ist dieser lesenswerte Roman eine ungewöhnliche Coming-of-age-Charakterstudie in Thrillerform, in der der Autor immer wieder harte, brutale Spitzen setzt, um die Umstände nicht zu verklären.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Ámbar | Erschienen am 05.02.2025 im Pendragon Verlag
ISBN 987-3-86532-901-1
314 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Ámbar | Übersetzung aus dem argentinischen Spanisch von Kirsten Brandt
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Volker Kutscher | Rath (Band 10)

Volker Kutscher | Rath (Band 10)

Und dann sagte er einen Satz, von dem er nicht gedacht hätte, dass er ihn jemals wieder sagen würde, aber er sagte ihn. „Eine Fahrkarte nach Berlin, bitte.“ (Auszug E-Book Pos. 3843 von 9095)

Diesen Satz sagt tatsächlich Gereon Rath im Herbst 1938. Der in Deutschland nach einer Schießerei für tot Erklärte, Charlotte erhält sogar eine Witwenrente, lebte zwei Jahre mit neuer Identität in den USA. Er verlässt mit seinem Bruder Severin Rath die USA, da sie ihren im Sterben liegenden Vater nicht alleine lassen wollen. Gereon taucht erst mal unter falschem Namen in Rhöndorf im Haus des ehemaligen Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer unter, einem Vertrauten seines Vaters. Er trifft sich einmal im Monat heimlich mit seiner Frau Charly und wartet nur auf den richtigen Moment, Deutschland gemeinsam Richtung USA zu verlassen. Doch Engelbert Rath stirbt nicht so schnell und Charly will Deutschland nicht ohne ihren ehemaligen Pflegesohn Friedrich Thormann verlassen.

Fritze steht unter Verdacht, zwei Hitlerjungen getötet zu haben und hat sich erst mal aus dem Staub gemacht. Charly kann das nicht glauben und als Angestellte der Privatdetektei Böhm macht sie sich selbst an die Aufklärung. Dazu muss sie erst mal Fritze finden. Zuvor war Hannah, seine jüdische Freundin bei einer Zwangssterilisation angeblich aufgrund unvorhersehbarer Komplikationen verstorben. Charly kehrt sogar wieder zur Kriminalpolizei zurück, die allerdings längst zum Handlanger der Gestapo geworden ist. Hier weiß sie nicht mehr, wem sie noch trauen kann. Jeder scheint jeden zu bespitzeln und es herrscht eine Atmosphäre von Misstrauen und Denunziation.

„Dann lassen Se uns mal anstoßen“, sagte er und hob sein Glas, „Auf die Jesundheit Ihres Herrn Papa und auf den Weltfrieden.“ „Da haben Sie recht, die haben’s beide nötig“, sagte Rath. „Beim Weltfrieden möjen Sie recht haben, aber um ihren Vater machen Se sich mal kejne Sorgen, der ist ein zäher Brocken.“ (Auszug E-Book Pos. 3233 von 9095)

Es dauert ganz schön lange, bis Gereon in der Geschichte auftaucht. Wie schon im Vorgängerband „Transatlantik“ spielt er nur eine untergeordnete Rolle und lange ist Charlotte Rath die Protagonistin. Erst als seine Ehefrau nicht mehr zu den heimlichen Treffen erscheint, macht er sich auf nach Berlin um sie zu suchen. Charly wurde aus unbekannten Gründen in ein Konzentrationslager gesteckt.

Der zehnte und finale Band ist weniger Krimi mit polizeilichen Ermittlungen und der Suche nach einem Mörder. Als Leser:in hat man auch schon relativ zügig einen Verdacht, wer der wahre Täter ist. Vielmehr spannt Kutscher die Fäden zwischen den bekannten Figuren, lässt einige aus dem Romanzyklus noch mal auftauchen und schildert anhand eines stimmigen Plots den Weg in eine Diktatur. Die Nazizeit und die Verstrickungen der Protagonisten in das NS-System nehmen einen immer breiteren Raum ein. Es gibt bedrückende Szenen einer Massendeportation von Juden und Jüdinnen an der polnischen Grenze, brutale Folterungen im Konzentrationslager bis zu den unmenschlichen Geschehnissen am 9. November 1938. Sehr eindrücklich werden die Ereignisse der antisemitischen Progromnacht mit brennenden Synagogen, zusammengeschlagenen und ermordeten Menschen geschildert. Schwer zu ertragen und folgerichtig endet die Reihe mit diesem Datum, denn die Progromnacht ist für den Autor der „Point of no Return“. Für ihn das Ende der Zivilisation, eine Grenze, die er als Schriftsteller nicht überschreiten kann, wie er oft in Interviews erklärte.
Dafür gelingt es ihm, die Atmosphäre dieser verrohenden Zeit bildhaft einzufangen und ohne erhobenen Zeigefinger darzustellen, wie sich die Stimmung im Land gegen Gegner jeder Art verdüstert und radikalisiert und auch die Faszination der Durchschnittsbürger für diese faschistische Ideologie einigermaßen greifbar zu machen.

Einige lose Fäden aus den vergangenen Bänden werden zusammen-, aber nicht alle Erzählstränge zu Ende geführt; einige bleiben offen. Aber man muss nicht endgültig von den liebgewonnen sowie verhassten Charakteren Abschied nehmen. Volker Kutscher hat schon verraten, dass er nach zwei kleinen illustrierten Büchern, „Moabit“ und „Mitte“, einen dritten geplant hat. Dafür wird er sich mit der Illustratorin Kat Menschik wieder in den Rath-Kosmos begeben.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Rath | Erschienen am 24. Oktober 2024 bei Piper
ISBN 978-3-492-07410-0
624 Seiten | 26.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezensionen zu weiteren Romanen der Reihe

Jurica Pavičić | Mater Dolorosa

Jurica Pavičić | Mater Dolorosa

Sie lief nach draußen, an die frische Luft, in die belebende Kälte, nur weg von den Menschen. Sie lief nach Hause, und durch ihren Kopf wirbelten grausame Bilder von dem ,was sie gerade gehört hatte. Sie dachte an Schnitte und Würgemale. Und ihr ging es besser. Denn eins wusste sie: Das konnte nicht Mario gewesen sein. Denn so etwas hatte Mario nicht in sich. Er hatte keinen Funken Aggression oder Böses in sich. Und das wusste jeder, der Mario gut kannte, so gut wie sie. (Auszug E-Book, S. 147)

Im kroatischen Split wird in einer alten Industriebrache die Leiche einer jungen Frau gefunden. Sie war vorher mit einer Freundin in einem Club, hatte sich offenbar mit ihrem späteren Mörder dort verabredet. Doch niemand hat den Mörder gesehen, lediglich der Autotyp wird identifiziert. Der Ermittlungsdruck der Polizei ist groß, über das Fahrzeug gerät ein aktenkundiger Sexualtäter ins Visier. Doch obwohl er extrem unter Druck gesetzt wird, gesteht er nicht und eindeutige Indizien, die ihn mit der Tat in Verbindung bringen gibt es nicht. Der junge Ermittler Zvone verfolgt währenddessen eine ganz andere Spur. Er vermutet den Täter im Bekanntenkreis. Durch gewisse Indizien verdichtet sich sein Verdacht auf eine Person.

Als die Polizei ein blutiges Kleidungsstück und ein abgerissenes Stück einer Tasche dem Täter zuordnet und der Öffentlichkeit präsentiert, können es Katja und ihre erwachsenen Tochter Ines kaum fassen. Diese Dinge gehören ihrem Sohn bzw. Bruder Mario und weitere Beweisstücke hat er noch zu Hause. Dies bringt die Familie vor eine riesige Zerreisprobe, während die Mutter alles verdrängt und Mario schützen will, hadert Ines mit sich, ob sie die Familie oder den Verrat zugunsten der Gerechtigkeit wählt.

Ich habe Jurica Pavičić als Autor vor einigen Jahren mit seinem Roman „Die Zeugen“ kennengelernt, später habe ich auch „Blut und Wasser“ von ihm gelesen. Beides überzeugende Roman, die sich in einem Grenzbereich zwischen Roman und Kriminalroman befinden. Pavičić legt zumeist einen Kriminalfall seinen Romanen zugrunde, verweigert sich dann aber den üblichen Schemeta, sondern beleuchtet die einzelnen Figuren und ihm gelingt darüber auch ein gesellschaftliches Panorama. So auch in „Mater Dolorosa“: Der Tod einer jungen Frau ist das Vehikel, um drei Personen näher zu kommen. Zvone, der junge Ermittler, der mit seinem verwitweten, kriegsversehrten Vater zu Hause lebt und als einziger Polizist die Spuren richtig deutet und die Identität des Mörders errät. Doch es fehlen die Beweise und niemand belastet den Täter. Wie weit will er gehen, um der Gerechtigkeit genüge zu tun? Ines, die Schwester des Mörders, der langsam klar wird, dass ihr Bruder der Täter ist und die irritiert ist, wie die Familie damit umgeht und zweifelt, ob sie ihren Bruder decken soll. Mehr noch, als herauskommt, dass sie mit ihrem verheirateten Chef eine Affäre hat, ist sie plötzlich überall unten durch und in der Defensive. Katja, die Mutter des Täters, gläubig, ist die „schmerzensreiche Mutter“. Sie ignoriert das Offensichtliche, will die Tat des Sohnes unbedingt unter den Teppich kehren, hat aber gleichzeitig kein Verständnis für ihre Tochter.

Pavičić schreibt die Geschichte abwechseln aus den Perspektiven der drei Hauptfiguren. Der Mörder, Mario, erscheint nur am Rande als antriebslose Person. Eine vollständige Aufklärung findet nicht statt, es gibt kein Geständnis, dennoch sprechen Indizien eine eindeutige Sprache. Doch das ist hier nicht entscheidend, denn die inneren Konflikte der drei Protagonisten zwischen Familie, Loyalität, Gerechtigkeit und Verrat sind entscheidend. Zudem scheinen die Konflikte in der kroatischen Gesellschaft durch, soziale Unterschiede, die Rolle der Frau, Spannungen zwischen alt und jung, die perspektivarme Generation der Kriegsveteranen, die immer noch bestehende Macht der Kirche – all das flechtet der Autor gekommt in diesen Roman ein. Er erinnert mich dabei an die ebenfalls von mir sehr geschätzte argentinische Autorin Claudia Piñeiro. „Mater Dolorosa“ ist ein in der Grundstimmung sehr melancholischer Roman, der zeigt, wie vielseitig das Krimigenre sein kann, und aus meiner Sicht unbedingt empfehlenswert.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Mater Dolorosa | Erschienen am 22.01.2025 im Verlag Schruf & Stipetic
ISBN 987-3-944359-81-6
356 Seiten | 16,90 €
als E-Book: ISBN 987-3-944359-91-5 | 12,99 €
Originaltitel: Mater Dolorosa | Übersetzung aus dem Kroatischen von Blanka Stipetic
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen auf dem Blog zu Romanen von Jurica Pavičić

 

Patrick Radden Keefe | Sage nichts – Mord und Verrat in Nordirland

Patrick Radden Keefe | Sage nichts – Mord und Verrat in Nordirland

Der Nordirlandkonflikt ist für Außenstehende ein äußerst komplexes Thema. Oberflächlich waren die Frontlinien klar: Katholiken gegen Protestanten, Befürworter eines vereinten Irland gegen Unionisten, die den Verbleib im Vereinigten Königreich wollten. Die Polizei und das Militär, dass die britische Staatsmacht durchsetzte. Doch innerhalb des Konflikts gab es so viele Nuancen, Schattierungen, Splittergruppen, dass man schnell den Überblick verliert. Selbst heute, mehr als 25 Jahre nach dem Karfreitagsabkommen ist die Lage nicht konfliktfrei. Spätestens der Brexit, aber auch die nicht wirklich aufgearbeitete Vergangenheit lassen alte Konfliktlinien nochmal ins Bewusstsein kommen.

Für die Kriminalliteratur war Nordirland ein reizvoller Schauplatz. Auch mich hat der Konflikt nochmal besonders interessiert, vor allem durch die Sean-Duffy-Reihe von Adrian McKinty. Eine sensationelle Hauptfigur, ein Katholik in der protestantischen nordirischen Polizei, jung, intelligent, aufmüpfig, testosterongesteuert inmitten der Troubles der 1980er. Von McKinty als Ich-Erzähler mit viel schwarzem Humor erzählt. Spannend auch der Ansatz von Eoin McNamee, der die Konflikte als Hintergrundrauschen nutzt, um von Verbrechen in Nordirland zu erzählen. Etwa über einen Psychopathen in „Belfaster Auferstehung“, der die Gewalt und die Strukturen nutzt, um seine Gewaltfantasien auszuleben. Aber auch nach dem Friedensabkommen von 1998 bleibt das Setting interessant. Beispielsweise bei Stuarts Nevilles „Die Schatten von Belfast“, in dem ein einstiger gefürchtete Killer der IRA als psychisches Wrack aus der Haft freikommt. Die einst von ihm Ermordeten manifestieren sich zu anklagenden Schatten in seinem Bewusstsein. Und nun stellt er fest, dass diejenigen, die ihn zu den Morden angestiftet haben, durch das Abkommen ganz hervorragend weggekommen sind.

Doch noch interessanter als Crime Fiction kann es werden, wenn man wahre Geschichten von den Troubles erzählt. Der Investigativjournalist Patrick Radden Keefe hat sich dieser Sache angekommen. In seinem erzählerischen Sachbuch „Sage nichts – Mord und Verrat in Nordirland“ versucht er einen eigenen Blick auf den Nordirlandkonflikt und behandelt vor allem die Fragen nach dem Erbe des Konflikts, die schleppende Aufarbeitung, das immer noch große Schweigen über die Taten und die Fragen nach der Rechtfertigung für all die Toten und Verletzten.

Keefe versucht nicht, die ganze Geschichte des Konflikts chronologisch zu erzählen. Er lässt sogar die Seite der Unionisten weitgehend außen vor. Sein Buch beginnt mit zwei Ereignissen, die den roten Faden bilden. Im Dezember 1972 verschwand die 38jährige Jean McConville. Vermummte Personen holten sie aus ihrer Sozialwohnung in den berüchtigten Divis Flats, zurück blieben zehn Kinder. McConville wurde als Verräterin, Kollaborateurin bezeichnet. Als eine der wenigen Personen blieb sie allerdings über Jahrzehnte verschwunden, ihre Leiche tauchte nie auf, niemand übernahm Verantwortung für ihr Verschwinden. Zum anderen Delours Price, eine junge Frau aus einer republikanischen Familie, die sich zusammen mit ihrer Schwester schon jung der IRA anschließt und mit anderen einen Bombenanschlag 1973 in London durchführt, der sie allerdings in Haft bringt. Sie wird eine der ersten, die in der Hungerstreik treten, der später noch wirkungsvoller als Instrument der IRA eingesetzt wird. Sie spielte aber auch eine Rolle beim Verschwinden von Jean McConville.

Über diese und weitere Personen nähert sich das Buch dem Konflikt und den beteiligten Personen an. Er erzählt dabei von der Radikalisierung des Protestes und dem hohen Blutzoll, der uneingeschränkt eingeforderten Loyalität und der zunehmenden Politisierung bis hin zum Karfreitagsabkommen. Keefe erzählt von Traumata, nicht nur der Hinterbliebenden, auch von den alten Kämpfern, die sich nun fragen, wofür damals gekämpft wurde und ob es eine Rechtfertigung gibt. Er erzählt aber auch vom Schweigen, von einer Omertá, die eigentlich bis heute gilt und jeden, der sie bricht, in große Gefahr bringt. Das wird im Buch an einem Oral History-Projekt deutlich, dass Historiker aus Boston initiiert hatten. Es wurden zahlreiche Interviews mit Beteiligten über die Zeit des Terrors geführt, mit dem Versprechen, diese erst nach deren Tod auszuwerten und öffentlich zu machen. Doch die Existenz des Projekts wurde bekannt, es wurde die vorzeitige Herausgabe von Interviews gerichtlich durchgesetzt und Personen damit wieder in die Schusslinie gebracht.

Patrick Radden Keefe gelingt es, die Geschichten auch der Täter meist wertungsfrei zu erzählen. Es kommen Mörder und Terroristen zu Wort, deren Hintergründe offenbart werden und deren Taten nicht verschwiegen werden, doch sie erhalten Gelegenheit zur Reflexion und Reue. Es gibt allerdings eine Person, die Keefe nicht pfleglich behandelt, sondern deren fehlendes Verantwortungsbewusstsein mehrfach präsent ist: Gerry Adams, langjähriger Chef der Sinn Féin, des politischen Arms der IRA und späteren Garanten des Karfreitagsabkommens. Adams hat bis heute immer nur eine politische Rolle während der Troubles für sich reklamiert und immer bestritten, Mitglied der IRA gewesen zu sein. Doch die Aussagen ehemaliger Mitstreiter zeichnen das Bild eines Mannes, der tief in die militärischen Strukturen involviert war, angeblich bis hin zu Mordaufträgen.

„Sage nichts“ ist ein fesselndes Stück Zeitgeschichte. Autor Keefe gelingt es, über wenige Personen ein dichtes Bild der Troubles und vor allem der verbliebenden Traumata und mangelnden Aufbereitung aufzuzeigen. Das Buch wurde zuletzt als neunteilige Serie verfilmt und ist seit Ende 2024 auf Disney+ verfügbar.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Sage nichts – Mord und Verrat in Nordirland | Erschienen am 24.07.2024 bei Hanserblau
ISBN 978-3-446-27939-1
464 Seiten | 34,- €
Originaltitel: Say Nothing: A True Story of Murder and Memory in Northern Ireland |Übersetzung aus dem Englischen von Pieke Biermann
Bibliografische Angaben & Leseprobe